Die Zeit - 12.09.2019

(singke) #1

W


er nach Halle reist, besucht nicht unbe-
dingt das Kunstmuseum. Die Stadt hat
den Ruf eines architektonischen Freilicht-
museums, das Blicke bis ins Mittelalter gewährt.
Auch die Moritzburg gehört als ehemalige Residenz
der Magdeburger Erzbischöfe zu dem Parcours –
dass sie eine der ersten Sammlungen moderner
Kunst in Deutschland beherbergt, war lange in Ver-
gessenheit geraten. So lange, dass sich das Museum
gerade erst wieder selbst darauf besinnt.
Das diesjährige Bauhausjubiläum war ein willkom-
mener Anlass, in Archiven und Inventaren die eigene
Geschichte zu rekapitulieren. Es fand sich eine Samm-
lung, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts weder hinter
dem Folkwangmuseum in Essen noch hinter dem
Berliner Kronprinzenpalais zurückstand. Im Gegen-
teil, mit Emil Noldes Abendmahl hatte der noch jun-
ge Direktor Max Sauerlandt 1913 ein derart um-
strittenes Gemälde nach Halle geholt, dass die Frage,
ob Museen überhaupt zeitgenössische Kunst kaufen
sollten, wochenlang die deutschen Feuilletons
beschäftigte. Zeitgenossenschaft war fortan ein
Synonym für die hallesche Sammlung.
Mit Charme, Kenntnis und gelegentlicher List
schleuste Sauerlandt die modernen Werke an allen
Einwänden vorbei, Liebermann, Beckmann, Corinth,
Hofer, um nur einige zu nennen. Noch aktueller
wurde die Sammlung in den 1920er-Jahren unter
seinem Nachfolger Alois Schardt, der so manches
quasi direkt von der Staffelei wegkaufte. Ein Schwer-
punkt lag auf den damaligen Bauhausmeistern
Feininger, Kandinsky, Klee, Schlemmer und Muche.
1927 gesellte sich auch noch Walter Gropius mit
einem Entwurf für ein fulminantes Kulturzentrum
hinzu, das am Ende in der Schublade blieb, weil die
Weltwirtschaftskrise dazwischenkam.
Spätestens 1930 war die Sammlung moderner
Kunst so weit gewachsen, dass sie in Deutschland
ihresgleichen suchte. Werke der Brücke, des Blauen
Reiters, von Oskar Kokoschka, Paula Modersohn-
Becker, El Lissitzky hingen an zurückhaltend gestal-
teten Wänden, mit elektrischer Beleuchtung für die
späten Nachmittagsstunden – damals der letzte Schrei.
Und dann ging das Licht aus.
Es folgte, was Thomas Bauer-Friedrich, der heu-
tige Direktor des Museums, eine »doppelte Ächtung
der Moderne« nennt: 1937 wurde die Sammlung
durch die Nazis geplündert, nach dem Ende des
Zweiten Weltkriegs fiel sie in einen über 40-jährigen
Dornröschenschlaf unter einem Regime, dem die
Moderne suspekt blieb. Die Sammlung war zu einem
Torso geschrumpft. Erst jetzt kann man sie dank
vieler Leihgaben wieder in ihrem alten Glanz sehen.
Die Ausstellung Bauhaus Meister Moderne ist zu-
allererst die gelungene Rekonstruktion des alten Be-
standes. 60 der ehemals über 140 beschlagnahmten
oder weiterverkauften Bilder sind wieder da, darunter
Werke – und das ist die eigentliche Sensation – die
seit dem Krieg als verloren galten wie Paul Klees Vo r-
spiel zu Golgatha oder Kandinskys Giftgrüne Sichel.
Doch damit nicht genug. In einem eigenen Ka-
binett sind die fünf frühen Bauhausmeister mit zen-
tralen Werken aus den 1920er- und 1930er-Jahren zu
sehen. Und auch hier gibt es Sensationen, so Schlem-
mers Tischgesellschaft von 1923 oder Klees Aquarell
Pflanzenwachstum, das schon seit Jahren nicht mehr
aus dem Pariser Centre Pompidou verliehen worden
ist. Einen regelrechten Salto vollführt dann der dritte
Teil der Schau, wo mittels Virtual Reality der

Gropius-Entwurf von 1927 als neue Stadtkrone von
Halle gezeigt wird. VR-Brillen erlauben einen
Spaziergang durch die damals geplante Architektur,
ein vergnügliches »Was wäre, wenn«, das noch einmal
überboten wird durch die Ausstattung des virtuellen
Museumsbaus mit dem ebenfalls virtuell eingespeisten
Bestand der vollständigen Halle-Sammlung.
Vielleicht ist das alles zu viel für einen Besuch.
Vielleicht ist auch der Ausstellungstitel zu lang gera-
ten: Kunstmuseum Moritzburg, das Comeback hätte
es auch getan. Sicher jedoch ist, dass man, wie einst
der Kunstkritiker Max Osborn, »Bravo Halle!« seuf-
zen kann, wenn man bildersatt das Museum verlässt.

