Jerusalem/ Tel Aviv
Z
wei Wahlen in nur sechs Mona-
ten, das ist sogar für ein Land wie
Israel, das politische Dramatik ge-
wohnt ist, ein bisschen viel. Und
dann auch noch mit einem Pre-
mierminister, der in einer Doppel-
rolle auftritt: als polarisierender
Scharfmacher, der nach allen Seiten austeilt, und
als überparteilicher Staatsmann, der verspricht, die
Sicherheit der Bürger zu garantieren.
Israel wählt am 17. September zum zweiten
Mal in diesem Jahr. Die erste Wahl Anfang April
hatte Benjamin Netanjahu gewonnen, aber er war
daran gescheitert, eine Koalition zu bilden. Bruch-
punkt war die Frage, ob auch ultraorthodoxe
Männer ohne Ausnahme Militärdienst leisten
sollten. Netanjahu wollte die Religiösen schonen,
einer seiner anderen Koalitionspartner war damit
nicht einverstanden.
Und so befindet er sich abermals im Wahl-
kampf, und das aggressiver als je zuvor. Der macht-
bewusste Politiker will weiter regieren, mit wem
auch immer. Denn er hat auch einen höchst per-
sönlichen Grund, nicht von der Macht zu lassen:
Das Amt des Premiers zu verteidigen bedeutet für
ihn höchstwahrscheinlich Freiheit von Strafverfol-
gung, eine Niederlage dagegen würde eine Ankla-
ge wegen Korruption in mehreren Fällen wahr-
scheinlicher machen. Vielleicht droht Netanjahu
sogar Gefängnis – er wäre nicht der erste ehemalige
Premier des Landes hinter Gittern. Deshalb greift
er im Wahlkampf zu drastischen Mitteln: Mal
diffamiert er politische Gegner, mal die demokra-
tischen Institutionen des Landes, dann wieder die
freie Presse.
Das ist der eine, der getriebene Netanjahu. Der
andere empfiehlt sich in der Stunde der Gefahr als
erfahrener Staatsmann. Obwohl akut Gefahr von
vielen Seiten droht – aus dem Libanon und aus
Syrien fliegen regelmäßig Raketen und Drohnen
Richtung Israel –, erlebt das Land einen abwägen-
den Premier. So sehr er rhetorisch gegen Israels
Feinde austeilt, militärisch ist er ein Mann der
Vorsicht, der gemäßigten Antworten. So kämpfen
gerade zwei Netanjahus um die Gunst der Wähler.
Vor zwei Wochen erst flog die israelische Luft-
waffe erstmals seit dem Ende des Libanonkrieges
2006 mehrere Angriffe im nördlichen Nachbar-
land. Ziel waren Stellungen der vom Iran finan-
zierten Hisbollah-Miliz. Kurz zuvor gab die israe-
lische Armee bekannt, einen bevorstehenden An-
griff mit »Killer-Drohnen« von syrischem Boden
aus vereitelt zu haben. Die meisten Israelis erwar-
ten weitere Präventiv- und Vergeltungsschläge.
Doch Israel ist kriegs- und bedrohungserprobt, das
erklärt die weitverbreitete Gelassenheit – und eine
Besonderheit hiesiger Wahlkämpfe: Die Sicherheit
des Landes ist von jeher eines der wenigen The-
men, die nicht politisierbar sind.
Nicht einmal bei einer so wichtigen Wahl, die
womöglich über das Ende der Karriere eines der
raffiniertesten und erfolgreichsten Politiker des
Landes entscheidet.
Netanjahu zeigte sich nach der Libanon-Ope-
ration im Poloshirt nebst Generalstabschef auf ei-
ner »Sicherheitstour« im Norden des Landes. Ein
Zitat aus dem Talmud konnte er sich dann zwar
nicht verkneifen: »Wenn sich jemand erhebt, um
dich zu töten, töte ihn zuerst.« Und doch betonte
er stets den defensiven Charakter der Aktion: Es
habe sich um Selbstverteidigung gehandelt. Man
werde keine Aggression gegen Israel tolerieren.
