Margrethe Vestager wurde 1968 als Tochter eines Pfarrers in Glostrup in Dänemark geboren. Sie ist Mitglied der sozialliberalen Partei
Radikale Venstre. In der neuen EU-Kommission wird Vestager Vizepräsidentin für Digitales und Wettbewerb
Welches Tier ist das politischste?
Mein Lieblingstier: der Elefant.
Warum?
Elefanten leben in Gruppen. Sie sind sehr
sozial, sehr aufmerksam, sie erinnern sich
an ihre Beziehungen, daran, ob sie gut oder
schlecht waren. Und sie werden von einer
Frau angeführt.
Das ist in der Politik ja bislang noch eher
selten der Fall, oder?
Das stimmt. Sagen wir es so: In meiner
idealen Welt wäre das politischste Tier der
Elefant.
Welcher politische Moment hat Sie
geprägt – außer dem Kniefall von Willy
Brandt?
Der Fall der Berliner Mauer. Als ich noch
zur Schule ging, hätte ich niemals gedacht,
dass das jemals passieren könnte. Wir ha-
ben die Welt damals einfach so akzeptiert,
wie sie war. Und dann passierte es doch.
Ich bekomme immer noch eine Gänse-
haut, wenn ich darüber spreche.
Können Sie sich an den Moment erin-
nern, als Sie vom Fall der Mauer erfah-
ren haben?
Ich war in der Schule. Damals gab es noch
nicht in jedem Klassenzimmer einen Fern-
seher. Der Lehrer musste ihn auf einem
Wagen hineinrollen. Und da saßen wir und
sahen die Nachrichten. Plötzlich wurde
mir klar, dass Dinge passieren können, mit
denen man nie gerechnet hat. Es gab keine
Diskussion, kein langes Nachdenken, es
waren die Menschen, die ihr Schicksal in
die Hand genommen und die Welt ver-
ändert haben.
Was ist Ihre erste Erinnerung an Politik?
Mein Vater war ein Mitglied der Radikale
Venstre, das ist die sozialliberale Partei in
Dänemark, der ich auch angehöre. Ich er-
innere mich, dass viele Menschen seine
Ansichten nicht teilten. In der Lokalzei-
tung gab es Artikel, in denen er angegriffen
wurde, ich weiß noch, dass er mir unend-
lich leidtat. Er sagte dann aber: »Mei-
nungsverschiedenheiten sind doch genau
der Punkt. Man sagt, was man für richtig
hält, andere widersprechen dir, das ist
Politik.« Ich habe aber noch eine zweite
Erinnerung, darf ich?
Natürlich.
In der zweiten oder dritten Klasse war ich
in diesen Jungen verliebt. Ich wusste wirk-
lich nicht, wie ich ihm näherkommen
könnte. Ich fand dann heraus, dass sein
Vater Mitglied im Rotary Club war. Der
Club machte jedes Jahr einen Ausflug, um
Weihnachtsbäume zu fällen. Ich hatte
sofort einen Plan: Ich wollte da mitfahren,
Bäume schneiden, ihm nahekommen.
Aber mein Vater sagte: »Nicht in einer
Million Jahren werde ich einem Club bei-
treten, der nicht für alle Menschen offen
ist, in den man eingeladen werden muss.«
Das war bitter für mich, aber ich habe ihn
verstanden.
Wann und warum haben
Sie wegen Politik geweint?
Vielleicht ist es eine Frage des Alters, aber
in letzter Zeit weine ich vor allem, wenn
ich Güte erlebe. Als die Flüchtlinge kamen,
2015, gab es eine Frau, sie war ein bekann-
tes Mitglied der ultrarechten Partei Däne-
marks. Sie öffnete ihre Türen und bot
Wasser, Kaffee und Decken an. Das war so
ein Moment, in dem ich weinen musste.
Haben Sie eine Überzeugung,
die sich mit den gesellschaftlichen
Konventionen nicht verträgt?
In Dänemark sind die meisten Menschen
gegen die Frauenquote. Ich bin inzwi-
schen dafür. Männer haben jahrzehnte-
lang informelle Quoten von 95 bis 98
Prozent gehabt. Das hat für sie sehr gut
funktioniert. Ich finde: Sie sollten das An-
gebot einer 50-Prozent-Quote akzeptieren
und froh sein, dass sie so billig davon-
kommen.
Wann hatten Sie zum ersten Mal
das Gefühl, mächtig zu sein?
1998 war ich Bildungsministerin in Dä-
nemark. Viele Jahre später, ich glaube, es
war 2005, kam eine junge Frau auf mich
zu und sagte: »Wir sind uns nie begegnet,
aber Sie haben mein Leben verändert.«
Offenbar hatte ihr Ehemann, der damals
in einer Art Fortbildung war, mir einen
Brief geschrieben, seine Fortbildung solle
aus hanebüchenen Gründen abgebrochen
werden. Ich muss den Brief damals gelesen
haben und mich darum gekümmert haben.