Zu sehen ist die Ausstellung vom 29. September 2019
bis zum 12. Januar 2020

Dornröschen


wacht auf


Halles großartige Kunstschätze


neu entdeckt VON STEPHANIE JAECKEL


Wie es der Malerin Elisabeth Peyton gelingt, das Gesicht unserer Zeit einzufangen.


Eine Ausstellung in London VON SARAH PINES


E


s ist nie ganz klar, wie oder wa-
rum etwas Schönes gelingt, am
wenigsten weiß es der Künstler
selbst, schrieb Marcel Proust. Im
letzten Band der Suche nach der
verlorenen Zeit besucht der Er-
zähler Marcel ein Fest der Fami-
lie Guermantes. Wie alt die Freunde und Be-
kannten geworden sind, überkommt es ihn
plötzlich. Wie sich die Zeit in die Gesichter gräbt,
und sie sehen es nicht!
Auf ähnliche Weise beschreibt Elisabeth Peyton
ihr Werk und zitiert Proust, wenn sie von der Schön-
heit spricht, die sich in kurzen, immer bereits ver-
fliegenden Momenten zeigt. Peyton malt Gesichter
berühmter Menschen, seltener malt sie Freunde und
Bekannte. Sie malt Napoleon, Curt Cobain, Lady
Di, malt Leonardo DiCaprio, Oscar Wilde oder
Georgia O’Keefe. Sie malt Gesichter aus Filmszenen,
malt Opern- und Konzertgesichter, nachdenklich,
versonnen, verdrossen. Manchmal malt sie Paare,
die sich küssen – für Peyton ein besonders schwie-
riges Motiv. Wie die Zuneigung zweier Menschen
einfangen, ohne in Kitsch zu verfallen?
Peytons malt Menschen, denen sie sich nah
fühlt, die sie vielleicht sogar liebt, obwohl sie sie gar
nicht unbedingt persönlich kennt. Es ist eine Liebe
zum Zerbrechlichen und Schillernden, dann wieder
strahlen manche ihrer Gesichter verheißungsvoll
wie griechische Ikonen oder auch wie die zurecht-
gestutzten Bilder junger Stars auf Bravo-Postern:
rotlippig, bonbonfarben, jugendlich schön.
Im Oktober bekommt Peyton in der National
Portrait Gallery in London eine große Retrospekti-


ve; zur selben Zeit eröffnet dort Pre-Raphaelite
Sisters, eine Schau, die sich den Künstlerinnen im
Umfeld der Präraffaelitischen Bruderschaft widmet.
Deren Frauen wie überhaupt Frauen in der Kunst
seien nicht nur passiv daliegende Musen mit Löwen-
haarmähnen gewesen, erklärt der Kurator, Jan
Marsh. Beide Schauen werden nebeneinanderge-
stellt, denn dringend müsse man, ergänzt der Mu-
seumsdirektor Nicholas Cullinan, die aktive künst-
lerische Rolle von Frauen anerkennen.
Sicher, das sind gut gemeinte und
doch paternalistische Ausführungen, sie
können einen ärgern, und zugleich lassen
sie uns gähnen. Muss Elisabeth Peyton
nach 35-jähriger Karriere und Sotheby’s-
Rekordpreisen noch an die Hand ge-
nommen, ihr Werk der Kunstwelt als
»aktiv« und »weiblich« zugeführt werden?
Haben ihre Gemälde nicht eine andere,
eigene Dringlichkeit?
Peytons Werk ist nicht neo-feminin,
auch kein Auswuchs der #MeToo-Be-
wegung. Ihre Porträts sind mit Öl auf Holz gemalt,
als Monotypie, Radierung oder Aquarell gefertigt
und haben in etwa die Größe von Hochglanz-
magazinseiten. Mit anderen Worten: Sie sind klein,
und manchmal, so die Anekdote, weinen Menschen
bei ihrem Anblick. Vor allem Peytons zarte, ver-
gänglich anmutende Striche, wie dahingepustete
Federn, lassen die Idole ihrer Bilder zerbrechlich
erscheinen und anrührend.
Zudem ist unsere Zeit ungemein empfänglich
für das Spiel mit dem Gesicht. Es ist unsere
Schnittstelle zur Welt und zum Erfolg. Und nichts

