Die Zeit - 12.09.2019

(singke) #1

ENTDECKEN


WER


S I N D


SIE


?


Ein Universum der Schuld


Unsere Kolumnistin stößt auf ein paar Zeitschriften voller
Geständnisse und plädiert auf Freispruch

Hier entdecken jede Woche im Wechsel: Francesco Giammarco, Alard von Kittlitz, Nina Pauer und Britta Stuff

E


ine Kollegin hat aus der
Sauna eine Zeitschrift mit-
gebracht, von der ich noch
nie zuvor gehört hatte. Das
Magazin heißt Meine Schuld
und kostet 2,20 Euro. 17,70 Euro
würde das Meine Schuld-Halbjahres-
abo kosten. Es gibt ein ganzes schuldi-
ges Universum im Handel, es umfasst
Hefte wie Mein Bekenntnis, Mein
Gewissen oder Ich gestehe. »Erlebnis-
presse« nennt sich das.
Ich hatte ja keine Ahnung, was in
der Welt so vor sich geht. Da ist zum
Beispiel Marie S. (29). Sie hat »die Nase
voll« von Freund Sven, verbringt den
Sommer auf einer Berghütte, weil sie
mal ihre Ruhe haben will. So weit ver-
ständlich. Dann begegnet sie bei einer
Wanderung Bergretter Markus: »Ich
zuckte vor Schreck zusammen und
drehte mich ruckartig rum, dabei verlor
ich den Halt und fiel geradewegs in die
Arme eines vor mir stehenden Mannes
in meinem Alter.« Marie S. ist jung,
aber ungeschickt, dauernd fällt oder
strauchelt sie. »Dann stolperten wir ge-
meinsam in die Hütte, zogen uns dabei
gegenseitig aus und liebten uns leiden-
schaftlich.« Happy End: »Nach dem
Ende des Sommers habe ich endgültig
meinen alten Job hingeschmissen und

bin zu Markus gezogen. Ich wollte ihn
nie wieder verlieren.«
Interessant auch der Lebensweg von
Sigrid H. (42): »Er hatte den bösen Blick,
deshalb musste sie sterben.« Sigrid traf
einen Mann, der den bösen Blick hat.
Das ahnte sie von Anfang an und hätte
vielleicht auch was sagen sollen, denn
nun ist seine Frau tot – Sigrids Schuld.
Meine Schuld hat auch Rezepte, zum
Beispiel Cordon bleu und sogenannte
Fotzelschnitten, offenbar ein schuldiger
Ausdruck für arme Ritter.
Seit der Lektüre habe ich das Ge-
fühl, diese Frauen fühlen sich viel zu
schnell schuldig. Rechtliche Schuld
kann ich nicht feststellen, möchte ich
Anna L. (36) zurufen, deren Geschichte
überschrieben ist mit: »Gebt mir doch
den Berggasthof«. Hatte ich erwähnt,
dass das Heft, das meine Kollegin ge-
funden hatte, ein Sonderheft Alpen­
sommer ist? Anna jedenfalls will den
Berggasthof der Eltern übernehmen,
was diese eher ihrem Bruder überlassen
wollten. Nun ist der leider früh ver-
storben, und Anna L. möchte gern
Wirtin werden. Den Richter will ich
sehen, der Sie dafür schuldig spricht,
liebe Anna.
Auch die moralische Schuld ist in den
meisten Fällen Ansichtssache, zum Bei-

spiel die von Marina P. (29), die gesteht:
»Statt Käse zu machen wurde ich Blog-
gerin.« In dieser Frage sollte sich Marina
ganz vom Schuldbegriff lösen und eher
den Freiheitsbegriff betonen: Gegen den
eigenen Willen Käse herstellen zu müs-
sen, obwohl man lieber bloggen will,
wäre Freiheitsberaubung.
Die meisten dieser Frauen sind wie
Ödipus, der auch ohne jede Schuld zur
tragischen Figur wurde. Ich würde Ihnen
die Geschichte gern in Gänze erzählen,
aber dafür bräuchte man längenmäßig
ein Themenheft von Meine Schuld. Ich
fasse sie darum nur kurz zusammen.
Ödipus: »Ich habe Probleme mit mei-
nem Vater.«
Ich verlange, dass dieses Heft zur
Ehrenrettung dieser Frauen umbenannt
wird in »Keine Schuld« oder zumindest
in »Nicht mit Absicht«. Wahrscheinlich
würde sich das schlechter verkaufen,
Schuld sells, man sieht’s an Goethe
(Faust: »Ich habe mich mit dem Teufel
eingelassen«), Dostojewski (Raskolni-
kow: »Ich habe gemordet – es hat mein
Leben ruiniert«) und der Bibel (Eva:
»Unser Urlaub im Paradies war ein ein-
ziger Albtraum«). Dass mich das alles so
aufregt, ist übrigens die Schuld meiner
Kollegin, die das Ding aus der Sauna
mitgebracht hat.

