DIE ZEIT: Herr Kramer, bei den Landtagswahlen in
Sachsen und Brandenburg ist die AfD zweitstärkste
Kraft geworden. Sind Verfassung und Demokratie
in Deutschland jetzt in Gefahr?
Stephan J. Kramer: Dazu kriegen Sie von mir keinen
Kommentar. Zwischen der AfD und meinem Amt
laufen derzeit zwei Gerichtsverfahren, bei denen es
um die Frage geht, ob wir die AfD in Thüringen
öffentlich als »Prüffall« des Verfassungsschutzes be
zeichnen dürfen.
ZEIT: Fragen wir abstrakter: Wie blicken Sie auf die
Wahlergebnisse?
Kramer: Mir macht Sorgen, dass zwischen 25 und
30 Prozent der Bevölkerung überhaupt keine Scheu
haben, ihre Stimme Personen mit Bezügen zur
»Neuen Rechten« zu geben – und zwar trotz oder
vielleicht sogar wegen der bekannten Fakten, dass es
sich hier nicht mehr nur um radikale Meinungs
äußerungen handelt und außerdem Bezüge zu
rechtsextremistischen, neonazistischen Gruppierun
gen bestehen. Da kann man nicht mehr sagen, sie
wissen nicht, was sie tun, oder sind bloß Protest
wähler und Wutbürger.
ZEIT: Haben es die Verfassungsschutz
behörden verpasst, auf diese Entwick
lung aufmerksam zu machen?
Kramer: Einige haben es versucht, ande
re nicht. Wir hätten eine Reihe von Ent
wicklungen – Rechtsrockkonzerte, In
ternationalisierung der Szene, Gewalt
affinität, Kampfsportausbildung – noch
früher erkennen und davor warnen
können. Zivilgesellschaft, Wissenschaft
und Medien haben das getan, aber teil
weise haben Behörden auch beschwich
tigt. Es geht nicht darum, Panik zu verbreiten,
sondern darauf aufmerksam zu machen, wie dieses
Gift in die Gesellschaft einsickert und sie langfristig
spaltet.
ZEIT: Bleiben wir abstrakt: Angenommen, es gäbe
eine Partei, die der Verfassungsschutz daraufhin
prüft, wie stark extremistische Bestrebungen in ih
ren Reihen sind: Hätte der Leiter einer Verfassungs
schutzbehörde dann die Pflicht, vor der Wahl dieser
Partei zu warnen?
Kramer: Solche Warnungen können schwerwiegen
de Konsequenzen für das demokratische Kräftespiel
haben. Parteien sind die tragenden Säulen unseres
politischen Willensbildungsprozesses. Aber wenn
sich in ihnen Bestrebungen gegen die freiheitlich
demokratische Grundordnung manifestieren, dann
sind sie auch besonders gefährlich. Wir haben dann
die Aufgabe, die Wähler darauf aufmerksam zu ma
chen, dass Gruppen nahe am oder vielleicht sogar
zeitweise im Bereich des Extremismus agieren. Wir
reden dann nicht mehr nur von radikalen poli
tischen Äußerungen – diese sind von unserer Mei
nungsfreiheit gedeckt, und der Verfassungsschutz ist
keine Meinungspolizei. Man gibt damit übrigens
auch den Parteien die Möglichkeit, Missverständnis
se klarzustellen oder ihren verfassungsfeindlichen
Kurs gar zu korrigieren, indem man sich von extre
mistischen Einzelakteuren trennt. Wenn wir uns als
Frühwarnsystem verstehen, dann sollten wir mit
Fakten und Analysen auch jenseits unserer Jahres
berichte an die Öffentlichkeit gehen und warnen.
Ein Brandmelder ist sinnlos, wenn er erst heulen
darf, wenn das Haus schon in Flammen steht.
ZEIT: In Thüringen sind auch bald Landtagswah
len, und Vertreter des extrem rechten völkischen
»Flügels« der AfD werden voraussichtlich Mandate
erringen. Werden Sie Abgeordnete observieren?
Kramer: Wir haben im Verfassungsschutzgesetz
klare Regeln und Befugnisse. Bevor Abgeordnete des
Landtages von uns beobachtet werden, müssen eine
Reihe von gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sein.
ZEIT: Aber es könnte passieren?
Kramer: Es kann vieles passieren, jeden Tag.
ZEIT: Sie sind bald vier Jahre im Amt. Nachdem der
rechtsextremistische terroristische NSU aufgedeckt
wurde, gab es den Vorwurf, der Verfassungsschutz
Thüringen habe versagt und die Aufklärung sabo
tiert. Sind Sie sicher, dass sich so etwas nicht wieder
holen kann?
Kramer: Sagen wir so, mein Vertrauen in die Arbeit
des Amtes hat zugenommen, aber wir sind noch
lange nicht optimal aufgestellt.
ZEIT: Bei Amtsantritt haben Sie als größte Heraus
forderung den militanten Islamismus benannt. Wie
sehen Sie das heute?
