Ü
ber dreißig Jahre war Margaret At-
woods Roman Der Report der Magd
nur ein feministischer Klassiker unter
anderen – die Darstellung eines tota-
litären Staates, in dem Frauen brutal
zu Gebärmaschinen erniedrigt wurden. Dann kam
der Mann, der sich damit brüstete, Frauen an die
»pussy« zu fassen, und plötzlich startete Der Report
der Magd zu einem fulminanten zweiten, aus der
Literatur in die Politik überspringenden Leben.
Und völlig überraschend kehrte Atwoods Roman
für mehr als achtzig Wochen auf die Bestsellerliste
der New York Times zurück, mit mehr als drei Mil-
lionen verkauften Exemplaren nach 2016. Bei
Trumps Inauguration forderten Demonstrantinnen
mit Plakaten »Make Margaret Atwood fiction again«,
auch »›The Handmaid’s Tale‹ (so der Originaltitel) is
not an instruction manual«. Wenn Gerichte oder
Parlamente in den Vereinigten Staaten das Abtrei-
bungsrecht einschränken wollten, tauchten regel-
mäßig Demonstrantinnen im rot-weißen Kostüm
der »Mägde« aus Atwoods Roman auf.
Den Höhenflug beflügelte noch die 2017 nach
dem Buch gedrehte Fernsehserie. Atwood hatte den
Produzenten erlaubt, ihren Roman, der von reiner
white supremacy handelte, in eine publikumsnähere
multiracial Geschichte zu verwandeln, in der ur-
sprünglich weiß konzipierte Figuren von Dunkel-
häutigen gespielt wurden. Sich selbst hatte sie in
der Serie einen Kurz-Auftritt als prügelnde Aufsehe-
rin spendiert. Der Erfolg war enorm. Letztes Jahr
kündigte Atwood eine Fortsetzung an – auch aus
Sorge um die illiberale Entwicklung der USA.
Letzten Dienstag sind, mit groteskem Begleit-
getöse, Die Zeuginnen zugleich auf Deutsch und
auf Englisch erschienen.
Was steckt hinter diesem Hype? Wie kommt es,
dass zeitgenössische Feministinnen sich in einer abs-
trusen vormodernen Provinzdiktatur wiedererkennen,
die tief in der Vor-Handy- und Vor-Internet-Zeit
angesiedelt ist, Meilen entfernt von den komplexen
Kultur- und Wirtschaftsverhältnissen der Gegenwart?
Auch der neue Roman spielt wieder in Gilead,
einem vormodernen Kontrollstaat, dessen Erfin-
dung tief in die Zeiten des Kalten Krieges zurück-
reicht. Atwood begann mit dem Schreiben im
Orwell-Jahr 1984 auf einer mechanischen Schreib-
maschine deutschen Fabrikats in West-Berlin. Die
Mauer und den Stacheldraht Berlins übernahm sie
ebenso wie die Überwachung und den brutal kon-
trollierten Alltag, die sie auf Reisen durch Ost-
euro pa erlebte. Aber sie verpflanzte beides in eine
Kleinstadt an der amerikanischen Ostküste. Das
Städtchen Gilead roch ein bisschen nach dem he-
xenjägerischen Salem und ein bisschen nach
Wandlitz, glich aber vor allem Cambridge, der
Stadt der Harvard University.
Nichts an dieser kuriosen Diktatur hätte den
Report der Magd zu einem Kultbuch des heutigen
Feminismus machen können, wäre Atwood nicht
in einer kühnen und aus heutiger Sicht geradezu
prophetischen Entscheidung über die Tradition
des dystopischen Romans im Stil Orwells hinaus-
gegangen: Ihr totalitärer Staat ist zur Gänze und
ausschließlich gegen die Autonomie, Würde und
Gleichberechtigung der Frauen gerichtet. Er wirkt
nicht nur wie die Vorwegnahme des ja auch auf
Dorfterror aufbauenden IS. Er wirkt vor allem wie
das exakte Gegenbild zu allem, was die #MeToo-
Bewegung anstrebt.
Der Gilead-Putsch begann als puritanische
Heim-an-den-Herd-Bewegung und endet mit der
Errichtung eines pseudoreligiösen totalitären Sys-
tems, in dessen Mittelpunkt die Frauen stehen, die
als »Mägde« den Haushalten der »Kommandan-
ten« zugeteilt und in monatlichen Ritualen zum
Zweck der Kinderproduktion vergewaltigt wer-
den. Neben den rot gekleideten und mit weißen
Hauben beschirmten »Mägden« gibt es als Haus-
haltshilfen die »Marthas«, als Einpeitscherinnen
im buchstäblichen und übertragenen Sinn die
»Tanten« und weit draußen irgendwelche hoch-
gradig kontaminierten »Kolonien« – ein Thomas
Pynchon hätte dieses recht struppig komponierte
Sozialsystem möglicherweise ein bisschen plausib-
ler schildern können.