Als sie mich daran erinnerte, dass ich wirk-
lich etwas für sie tun konnte – das war ein
schöner Moment.
Und wann haben Sie sich
besonders ohnmächtig gefühlt?
Ich habe drei Töchter. Wenn die abends aus-
gehen, sagen die so was wie: Wir kommen
vielleicht heute Nacht zurück, vielleicht
schlafen wir aber auch bei Freunden. Das
ist Ohnmacht.
Wenn die Welt in einem Jahr untergeht –
was wäre bis dahin Ihre Aufgabe? Sie dürfen
allerdings keinen Apfelbaum pflanzen.
Ich tue was dagegen.
Das ist in dem Gedankenspiel unmöglich.
Dann würde ich versuchen, das Beste aus
diesem Jahr zu machen, dafür zu sorgen,
dass die Welt bis zum letzten Tag funk-
tioniert, dass sich nicht alle gegenseitig
umbringen, dass nicht der Strom ausfällt,
dass alle weiter sauberes Wasser bekom-
men. Persönlich würde ich wahrscheinlich
mehr Rotwein trinken.
Sind Sie lieber dafür oder dagegen?
Dafür.
Welche politischen Überzeugungen
haben Sie über Bord geworfen?
Das ist superschwer zu sagen. Ich bin seit
über dreißig Jahren ein politischer
Mensch, ich habe mich natürlich enorm
verändert. Eine wichtige Erkenntnis aus
diesen Jahren ist vielleicht: Verantwortung
kann nicht geteilt werden. Es ist immer zu
100 Prozent deine. Es können noch ande-
re Menschen zuständig sein, aber die tra-
gen dann auch zu 100 Prozent die Verant-
wortung. Niemand ist zu 70 Prozent ver-
antwortlich.
Könnten Sie jemanden küssen,
der aus Ihrer Sicht falsch wählt?
Oh ja!
Haben Sie mal einen Freund oder eine
Freundin wegen Politik verloren? Und
wenn ja – vermissen Sie ihn oder sie?
Ich habe Freunde verloren, aber nie wegen
Politik.
Welches Gesetz haben Sie mal gebrochen?
Bei Rot über die Fußgängerampel gehen,
was in Dänemark eine wirklich schlimme
Sache ist.
Waren Sie in Ihrer Schulzeit beliebt
oder unbeliebt, und was haben Sie
daraus politisch gelernt?
Ich war weder noch, aber beliebt genug,
um in den Schülerrat gewählt zu werden.
Ich habe damals gelernt, dass man nicht
ständig versuchen sollte, beliebt zu sein,
weil es einem nicht immer das bringt, was
man will.
Welche politische Ansicht Ihrer Eltern
war Ihnen als Kind peinlich?
Keine. Als Pastoren in der Dänischen
Volkskirche waren sie sehr sichtbar in der
Gemeinde. Ich habe das nie hinterfragt
und nie gedacht, dass ihre Ansichten pein-
lich waren. Man kann sich allerdings nicht
verstecken, wenn man die Tochter des
Geistlichen ist.
Nennen Sie eine gute Beleidigung für
einen bestimmten politischen Gegner.
Ich versuche niemanden zu beleidigen, weil
es sinnlos ist. Ich reagiere selbst ziemlich
empfindlich, wenn man mich lächerlich
macht.
Welche Politikerin, welcher Politiker
hat Ihnen zuletzt leidgetan?
Keiner. Wenn wir Politiker in einer schwie-
rigen Lage sind, sind wir oft selbst daran
schuld.
Welche Politikerin, welcher Politiker
müsste Sie um Verzeihung bitten?
Niemand.
Welche Politikerin, welcher Politiker
sollte mehr zu sagen haben?
Jeder, der konstruktiv an Lösungen mit-
arbeiten will, sollte mehr zu sagen haben.
Egal, aus welcher Partei oder welchem
Land. Wir alle sind sehr fixiert auf Äu-
ßerlichkeiten. Wir sollten uns mehr da-
rauf konzentrieren, was Leute zu sagen
haben.
Welche politische Phrase möchten Sie
verbieten?
Das können Sie nicht fragen! Es herrscht
doch Meinungsfreiheit!
Okay, vielleicht nicht verbieten,
aber welche Phrase mögen Sie nicht?
Ich hasse Abkürzungen, zum Beispiel
GDPR, »General Data Protection Regu-
lation«. Für mich sind das einfach die di-
gitalen Rechte der Bürger. Die Tatsache,
dass wir unsere Daten besitzen, dass wir sie
einfordern können, dass wir sie löschen
und bewegen können. Das sind starke
Rechte. Wenn man darüber mit einer Ab-
kürzung aus vier Buchstaben spricht, ist
das so, als wolle man ein Geheimnis hüten.