Kramer: Ich habe damals gesagt, der Dschihadismus
gehört zu den größten Sicherheitsherausforderungen
aufgrund der konkreten Anschlagsgefahr. Aber
gleichauf damit – aus meiner Sicht für das System
der Bundesrepublik Deutschland und die Funda
mente dieser Gesellschaft viel gefährlicher, weil
nachhaltiger – ist der Rechtsextremismus. Daran hat
sich nichts geändert, im Gegenteil.
ZEIT: Was meinen Sie mit »nachhaltig«?
Kramer: Beim Islamismus haben wir es derzeit mit
grausamen terroristischen Anschlägen zu tun, die für
Tote, Leid und Angst sorgen, aber bisher nicht die
Demokratie gefährden. Beim Rechtsextremismus
haben wir es auch mit Terror, Gewalt und Todes
opfern zu tun, aber zudem mit einer politischen
Strategie, die gesellschaftliche Räume erobern will.
Hier geht es darum, die Wurzeln unserer Demokra
tie anzugreifen und langfristig abzuschaffen.
ZEIT: Wie stark ist die rechtsextreme Szene in
Thüringen? Fühlen sich diese Gruppierungen von
Wahlerfolgen der AfD wie in Sachsen und Bran
denburg ermutigt? Oder korrespondieren politische
Parteien und rechtsextreme Bewegungen gar nicht
miteinander?
Kramer: Die rechtsextremistische Szene ist außeror
dentlich aktiv und selbstverständlich korrespondie
ren die Gruppierungen und die Politik miteinander!
Die »Neue Rechte« sagt ja gerade, sie will den Kampf
von der Straße ins Parlament, in die Wirtschaft, die
Kultur und in die sozialen Räume tragen. Vor ein
paar Jahren konkurrierten die meisten rechtsextre
mistischen Gruppen noch untereinander. Mittler
weile fällt auf, dass es der »Neuen Rechten« gelungen
ist, den subkulturellen Bereich des Rechtsextremis
mus und die gesellschaftliche Mitte gleichermaßen
zu erschließen. Plötzlich sind da irgendwelche Scha
manen, die mit ein paar Reichsbürgern
auf der grünen Wiese den Mond anbeten.
Das waren vor ein paar Jahren noch vier,
fünf Leute, jetzt sind es teilweise 40 bis
- Dann haben wir eine rechtsextreme
»Artgemeinschaft«, die Siedlungsprojekte
aufmacht, das war erst ein Häuschen mit
einer Familie, jetzt sind es zwei, drei, und
dann kommen noch 20 bis 30 Singles
und Familien aus der ganzen Bundes
republik dazu. Rechtsextreme erringen
Kommunalmandate, überall gibt es per
sönliche Berührungspunkte.
ZEIT: Der ehemalige BfVPräsident HansGeorg
Maaßen hat im sächsischen Wahlkampf behauptet,
traditionell sei in der Bundesrepublik die Ab
grenzung zwischen Rechten und Rechtsextremisten
viel robuster als jene zwischen Linken und Links
extremisten.
Kramer: Wir müssten uns erst Mal darüber verstän
digen, was und wer mit den jeweiligen Begriffen
überhaupt gemeint ist. Ich habe die »Neue Rechte«
ja schon mehrfach erwähnt. Nehmen Sie zum Bei
spiel auch die Identitäre Bewegung, deren Vertreter
sich selbst als eine Art rechte Greenpeacer inszenie
ren und so tun, als wären sie nur ein bisschen provo
kativ, radikal und intellektuell unterwegs. Gleich
zeitig stellen die Behörden immer mehr Sachbeschä
digungen und andere Delikte fest. Die Identitären
werden wahrscheinlich nicht mit dem Baseballschlä
ger durch die Gegend laufen, jedenfalls noch nicht.
Dafür hat man andere Gruppierungen und Bruder
schaften, bei denen der Baseballschläger schnell mal
tanzt, da werden schon mal Leute, auch Journalis
ten, krankenhausreif geprügelt. Beziehungen und
personelle Überschneidungen zu rechtsextremen
Parteien sind ganz offen erkennbar, und gerade was
etwa NPD und beispielsweise den »III. Weg« an
geht: Da gibt es keine Abgrenzung zwischen Rechts
und Rechtsextrem. Auf der anderen Seite gibt es
natürlich auch Linksextreme – vorwiegend Auto
nome und Anarchisten, die Gewalt als legitimes
Mittel der Auseinandersetzung gegen Rechte und
den Staat befürworten und anwenden. Die Mehr
zahl der politischen Linken distanziert sich aber
bisher von Gewalt. Man sollte die Dinge aus ein
an der hal ten und klarer differenzieren. Pauschale
Vereinfachungen, wie die von Herrn Maaßen,
sind da wenig hilfreich.
ZEIT: Wie erklären Sie sich die gesteigerte At
traktivität eher autoritärer Politiker?