Einen wichtigen Anteil am Erfolg des Buches hat
Atwoods Wahl der Erzählstimme: die der Magd Des-
fred, die als Zeugin in der ersten Person Tag für Tag
von ihrem Leben in Gilead berichtet. So thesenhaft
ausgedacht Gilead manchmal scheint, in Desfreds
Report ihrer Erniedrigung rückt einem der Totalita-
rismus schmerzhaft auf den Leib. Desfred ist hin- und
hergerissen zwischen puritanischem Gehorsam und
einem rebellischen Unterstrom des Begehrens. Sie
findet Kontakt zum Widerstand und wird am Ende
abgeführt – von den Häschern oder von Tarnfahrern
des Widerstands? Hat sie überlebt, war sie schwanger,
leben ihr Mann und ihr Kind? »Gibt es irgendwelche
Fragen?«, lautet der letzte Satz des Romans.
Es gab viele. Und auf die meisten findet sich in
den Zeuginnen eine Antwort: Lebt Desfred? Ja. War
sie schwanger? Ja. Leben ihre Kinder und ihre Män-
ner? Ja. Treffen sie sich? Selber lesen.
Für alle Liebhaber dieser Heldin sei aber so-
gleich bemerkt: Desfred sagt in diesem Roman nur
drei Sätzchen. Denn wiewohl die Zeuginnen als die
Fortsetzung des Reports der Magd gelten, sind sie in
Geist und Technik doch ein vollkommen anderes
Buch. Auf einen nicht unsperrigen Roman der
Achtzigerjahre folgt ein süffiger Thriller und page
turner für unsere Gegenwart, in der Romane mit
TV-Serien konkurrieren müssen. Auf ein dem Be-
obachten und der Introspektion gewidmetes, dia-
logarmes Buch folgt eine handlungs- und dialog-
reiche Geschichte. Auf den Monolog Desfreds
folgt die gekonnte Montage dreier ganz unter-
schiedlicher Stimmen. In einem bleibt Atwood
sich freilich treu: Anspielungen auf die heutige
politische Lage lassen sich an einer Hand abzählen.
Allenfalls die Verfolgung von Flüchtlingen mit
Drohnen, die Trennung von Flüchtlingskindern
von ihren Müttern lassen Aktualität aufblitzen.
Nur eine der Erzählstimmen ist aus dem Vor-
gängerroman bekannt: die von Lydia, der älteren,
brutalen Tante. Mit ihr berichten in stetem Wech-
sel zwei junge Frauen: eine Daisy, die in Kanada
unter Widerständlern gegen Gilead aufgewachsen
ist. Und eine Jamina, die in Gilead im Haus eines
Kommandanten groß wurde. Alle Personenerfin-
dungen Atwoods darf man als kühn bezeichnen:
Lydia ist in der TV-Serie die Verkörperung des
Bösen schlechthin, die Drehbuchschreiber wollten
sie umbringen lassen, was Atwood ihnen verbot.
In den Zeuginnen gibt sie ihr mit viel Einfühlung
ein anderes, nicht nur unsympathisches Leben.
Aus einer erfolgreichen Berufsfrau in der Zeit vor
Gilead wird sie durch Folter zu einer hochrangigen
Mittäterin und später zur heimlichen Organisato-
rin des Widerstands. Und was die jungen Frauen
betrifft, so wird jeder Leserin, jedem Leser früher
oder später mit Herzklopfen klar werden, dass sie
die Töchter von Desfred sind.
Alle Erzählerinnen haben ihren Bildungs roman:
Lydia füllt ein heimlich geführtes Tagebuch. Daisy
wird als vorgebliche Konvertitin, in Wahrheit als
Agentin des Widerstands, nach Gilead geschickt. Ihr
Zeugenbericht ist vom Widerstand geprägt, während
Jamina erst aus der Weltsicht Gileads herausfinden
muss. In allen drei Frauenfiguren zeigt Atwood mit
psychologischer Finesse den Konflikt zwischen weib-
lichem Autonomiebestreben und dem Herrschafts-
anspruch Gileads.