umgibt uns so sehr wie Gesichter. Die fragilen
Posen des Selbstvertrauens oder der Angst, der An-
maßung oder Unterwerfung, die Peyton schon vor
Jahrzehnten in ihren Modellen erkannte, flimmern
uns heute abermillionenfach als Selfie entgegen, in
sozialen Medien, auf Touchscreens, auf Profil-
seiten. Wir selbst sind diese Pose geworden. Der
Kult um das Gesicht ist lange nicht mehr nur Stars
und Starlets vorbehalten, unser aller Gesicht ist
öffentlich, versehen mit dem Schimmer
des Privaten.
Elisabeth Peyton, 1965 mit nur
zwei Fingern an der rechten Hand ge-
boren, bekam bereits als 22-Jährige
ihre erste Soloshow in der Althea Via-
fora Gallery in New York. 1993 –
Peyton hatte sich inzwischen die brau-
nen Haare platinblond gefärbt – folgte
die bahnbrechende Ausstellung im
Chelsea Hotel. Besucher konnten an
der Rezeption den Schlüssel zum
Schauzimmer erfragen, darin hingen
Peytons Bilder historischer Persönlichkeiten, da-
runter Kohlezeichnungen Napoleons, noch jung
und wild mit langen Haaren, und bohemehaft
zarte Darstellungen Ludwigs II. von Bayern. Von
beiden Männern scheint die Malerin geradezu
besessen zu sein, sie hat sich den Napoleonischen
Adler und die Krone Ludwigs II. auf die Arme
tätowieren lassen.
Sie male Menschen, die Dinge schaffen, denn
je mehr sie erschüfen, desto verletzlicher würden
sie, hat Peyton einmal in einem Interview gesagt.
Und es ist vielleicht dieser Satz, der die Rezep-

tion ihres Werk in fast schon zwanghafte Andy-
Warhol-Vergleiche getrieben hat. Der Tenor:
Peyton re-individualisiere das »Ich«, indem sie
das Gesicht der Warenkultur entreiße, es allein
schon kraft ihrer Technik – Malerei und Mono-
typie, nicht Siebdruck wie bei Warhol – in seiner
Einmaligkeit darstelle und nicht als beliebig zu
konsumierendes Subjekt-Objekt. Wie die Pop-
Art-Künstler verwendet zwar auch Peyton oft
Vorlagen wie Fotos oder Magazinseiten, doch
ihre Menschen erscheinen nicht alt und unnah-
bar, sie versinken in ihrer Innerlichkeit, es sind
empfindliche, manchmal motzig dreinschauende
Gesichter. Für das amerikanische Vogue-Cover
im Juli 2017 malte sie Angela Merkel, mit
warmem Blick und rätselhaft lächelnd.
Allerdings ist es bei Peyton keineswegs das
fragile »Persönliche«, das hinter irgendeiner
»Oberfläche« aufscheint. Vielmehr erweisen sich
Charisma und Extravaganz als ebenso zerbrech-
lich, und sie sind von der Person, die sie verkör-
pert, nicht zu trennen. Es ist ein Spiel aus Käuf-
lichkeit, Eitelkeit und Verzweiflung, das sich be-
reits in der Literatur des 19. Jahrhunderts, bei
Flaubert, Balzac, Proust oder Wilde entfaltet,
deren Geschichten Peyton als Kind und Jugend-
liche immer wieder las. Damals wie heute geht es
um die Menschen der Moderne, dandyhaft und
einsam, süchtig und kaputt. Und bei dieser
Malerin wunderschön anzusehen.

»Elizabeth Peyton: Aire and Angels« läuft in der
National Portrait Gallery in London vom 3. Oktober
2019 bis zum 5. Januar 2020

Abb.: Elisabeth Peyton »The Age of Innocence«, 2007 (Foto: Johansen Krause)/Courtesy The Brant Foundation, Greenwich, CT. USA © Elizabeth Peyton. Courtesy the artist and Gladstone Gallery, New York and Brussels; Foto u.: Roe Ethridge

So schön süchtig


Die Malerin
Elisabeth Peyton,
geboren 1965

Küsschen,
Küsschen
ohne Kitsch:
»The Age of
Innocence«,
2007

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  1. SEPTEMBER 2019 DIE ZEIT No 38 FEUILLETON 69


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