BRITTA STUFF ENTDECKT

Illustration: Oriana Fenwick für DIE ZEIT

Ich fühle mich als Frankfurter,
auch wenn meine Wurzeln in der
Türkei liegen, am Schwarzen
Meer. 1977 wollte ich hier nur
kurz einen Cousin besuchen.
Doch dabei lernte ich meine
Frau kennen. Sie stand in einem
Copyshop, liebenswürdiges
Gesicht, und zeigte mir, wie man
den Kopierer einstellt. Ich lud sie
auf einen Kaffee ein. Mein Vater
sagte immer: Ich werde dir eine
Frau aus der Osttürkei suchen, mit
schönen dunklen Haaren. Meine
Mutter wollte eine Deutsche. Ich
verliebte mich in eine Deutsche
mit schönen dunklen Haaren.
Weniger schön war die Trauung.
Der Standesbeamte fragte meine
Frau, ob sie sicher sei, dass ich sie
aus Liebe heirate. Heute haben wir
zwei Kinder. Ich kann Deutsch,
meine Frau hat Türkisch gelernt.


Nazim A lemda r, 61, betreibt die
beiden »Yok-Yok«-K ioske in
Frankfurt, die Kunst ausstellen


Kiên Hoàng Lê porträtiert hier im
Wechsel mit anderen Fotografen
Menschen, die ihm im Alltag
begegnen. Protokoll: Cosima Schmitt


ANZEIGE



  1. SEPTEMBER 2019 DIE ZEIT No 38


Fotos: Lindsay Mills, Gianmarco Bresadola

Stellen Sie Ihre Fragen an


Edward Snowden


Der Whistleblower spricht per Video-Liveübertragung aus Russland mit Holger Stark, Ressortleiter Investigativ,
und beantwortet Fragen des Publikums. Er erzählt von seiner Geschichte und seinem Buch »Permanent Record«, das einen der
wichtigsten Konflikte unserer Zeit widerspiegelt: Was akzeptieren wir – und wo müssen wir anfangen, Widerstand zu leisten?
Jetzt kostenlos anmelden:

http://www.freunde.zeit.de


Aktuelle


Veranstaltungen


12.–25. September | 14 Städte wenige Restkarten
SYSTEMSPRENGER – Kinotour mit
Filmgespräch


  1. September | Hamburg
    ZEIT CAMPUS Festival
    Ein Clubabend mit den CAMPUS-Lieblingsbands
    Chefboss, BLOND und Milliarden am Vorabend des
    Reeperbahnfestivals im Mojo auf dem Kiez. In Partner-
    schaft mit Levi’s®.

  2. September | Berlin
    Remo Largo im Gespräch
    Im Rahmen des ZEIT-Ideengipfels laden wir Sie zu einem
    Live-Interview mit einem der bekanntesten Erziehungs-
    forscher der Welt ein, dem Schweizer Remo Largo.

  3. September | Hannover ausgebucht
    Investigativer Journalismus:
    Im Zweifel für den Scoop?

  4. September | Hamburg
    UNLOCK Music by ZEITmagazin

  5. Oktober | München
    Das ZEIT-Leserparlament mit
    Giovanni di Lorenzo
    Was bewegt Sie? Welche Geschichten lesen Sie gerne?
    Und was hat die Redaktion vor? Debattieren Sie mit uns
    beim Leserparlament, was eine gute ZEIT ist, und stellen
    Sie Chefredakteur Giovanni di Lorenzo Ihre Fragen.


Für alle
ZEIT-Abonnenten
Werden Sie Freund der ZEIT, und profitieren
Sie von exklusiven Vorteilen – egal ob als
Probe-, Print- oder Digitalabonnent.
Treffen Sie unsere Redakteure, und
erleben Sie den Journalismus
Ihrer Zeitung ganz neu.


  1. September | Berlin


Berlin
Schaubühne
Die Schaubühne unter der künstlerischen Leitung
von Thomas Ostermeier gehört zu den bekanntesten
Theatern Deutschlands. Im Fokus der Inszenierungen
stehen das Erzählen von Geschichten – klassische wie
zeitgenössische – und das Ensemble, zu dem auch Film-
stars wie Lars Eidinger, Jörg Hartmann, Ursina Lardi und
Mark Waschke gehören.
20 % Ermäßigung auf Karten
in den 14 Tagen vor der Veranstaltung

ZEIT Kulturkarte:


Empfehlung der Woche


107384_ANZ_10738400019383_23932517_X4_ONP26 1 05.09.19 18:49
Free download pdf