Zum Schluss erkennen sich Jamina und Daisy
als Halbschwestern, sie fliehen, und Daisy bringt
das Terrorsystem als Agentin an den Abgrund. Viel-
leicht etwas viel Happy End nach einem groß-
artigen Lesevergnügen. Das Rätsel eines Sozial-
systems zwischen vormodernem Totalitarismus und
Internet- Hacking bleibt ungelöst – aber haben wir’s
beim IS verstanden? Im Übrigen gilt: Wer Thriller,
Klarheit, Coolness liebt, wird Die Zeuginnen vor-
ziehen. Wer’s mit Tiefe, Ambivalenz und höheren
Betriebstemperaturen hält, den Report der Magd. So
nahe wie Desfred kommen wir Atwoods neuen
Heldinnen nicht. Was auch daran liegen mag, dass
Desfred eine Liebende war, was die neuen, Tanten
alle drei, zu Romanzeiten nicht sein dürfen.
Margaret Atwood: Die Zeuginnen. Roman;
aus dem Englischen von Monika Baartz; Berlin Verlag,
Berlin 2019; 576 S.; 25,– €, als E-Book 22,99 €
ZEIT: Sie schildern eine besonders gespenstische
Begegnung mit Ullrich Fichtner am 10. Dezember
2018, kurz bevor alles endgültig auffliegt. Die Be-
weislast ist da schon erdrückend, Sie erzählen ihm
auch noch von einer amerikanischen Reporterin,
die dem Lügner Relotius auf der Spur ist – und
Fichtner tut das immer noch ab und kündigt an,
den Reporter Clemens Höges in einigen Wochen
in die USA zu schicken, um zu recherchieren.
Moreno: Fichtner drückte mir die Erwiderung von
Relotius auf meine Vorwürfe in die Hand, die ich
bis dahin nicht kannte. Erst da begriff ich, dass die
gar nicht selbst ermittelt, sondern lediglich dem
Angeklagten gesagt hatten, verteidige dich mal!
Relotius behauptete in der Erwiderung, dass auch
Spiegel TV mit den Leuten aus unserer Reportage
sprechen werde. Die Chefs hatten aber bei Spiegel
TV nicht nachgefragt. Das alles hat mich scho-
ckiert, aber es hat mich nicht mehr verunsichert.
Ich hatte ja lange selbst große Zweifel gehabt:
Machst du was falsch, übersiehst du was? Relotius
ein Betrüger, das kann nicht sein! Aber zu dem
Zeitpunkt war ich mir sicher. Nach dem Treffen
schrieb ich Fichtner noch eine Mail, in der ich be-
schrieb, wie gefährlich es sein würde, wenn jemand
anderes Relotius auffliegen lässt.
ZEIT: Sie schrieben ihm auch, der Spiegel müsse
eine eigene Geschichte schreiben über den Fall,
nach dem Motto: Sagen, was ist. Genauso hieß
dann die spätere Titelgeschichte, nachdem der
Skandal aufgeflogen war und Relotius seine Lügen
gestanden hatte.
Moreno: Ich arbeite seit mehr als zehn Jahren für
den Spiegel, und das ist ein tolles Blatt. Ich wollte
nicht, dass der Spiegel zerstört wird. Das hätte aber
passieren können, wenn nicht die eigene Redakti-
on die Relotius-Geschichte aufgedeckt hätte und
eine gefährliche Kettenreaktion entstanden wäre.
ZEIT: Angenommen, der Spiegel hätte Sie noch
länger auflaufen lassen: Wären Sie mit der Ge-
schichte zur Konkurrenz gegangen?
Moreno: Wenn der Spiegel versucht hätte, irgend-
etwas unter den Teppich zu kehren: ja. Ich glau-
be, dass viele auf eine Geschichte wie diese ge-
wartet hätten.
ZEIT: Gab es für Sie irgendwann einen Moment
des Glücks – als klar war, Sie haben recht gehabt?
Moreno: Deutlich, deutlich später. Ich war im Fe-
bruar Ski fahren mit meiner Familie, hatte kein
Handy dabei. Da stellte sich erstmals das Gefühl
ein: Es ist vorbei. Vorher gab es den Moment der
Euphorie nicht, den man vielleicht hat, wenn man
als Polizist einen Bankräuber fängt. Ich wollte
auch nicht Juan Moreno, der Journalisten-Polizist,
werden, sondern Juan Moreno, der Reporter, der
seine Arbeit macht. Nein, keine Euphorie, dafür
ist zu viel kaputtgegangen.
ZEIT: Was ist kaputtgegangen?
Moreno: Das Gesellschaftsressort des Spiegels ist
heute nicht mehr wiederzuerkennen. Es hat sogar
Überlegungen gegeben, es aufzulösen. Inzwischen
stehen Journalisten, und längst nicht nur die
vom Spiegel, unter Generalverdacht. Es schmerzt
mich, wenn ein Lokalrepor-
ter irgendwo sorgfältig re-
cherchiert und sich von sei-
nem Gegenüber sagen lassen
muss, du bist doch auch so
ein Relotius – nur weil er
Dinge schreibt, die dem nicht
gefallen.