Kramer: Eine Menge Leute haben von den etab
lierten Parteien die Nase voll, weil die ihnen alles
Mögliche versprechen, aber gefühlt wenig davon
einhalten. Einige haben das Gefühl, als Bürger
zweiter Klasse im eigenen Land behandelt zu wer
den. Die Freiheit des Alltags kann für einige zur
Belastung werden. Dann haben Sie Leute, die da
mit überfordert sind, in welcher Welt wir heute le
ben. Und schon eine Gebietsreform kann dazu
führen, dass sie das Gefühl haben, dass man ihnen
ihr lokales Umfeld wegnimmt, also den Bereich, der
für sie überschaubar und beherrschbar ist, wo sie
Freunde und Nachbarn und das Gefühl haben: Hier
bin ich gut aufgehoben, hier bin ich geschützt, hier
kann ich meine Kinder auf die Straße schicken.
Und dann hören sie auch noch jeden Abend in
den Nachrichten, da ist wieder ein Bomben
anschlag verübt worden und jemand be
hauptet, die Muslime bedrohten uns,
die Russen stünden nach der Krim
schon vor Warschau, die Nato
und die Amerikaner wollten
nur Krieg. Wenn die Men
schen das permanent
gesagt kriegen und
nicht einmal die
Gewissheit
haben, dass
ihre
Rente sicher ist, dann kriegen sie Existenzangst.
Dann sagen sie: »Das geht so nicht weiter! Wir brau
chen Leute, die durchgreifen!«
ZEIT: Haben die Menschen das Gefühl: Ich werde
nicht genug beschützt?
Kramer: Das Sicherheitsgefühl ist gestört, und da
hilft es auch nichts, mit Kriminalstatistiken und
Aufklärungsquoten zu argumentieren. Bürgerweh
ren entstehen und werden von Rechtsextremen ge
zielt instrumentalisiert oder initiiert. Manche dieser
Leute radikalisieren sich, das geht so weit, dass sie
sagen: Ich will mich rüsten, um mich gegen einen
Angriff zu verteidigen oder um im Fall des Zusam
menbruchs des Staates überleben zu können.
ZEIT: Glauben Sie, dass politische Morde an Amts
trägern wie dem hessischen Regierungspräsidenten
Walter Lübke zunehmen werden?
Kramer: Ich bin kein Hellseher. Hoffentlich nicht,
aber die Gefahr wird absehbar nicht geringer, wie
man an der steigenden Zahl an Drohungen und
Angriffen gegen Politiker und Amtsträger, aber auch
gegen normale Bürger sehen kann. Es gab in der
Szene durchaus Leute, die den Mord an Walter
Lübke als willkommenes Fanal gesehen haben. Und
unser Amt für Verfassungsschutz hier wird norma
lerweise mindestens zweimal im Jahr wegen irgend
welcher Bombendrohungen evakuiert.
ZEIT: Werden Sie persönlich bedroht?
Kramer: Ja, aber es gibt auch Landräte, Abgeordne
te, Bürgermeister und Gerichtsvollzieher, die regel
mäßig bedroht werden.
ZEIT: Die Drohungen gegen Sie: Haben die mit Ih
rem Amt zu tun, damit, dass Sie Jude sind – oder mit
beidem?
Kramer: Die halten das nicht auseinander. Außer
dem passt es ja so schön zu den jeweiligen Ver
schwörungstheorien.
ZEIT: Finden Sie, dass wir als Gesellschaft die Ge
fahr des Antisemitismus richtig einschätzen?
Kramer: Ich denke nein. Für viele in der Gesell
schaft ist das immer noch ein Problem der Juden,
wenn es überhaupt wahrgenommen wird. Der Anti
semitismus in Deutschland ist für mich ein Seismo
graf, wie es um unsere Gesellschaft bestellt ist. Es
wird viel diskutiert, aber es fehlt das konsequente
Umsetzen von notwendigen Maßnahmen. Viele
Rechtsextreme beispielsweise haben es in den letzten
Jahren geschickt angestellt, indem sie den offenen
Antisemitismus in den Hintergrund geschoben ha
ben. Sie haben gezielt versucht, vom Antisemitismus
Radar zu verschwinden. Antisemitismus wird im
mer eine Rolle spielen, er ist für viele von denen
identitätsstiftend. Und wenn Sie sich die ethno
pluralistischen Theorien der »Neuen Rechten« an
schauen, da haben Juden wenig Platz.
Die Fragen stellten
Yassin Musharbash und
Özlem Topçu
Viele AfDWähler wissen, dass sie mit ihrer Stimme auch Politiker wählen, die mit
Rechtsextremisten sympathisieren, sagt Thüringens Verfassungsschutzchef Stephan Kramer
Weit mehr als
Wutbü rger
Stephan Kramer, 51,
leitet das Amt seit
Dezember 2015
Illustration: Nathalie Lees für DIE ZEIT, Foto: Nora Klein für DIE ZEIT
4 POLITIK 12. SEPTEMBER 2019 DIE ZEIT No 38