Die Zeit - 12.09.2019

(singke) #1

MUSEUM


VOR SC H AU


AU F DE N


KUNSTHERBST


Abb.: James Turrell »Third Breath« (Foto: Frank Vinken/Zentrum für Internationale Lichtkunst Unna)


Die stille Sensation


Leonardo, Tiepolo, van Gogh – dieser Herbst verspricht die schönsten Sonderschauen. Doch noch aufregender ist etwas anderes VON HANNO RAUTERBERG


W


as treibt sie bloß? Was
suchen all die Menschen?
Man darf hier kein Pop­
corn essen wie im Kino.
Kann kein Nickerchen
halten wie im Theater.
Und tanzen, zappeln, sich
auf den Boden werfen? Besser nicht, denn am Ende
hat einer der Wärter ein schwaches Herz, und was
dann? Und doch, trotz alledem und obwohl man
hier nicht lauthals lachen und noch nicht mal or­
dentlich applaudieren sollte, drängen die Menschen
in die Säle der Kunst, weit mehr als in die Stadien
der Fußballbundesliga, mehr auch als ins Kino,
Theater und Konzert. Das Museum, diese Trieb­
besänftigungsmaschine, sie ist begehrter denn je.
Zuletzt waren es 30 Ausstellungen, die hierzu­
lande eröffnet wurden, 30 im Durchschnitt an je­
dem Werktag des Jahres. Vor allem die Kunst­
museen melden Zuwächse, als seien sie im Start­
up­Business tätig: zuletzt plus 18 Prozent bei den
Besuchern und mancherorts Schlangen bis vors

Portal. In diesem Herbst, das ist gewiss, werden sie
besonders lang sein. Selten gab es so viele Sonder­
schauen auf einmal, selten hatten die alten Meis­
ter, rar und begehrt, einen größeren Auftritt. Wer
nur die wichtigsten sehen will, muss dringend
Sonderurlaub nehmen. Albrecht Dürer, der ewig
junge Renaissance­Meister, ist in Wiens Albertina
zu bestaunen. Giovanni Battista Tiepolo, für seine
Zeitgenossen der »beste Maler Venedigs«, wird in
der Staatsgalerie Stuttgart gewürdigt. Und in
München, in der Alten Pinakothek, steht man
bald schon Aug in Aug den Porträts des großarti­
gen Anthonis van Dyck gegenüber.
Ebenfalls auf der Liste: Paris mit der lang erwar­
teten Leonardo­Ausstellung. Frankfurt und Pots­
dam, die Vincent van Gogh neu entdecken wollen.
Amsterdam, wo Rembrandt und Velázquez auf­
einanderprallen. Und spätestens wenn Caravaggio
und Bernini in Wien eine gemeinsame Bühne
bekommen, ist es, als wären die Museen ganz der
barocken Inszenierungslust verfallen, rauschhaft,
maßlos, schönheitstrunken.

Doch geht es natürlich auch anders. Wer das
Gedrängel und Geschiebe eher lästig findet, wer
lieber Kunst sehen will und nicht bloß Hinter­
köpfe, dem steht eine Sonderschau ganz anderer
Art offen, reich und prachtvoll wie kaum eine an­
dere – und meistens menschenleer. Man nennt sie
bescheiden die ständige Sammlung. In Wahrheit
ist sie die stille Sensation der Museen.
Wohl keine andere Sammlungslandschaft ist so
bunt und üppig wie die deutsche. Wohin man auch
kommt, überall trifft man auf die erstaunlichsten
Museen. Warum nach Amsterdam reisen, um Rem­
brandt zu sehen? Man kann ihn auch, viel konzen­
trierter, in Kassel bewundern, einen Riesensaal füllen
sie dort mit seinen Gemälden. Oder man reist nach
Karlsruhe, zu Rubens, Menzel, Kandinsky. Nach
Aschaffenburg zu Grünewald, nach Augsburg zu
Dürer, nach Schwerin, um groß Duchamp zu sehen.
Oder besichtigt Monet in Bremen, Botticelli in
Hannover und Altenburg. Und Vermeer natürlich,
natürlich Giorgione, beide in Braunschweig zugegen.
In Braunschweig? Ja, in Braunschweig.

Während in anderen Ländern, in Frankreich
zum Beispiel, die bedeutendsten Schätze zuverläs­
sig in den größten Städten liegen, wird in Deutsch­
land nicht selten die Provinz zur Metropole der
Kunst. Denn jeder halbwegs aufgeklärte Fürst ver­
gnügte sich einst an einer eigenen – und oft ei­
genwilligen ­ Sammlung, und die Bürger gründe­
ten im 19. Jahrhundert selbst in kleinen Städten
einen Kunstverein und spätestens im 20. Jahrhun­
dert ein Museum. Hier trifft man nun auf alte und
ebenso auf jüngere Meister. Entdeckungen, wohin
man auch schaut.
Im westfälischen Unna taucht man ein in die
Lichtkunst des großen James Turrell. In Zell am
Harmersbach zeigen sie Beuys, Hirst, Richter. In
Sindelfingen Andreas Gursky, Candida Höfer, Wolf­
gang Tillmans. Und immer hat man an diesen doch
ein wenig entlegenen Orten die Werke fast ganz für
sich. Niemand vermisst hier den Trubel der Groß­
ausstellungen, im Gegenteil. Wo es nur einen van
Gogh gibt, wie in Greifswald, eilt man nicht rasch
weiter zum nächsten. Sondern lässt sich ein. Bleibt

stehen, hält inne, zehn Minuten vielleicht, vielleicht
eine Stunde. Man weiß ja nie, was passiert vor so
einem Kunstwerk, wenn man noch ein Weilchen
länger davorsteht, was man entdeckt und was sich da
rührt, was sich löst unter den Oberflächen, unter
denen des Bildes und seines Betrachters. Schon man­
cher, so hört man, sei sich dabei selbst abhanden­
gekommen, verschwunden in den Tiefen der Kunst.
Dann doch lieber die turbulente Sonderschau?
Ach, man muss das eine nicht gegen das andere
ausspielen, nicht das Spektakel gegen die Versen­
kung. Es ist ja oft dasselbe Verlangen, das so viele
Menschen in die Sammlungen zieht, in die gro­
ßen wie die kleinen. Wer ins Museum geht, hält
Ausschau nach dem, was sein Leben übersteigt.
Was ihn sprachlos macht und demütig. Was ihn
verbindet mit fernen und fremden Zeiten – und
ihn bereichert, ohne unbedingt reich sein zu müs­
sen. Die Museen gehören keinem und allen, sie
sind ein geteilter Schatz. Und das Schönste daran:
Man muss ihn nicht erst mühsam heben. Man
braucht ihn nur anzuschauen.

Ein Raum voller Licht und
von oben blickt kreisrund der
Himmel hinein – »Third Breath«
von James Turrell in Unna

ANZEIGE

67



  1. SEPTEMBER 2019 DIE ZEIT No 38


UnterderSchirmherrschaftvonBundesp räsi den tFrank-WalterSteinmeier
Free download pdf