ZEIT: Vor dem Hintergrund
des Lügenpresse-Vorwurfs dis-
kutiert unsere Branche seit
Monaten darüber, wo die
Grenze verläuft zwischen einem journalistischen
Fehler, einer Verschönerung, die nicht okay ist –
und einer Fälschung.
Moreno: Wir Journalisten sind da ein bisschen wie
Kleinkinder. Ein Kleinkind weiß ziemlich genau,
wie weit es gehen kann. Wenn Papa sagt, du darfst
nicht mit der Schere spielen, dann weiß es, dass
das auch für Messer gilt. Jeder Journalist hat ein
klares Gefühl, wo bin ich ehrlich und diene der
Informationsvermittlung und dem berechtigten
Unterhaltungsinteresse – und wo überschreite ich
Grenzen. Ich halte manche Debatten für künst-
lich. In einem bekannten Journalisten-Lehrbuch
steht: Man könne verschiedene Interviews führen
und sie in einer Person zusammenführen. Was soll
das? Natürlich darf man das nicht. Und ich kenne
niemanden, der so arbeitet.
ZEIT: In Relotius wurde die Möglichkeit hinein-
interpretiert, er habe gefälscht, weil er so unter
Druck gestanden habe und immer neue Knaller-
geschichten habe liefern müssen.
Moreno: In einer meiner ersten Geschichten für
den Spiegel sollte ich eine afrikanische Mutter fin-
den, die zwei Kinder auf einem Schiff auf dem
Weg nach Spanien verloren hatte, damit sie uns
ihre Geschichte erzählt. Ich recherchierte und re-
cherchierte und kam nicht weiter. Nicht so toll,
wenn man mit einem solchen Ergebnis nach
Hause kommt. Aber es war kein Problem. Nicht
bei Cordt Schnibben, dem damaligen Chef des
Gesellschaftsressorts, der mich eingestellt hatte,
und auch nicht bei seinen Nachfolgern. Relotius’
Lügen hatten nichts mit Druck zu tun. Null.
ZEIT: Warum wurde Relotius überhaupt so lange
alles geglaubt? Warum gewann er einen Journalisten-
preis nach dem nächsten?
Moreno: Ich glaube, es hat damit zu tun, dass die
Schicksale, die Tragödien, die er beschrieb, letzt-
lich etwas Tröstliches hatten. Weil er scheinbare
Kausalitäten lieferte, einfa-
che Gründe dafür, warum
seine Protagonisten handel-
ten, wie sie handelten. Das
ist sehr beruhigend. Schwarz-
Weiß statt Grau.
ZEIT: Wie geht es Ihnen,
wenn Sie heute eine Reporta-
ge schreiben? Ist Ihr journa-
listisches Urvertrauen ange-
knackst?
Moreno: Nein. Ich bin ja
durch die Affäre ein wenig bekannt geworden und
muss sagen: Das hilft. Es gehen manche Türen bei
Recherchen auf, die früher vielleicht nicht aufge-
gangen wären. Aber es hat sich für mich persönlich
etwas verändert. In dieser Krise habe ich gespürt,
was es bedeutet, wenn mir meine Identität als
Journalist und Autor wegbräche. Was ist dann
noch übrig? Ich hatte den Eindruck, nicht viel.
Das hat mich nachdenklich gemacht und dazu
geführt, dass ich mich irgendwann gefragt habe,
warum haben sie mir nicht geglaubt? Meine ver-
meintliche Aufstiegsbiografie vom Gastarbeiter-
kind zum Spiegel-Autor hat jedenfalls einen
Dämpfer bekommen. Ich hatte früher nie den
Eindruck, dass meine Chefs mich nicht für voll
nehmen. Heute denke ich: Du gehörst offenbar
doch nicht ganz dazu.
ZEIT: Sie haben versucht, dem Menschen Claas
Relotius in diesem Buch nahezukommen. Er
selbst hat jeden persönlichen Kontakt verwei-
gert, dasselbe gilt für seine Familie und seine
Freundin. Am Anfang des Buches nennen Sie
ihn einmal einen »Hochleistungs-Teutonen«,
der Sie sicher »in Grund und Boden recherchie-
ren« werde.