Bei diesem zentralen Thema scheinen die meis-
ten Menschen einer Meinung zu sein, egal, wo sie
politisch stehen. Das kommt dem Amtsinhaber
zugute, solange er nicht zu breitbeinig auftritt.
»Bibi ist sehr smart, erfahren und versteht sehr
schnell. Die letzten Militäroperationen waren
richtig«, räumt auch der pensionierte General
Amiram Levin ein, der der linken Arbeiterpartei
nahesteht. Levin hat in fast allen Kriegen Israels
gekämpft, und er hat nur eine Kritik an Netanja-
hus Sicherheitspolitik: Er sollte nicht über die
Operationen sprechen, also damit angeben, »da-
mit die Gegenseite nicht das Gesicht verliert«.
Denn wer das Gesicht verliere, müsse beim nächs-
ten Mal härter zuschlagen. Netanjahu sollte besser
einen kurzen, überraschenden Präventivkrieg ge-
gen Hisbollah führen, um die Gefahr zu bannen:
»Je kürzer der Krieg, desto weniger Tote. Alles an-
dere ist Bullshit.« Leute, die Netanjahu hassten,
vor allem aus der Linken, würden sagen, er habe
Angst. »Aber das stimmt nicht. Er will einfach
keine Risiken eingehen.« Netanjahu gehe es nicht
bloß um innenpolitische Gewinne, er sehe im Iran
und seinen Verbündeten im Libanon, im Gaza-
streifen, in Syrien und im Irak wirklich die größte
Gefahr für Israel.
Kann man einen Premierminister schlagen,
dessen Sicherheitspolitik selbst von seinen politi-
schen Gegnern unterstützt wird?
Auf dem Mahane-Yehuda-Markt im Zentrum
von Jerusalem steht ein junger Mann etwas gelang-
weilt am Eingang seines Haushaltswarengeschäfts.
Auf die Frage, was für ihn derzeit politisch am
wichtigsten sei, sagt er: »Eine starke Armee und
der Kampf gegen Antisemitismus. Bibi ist der Bes-
te, ich bin sehr zufrieden mit ihm.« (Bibi – so wird
Netanjahu von seinen Anhängern genannt.) Und
wie geht es dem jungen Mann angesichts steigen-
der Preise und Steuern? Denn auch das gehört zu
Netanjahus Bilanz, die finanziellen Belastungen
sind für viele Israelis gestiegen. Sein Verdienst,
wehrt der 27-Jährige ab, reiche zum Überleben,
und die Regierung habe gerade Wichtigeres zu
tun, als sich um jemanden wie ihn zu kümmern.
Wichtiger sei ihm, dass er vor Hisbollah unter Bibi
keine Angst haben müsse. Und die im Gazastrei-
fen herrschende Hamas, fährt er fort: »Mit der
brauchen wir keinen Frieden, die sollte man aus-
löschen. Sie wollen uns unser Land wegnehmen.«
Ein paar Meter weiter betreibt ein Mittfünfziger
mit bunter Kippa und lauter, schon etwas heiserer
Stimme ein Geschäft für Gewürze und Trockenobst.
An der Wand hinter seinem Stand hängt ein Plakat
mit Netanjahus Porträt, daneben ein grüner Pan-
toffel als Wandschmuck, wie man ihn aus Marokko
kennt. Angesprochen auf die Wahl sagt er ironisch:
»Fragen Sie, fragen Sie, wir haben hier ständig Wah-
len!« Dann bekennt er ungefragt: »Bibi is the king!«
Netanjahu sei sogar noch besser als der erste Likud-
Premier Menachem Begin und Staatsgründer David
Ben Gurion. Beim Thema Sicherheit sei das Land
perfekt aufgestellt, ihn regt etwas anderes auf: »Die
Berichterstattung über die Korruption, das ist alles
Gehirnwäsche. Sie glauben, wir seien nur Schafe, die
nicht für sich selbst denken können. Damit erreichen
sie bei mir nur das Gegenteil, ich finde Bibi immer
besser.« Mit »wir« meint er die orientalischen Juden,
die traditionell die konservative Likud-Partei wählen,
dessen Vorsitzender Netanjahu ist (der selbst aller-
dings osteuropäische Vorfahren hat).