Finden Sie es richtig, politische
Entscheidungen zu treffen, auch wenn
Sie wissen, dass die Mehrheit der Bürger
dagegen ist?
Ja, das ist legitim. Ich komme aus einer
kleinen Partei, und wenn wir an etwas
glauben und uns dafür einsetzen, dann
sind manchmal 51 Prozent der Menschen
oder mehr dagegen.
Was fehlt unserer Gesellschaft?
Die Bereitschaft, miteinander zu sprechen,
miteinander zu arbeiten, einander zu ver-
zeihen, zu akzeptieren, dass man komplett
unterschiedliche Ansichten hat.
Welches grundsätzliche Problem
kann Politik nie lösen?
Einen Mangel an Liebe.
Sind Sie Teil eines politischen Problems?
Jeder Politiker ist Teil eines politischen
Problems.
Nennen Sie ein politisches Buch,
das man gelesen haben muss.
Die Briefe von Nelson Mandela. Mandela
saß lange und ungerechtfertigt in Haft.
Trotzdem war er jemand, der zur Verge-
bung fähig war und sie anderen auch er-
möglichen wollte. Es ist fast unglaublich,
dass ausgerechnet er das konnte. Es gab
wenige Menschen wie ihn.
Bitte auf einer Skala von eins bis zehn:
Wie verrückt ist die Welt gerade?
Und wie verrückt sind Sie?
Die Welt ist verrückt, aber sie ist weniger
verrückt als noch vor zehn Jahren. Und ich
versuche mich, von Irrsinn fernzuhalten.
Manchmal denkt man, das ist ja total irre.
Und dann stellt man fest, es ist eigentlich
besser als vorher.
Und auf der Skala?
Ich bin gegen Skalen.
Der beste politische Witz?
Ich kann mir immer nur einen Witz mer-
ken, wenn ich einen neuen lerne, ist der alte
weg. Mein aktueller geht so: Was kommt
dabei heraus, wenn man ein Schwein mit
einer Giraffe kreuzt?
Ja?
Sehr viel Nackensteak.
Was sagt Ihnen dieses Bild?
(siehe oberes Foto links)
Was ist das?
NordStream-2-Rohre, die in Sassnitz in Meck-
lenburg-Vorpommern verladen werden.
Also sagen wir es mal so: Die NordStream-
2-Pipeline ist kein europäisches Projekt, es
gibt keine Notwendigkeit dafür. Schon bei
Nordstream 1 versuchten wir, den Nutzen
zu verbessern, indem wir die Verlängerung
an Land, die Opal-Leitung, für Gas von
anderen Anbietern öffneten. Dieses Bild
zeigt mir, was passiert, wenn man nicht
kooperiert, wenn man viele Ressourcen
verbraucht, die man besser woanders ein-
gesetzt hätte. Wir brauchen Gasinfrastruk-
tur in Europa. Gas dient als flexibler fossi-
ler Brennstoff und als Grundlast für er-
neuerbare Energien. Aber eine weitere
Pipeline neben NordStream 1 zu bauen
ergibt keinen Sinn.
Wovor haben Sie Angst – außer dem Tod?
Spinnen, ich hasse Spinnen!
Was macht Ihnen Hoffnung?
Ich kam neulich nach dem Urlaub in mei-
ne Brüsseler Wohnung. Da saß eine Rie-
senspinne in meiner Wohnung. Ich war
vollkommen allein zu Hause, was sollte ich
also tun? Ich nahm schließlich ein Glas
und setzte es auf die Spinne. Dann wurde
mir klar: Wenn ich sie jetzt töten würde,
dann hätte ich es mit dem Spinnenkörper
zu tun. Ich konnte niemanden anrufen,
weil keiner kommen würde, nur wegen
einer Spinne. Also nahm ich ein Stück Pa-
pier, schob es unter das Glas, trug die
Spinne auf den Balkon und warf sie von
dort herunter. Wenn ich das geschafft
habe, ganz allein, bei meiner Riesenangst
vor Spinnen, dann können wir ganz viel
erreichen, wir können die Welt verändern,
jeder von uns.
Die Fragen stellten Britta Stuff
und Michael Thumann
Könnten Sie
jemanden küssen,
der aus Ihrer Sicht
falsch wählt?
»Oh ja!«
Rohre der NordStream-2-
Pipeline, siehe Frage 28
Vestagers Lieblingstier:
der Elefant, siehe Frage 1
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DER POLITISCHE FRAGEBOGEN
»Jeder Politiker ist Teil
eines politischen Problems«
Wann hatten Sie das Gefühl, mächtig zu sein? Und welches Gesetz haben Sie mal gebrochen?
Ein Porträt in 30 Fragen. Diese Woche: Die neue EU-Kommissarin Margrethe Vestager
Illustration: Alex Solman für DIE ZEIT, Fotos (v.o.): Jens Büttner/dpa/pa; Getty Images
- SEPTEMBER 2019 DIE ZEIT No 38 POLITIK 7