Moreno: (lacht) Er hatte den Ruf, dass ihm alles
gelingt. Die ganzen Details in seinen Geschichten
deuteten ja darauf hin. Ich kannte ihn kaum, ich
habe ihn ein paarmal erlebt, ein bisschen verhuscht,
eher zurückhaltend, überhaupt nicht auftrump-
fend, was ich angenehm fand. Ich wollte natürlich
wissen, wer ist dieser Mann, der mein Leben auf
den Kopf gestellt hat? Es ist unfassbar. Rückbli-
ckend muss ich sagen, er hat Nerven wie Stahlseile.
ZEIT: Sie erzählen eine Anekdote, die es in sich
hat. Das erste Mal, als der Spiegel ihn einstellen
wollte, habe er abgelehnt — weil er sich so intensiv
um seine krebskranke Schwester habe kümmern
müssen. Das Problem, so schreiben Sie: Relotius
hat keine Schwester.
Moreno: Diese Geschichte vervollständigte sein
Wunderknaben-Image: Ein so toller Reporter und
ein so edler Mensch! Da er mit mir nicht sprechen
wollte, musste ich mit Ex-Kollegen und Freunden
über ihn reden, auch mit Psychologen. Einer be-
schrieb ihn als »beleidigend schulbuchhaften« Fall
eines Hochstaplers. Da lügt einer, um zu gefallen,
um Erfolg zu haben. Immer weiter und zwar ohne
jede Empathie, er kann sich überhaupt nicht vor-
stellen, was er bei anderen anrichtet. Deshalb, sa-
gen Psychologen, sind chronische Lügner so
schwer therapierbar.
ZEIT: Der Spiegel muss Ihnen sehr dankbar sein.
Schwer vorstellbar, was passiert wäre, wenn sein
Aufstieg und seine Fälschungen weitergegangen
wären. Wie hat sich denn die Führungsriege Ihnen
gegenüber am Ende verhalten?
Moreno: Es gab eine Entschuldigung von der
Chefredaktion, im März. Matthias Geyer rief
mich an, nachdem Relotius aufgeflogen war. Auch
er hat sich entschuldigt. Ullrich Fichtner nicht.
ZEIT: Fichtner ist nicht Chefredakteur geworden,
arbeitet aber weiter fest beim Spiegel. Sie sind nach
wie vor freier Reporter.
Moreno: Natürlich habe ich überlegt, ob ich gehen
muss. Ich habe das Ressort gewechselt, das war
eine Bedingung für mich. Entscheidend war für
mich, dass der schonungslose Ermittlungsbericht
über die Affäre im Spiegel veröffentlicht wurde.
ZEIT: Matthias Geyer wurde gekündigt, er hat in-
zwischen das Blatt verlassen. Tut er ihnen leid?
Moreno: Ja. Er ist ein guter Journalist, er hat groß-
artige Geschichten geschrieben. Aber er hat einen
Fehler gemacht, einen gravierenden. Und er ar-
beitete nun mal in einem Laden, der oft Fehler bei
anderen anprangert und Konsequenzen fordert.
Darum ist es nachvollziehbar, dass es jetzt so
kam. Aber es wäre nicht schön, wenn am Ende
nicht seine Texte blieben, sondern nur das Wort
Relo tius.
ZEIT: Herr Moreno, Sie haben ein erstaunlich
gelassenes Buch geschrieben. Haben Sie das vor
dem Schreiben entschieden: Ich halte meine Wut
da raus?
Moreno: Ich habe diese Wut nicht. Ich wollte ein
Buch schreiben, das diese Geschichte für mich ab-
schließt. Ich finde es grenzwertig, wenn andere die
Relotius-Geschichte zum Anlass nehmen, alte
Rechnungen zu begleichen. Wen soll das außer-
halb der Branche interessieren?
ZEIT: Ihr Buch soll verfilmt werden. Spielen Sie
selbst Juan Moreno?
Moreno: Ich kann definitiv ausschließen, dass ich
in dem Film mitspiele, das Drehbuch schreibe
oder fürs Catering zuständig bin. Aber anschauen
werde ich ihn mir.
Das Gespräch führten
Stephan Lebert und Yassin Musharbash
Margaret Atwood und ihre alte Schreibmaschine, im August 2019
Weibliche Gebärmaschinen
Margaret Atwoods »Report der Magd« war ein Millionenseller, ein Kultbuch des US-Feminismus. Was bringt die Fortsetzung »Die Zeuginnen«? VON ANDREAS ISENSCHMID
»Ich wollte nicht ...« Fortsetzung von S. 55
Foto: Arthur Mola/AP Photo/dpa
»Rückblickend
muss ich sagen:
Relotius hat Nerven
wie Stahlseile«
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56 FEUILLETON 12. SEPTEMBER 2019 DIE ZEIT No 38
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