Nachdem er ein Bund Zimtstangen fein säu-
berlich in einer Plastiktüte verpackt und auf seinen
Tresen gelegt hat, sagt er: »Lasst ihn doch Cham-
pagner trinken!« Bei den Korruptionsvorwürfen,
die Netanjahu in diesem Wahlkampf begleiten,
geht es unter anderem darum, dass er und seine
Familie Geschenke wie Schmuck, Champagner
und Zigarren im Wert von umgerechnet 250.
Euro angenommen haben sollen. In einem ande-
ren Fall sollen der Premier und seine Frau versucht
haben, Medienkonzerne zu beeinflussen – positive
Berichterstattung für rechtliche Vergünstigungen.
Und dann ist da eben noch jener andere Netan-
jahu, der immer ungezügelter und aggressiver agiert.
Der der Justiz vorwirft, eine »Hexenjagd« gegen ihn
zu veranstalten. Der politische Gegner auf Instagram
als verrückt darstellen lässt, mit weit aufgerissenen
Augen, bereit, mit Linken und, noch schlimmer,
Arabern die Macht zu übernehmen. Der einen in-
vestigativen Journalisten angreift, namentlich nennt
und im Internet mit Foto zeigt, weil dieser über die
Korruptionsvorwürfe gegen den Premier berichtete.
Seitdem braucht der Journalist einen Bodyguard.
Einer TV-Produktionsfirma warf Netanjahu wegen
einer Serie, die er für unpatriotisch hielt, »einen
Terrorangriff« auf die Demokratie vor.
Zuletzt hatte Netanjahu versucht, ein Gesetz zu
verabschieden, das Kameras in Wahllokalen erlau-
ben sollte. Zwar wurde das Gesetz von der Knesset
abgeschmettert, aber wahrscheinlich hatte Netan-
jahu gar nicht geglaubt, dass es durchkommt. Es
ging wohl eher darum, den Eindruck zu erwecken,
dass Stimmen gestohlen werden könnten. Dass es
also auf jede Stimme für den Likud ankomme.
Mehr noch: Der Premier signalisierte damit eigent-
lich, man könne den zuständigen Behörden nicht
vertrauen, etwa der Wahlkommission.
Netanjahu, der seit mehr als zehn Jahren das
Land regiert, geriert sich immer noch als Under-
dog, den die »alten Eliten« in den Institutionen
loswerden wollten. Bei seinen Anhängern scheint
dies alles zu verfangen. Die Folge: Das Misstrau-
en gegen die demokratischen Institutionen, ge-
gen die Linken, gegen die Araber und gegen die
Presse wächst.
Wenn aber alle Vorwürfe gegen Netanjahu an
dessen Anhängern abprallen, wie kann die Oppo-
sition ihn dann überhaupt attackieren?
In Beer-Scheva am Rande der Negevwüste,
etwa 100 Kilometer südlich von Jerusalem, steht
Benny Gantz, Chef der Partei Blau-Weiß, in einer
Veranstaltungshalle und spricht ruhig, sehr ruhig
ins Mikrofon. Gantz gilt als einziger Herausforde-
rer, der Netanjahu schlagen könnte, auch wenn er
nicht wie ein Herausforderer klingt.
Gantz erklärt den Wählern, dass »sie« die Men-
schen vergessen hätten, dass »wir« alle Brüder seien,
gemeinsam auf dem Schlachtfeld gestanden hätten
und dass »alle« unter der Uniform gleich seien. Er war
einmal Generalstabschef der israelischen Streitkräfte.
Der Führer des Landes, doziert er, habe eine Vorbild-
funktion. Das ist dann auch schon der härteste An-
griff auf Netanjahu an diesem Abend.
Schließlich dürfen die Zuhörer, vielleicht 300
Leute, Fragen stellen. Viele fangen ihre Sätze an
mit: »Ich habe bislang Likud gewählt, aber dieses
Mal bekommt ihr meine Stimme.« Dann jedoch
folgt oft ein »Aber«. Einige wollen, dass Blau-Weiß
Netanjahu aggressiver angreift. Viele hier haben
Forderungen, die immer wieder von der Personalie
Netanjahu überschattet werden. Häufig kommt
der schlechte Zustand des Bildungssystems zur
Sprache. Eine junge Frau im Rollstuhl fordert Ar-
beit für Behinderte; eine Doktorandin klagt über
ihr mageres Gehalt. Eine aus Äthiopien eingewan-
derte Israelin erzählt, sie habe zehn Jahre in der
Armee auf den Golanhöhen gedient, und doch:
»Ich schäme mich nicht, das zu sagen, aber ich
habe Angst vor der Polizei.« Jeder hier weiß, wo-
von sie redet: Ein junger, unbewaffneter Äthiopier
wurde vor Kurzem von einem Polizisten erschos-
sen, es kam zu landesweiten Protesten.
Netanjahu hat in den vergangenen Jahren viel für
sein Land erreicht. Er hat die Wirtschaft angekurbelt,
Israel politisch weltweit vernetzt, neue Bündnisse ge-
schmiedet – und den Konflikt mit den Palästinensern
dabei planvoll an den Rand der Aufmerksamkeit
gerückt. Im Fall seiner Wiederwahl, stellte er am
Dienstag in Aussicht, werde er Teile des Westjordan-
landes annektieren: »Ein palästinensischer Staat
würde unsere Existenz gefährden, und ich habe in
den letzten acht Jahren enormem Druck widerstan-
den, wie kein anderer Premier. Wir müssen Herren
über unser eigenes Schicksal sein.«
Und doch ist er angreifbar geworden, nicht nur
wegen seiner persönlichen Affären. Immense Le-
benshaltungskosten machen es vielen jungen Is-
raelis schwer, eine eigene Wohnung zu finden und
das Erwachsenenleben zu beginnen. Und auch der
immer heftiger ausgetragene Kulturkampf zwi-
schen Säkularen und Religiösen ist ungelöst. Letz-
tere nehmen immer mehr Einfluss auf den Alltag.
Für große Aufregung sorgte kürzlich ein Konzert
in der Kleinstadt Afula bei Nazareth, bei dem
Männer und Frauen von den ultraorthodoxen Ver-
anstaltern getrennt wurden. Das Konzert war mit
öffentlichen Geldern finanziert worden, darum
ging der Streit über die Geschlechtertrennung auf
Staatskosten bis zum höchsten Gericht.
Netanjahu reagiert darauf, indem er seine bei-
den Rollen miteinander verknüpft. Der Mister Si-
cherheit, der nicht leichtfertig Soldaten in den
Krieg schickt, braucht den Kämpfer in eigener
Sache, der sich mit aller Kraft vor Angriffen im
Inneren schützt, um weiter dem Land dienen zu
können.
In den Umfragen liegen der Likud und Blau-
Weiß etwa gleichauf. Viele Beobachter erwarten
deshalb, dass der Wahlkampf in den letzten Tagen
vor der Abstimmung noch einmal richtig hässlich
werden könnte.
Und dass nach der Wahl, trotz aller Beteuerungen,
man werde nie zusammen regieren, Netanjahu und
Gantz doch miteinander sprechen werden. Für einen
ehemaligen Generalstabschef dürfte die Aussicht,
Verteidigungsminister seines Landes zu werden, at-
traktiv sein. Nicht ausgeschlossen also, dass Israel am
Ende eines extrem polarisierenden Wahlkampfs
dennoch eine Art große Koalition bekommt, eine
Regierung der »nationalen Einheit« im Angesicht der
prekären Sicherheitslage, in der Netanjahu und
Benny Gantz sich arrangieren könnten.
Auf Du und Du mit Donald Trump:
Ein Wahlkplakat in Tel Aviv wirbt für Amtsinhaber Benjamin Netanjahu
Foto: Oded Balilty/AP/Getty Images
Der doppelte Bibi
Im Wahlkampf wirkt der israelische Premier Benjamin Netanjahu
aggressiver denn je – und staatsmännisch wie nie VON ÖZLEM TOPÇU
6 POLITIK 12. SEPTEMBER 2019 DIE ZEIT No 38