Die Zeit - 12.09.2019

(singke) #1

ENTDECKEN


einer fairen Yogabekleidungsmarke. 1400
Euro kostet ein Post auf ihrem Profil.
Es ist schwer zu ergründen, wer sich
zuerst geändert hat: Alizadeh oder die
Welt, in der sie lebt. Fest steht: Sie profi-
tiert enorm vom Wertewandel. Und der
läuft rasant: »Du machst ein Fass auf,
dann ist da schon das nächste. Bei mir
war’s die Mode, aber plötzlich sieht man,
was alles falsch läuft: Rassismus, Sexismus,
Klimawandel.«
Warum dann die Bikini-Bilder dazwi-
schen?
»Es passt nicht zu mir, nur noch noble
Themen anzusprechen. Ich bin ein lebens-
froher Mensch. Man kann doch radikal und
weich sein, hart und menschlich.«
Die Erzählung in ihrer Biografie – eine
Wandlung von der Sünderin zur Geläu-
terten – macht sie authentisch, und Au-
thentizität ist es, was Alizadeh letztlich ver-
kauft. Hart und menschlich. Dass sie unter
ihre weichgezeichneten Bilder immer öfter
politische Botschaften mischt, stört ihre
Follower nicht – im Gegenteil: Sie wollen
so sein wie sie.
Unter Millennials und ihren Nachfol-
gern ist der Verzicht – kein Fleisch, keine
Fast Fashion, kein Flug – zum Distinktions-
merkmal, zum Statussymbol geworden.
Wer jung ist, in der Großstadt lebt und dem
Bildungsbürgertum entstammt, geht eher
selten saufen und Party machen, nimmt
lieber keine Drogen auf Bali oder brettert
mit 200 Sachen über die Autobahn. Wenn
die Jungen etwas feiern, dann die Vernunft.
Es gibt sogar ein eigenes Adjektiv für diese
Lebenshaltung: »woke«.
Übersetzt bedeutet es etwa: wach sein im
Kopf, Missstände bemerken. Wer woke ist,
positioniert sich gegen Rassismus, Sexis-
mus, Homophobie, Klimawandel und
Body Shaming. Wer im deutschsprachigen
Raum woke ist, der folgt ziemlich sicher
@dariadaria bei Instagram.
Die fährt ein Klapprad, weil sie das in
den Zug mitnehmen kann, und immer mit
Helm. Sie empfiehlt Apps, mit denen man
den Wuchs der Kresse im Blick behalten
kann. Manchmal wirkt sie, trotz ihrer 30
Jahre, wie eine beige gekleidete Rentnerin.
Ihre Follower sind zu 85 Prozent Frauen,
die Hälfte aus Deutschland, kaum jemand
älter als 34 Jahre. Die entsprechenden Zah-
len zeigt sie auf einer App. Menschen, die
am Existenzminimum kratzen, folgen ihr
eher nicht.
Fragt man ihre Follower, schreiben die
über sie: »Diesen Mix aus hip auf der einen
und Reichweite nutzen für soziale Themen
auf der anderen Seite find ich ziemlich
cool.« – »Sie inspiriert mich, ein besserer
Mensch zu sein.« – »In dem ganzen Insta-
gram-Dschungel steht sie noch für ein biss-
chen Authentizität.«
Dabei ist das mit der Authentizität so
eine Sache. Authentisch wäre auch: dass
sie spätabends manchmal Taxi fährt.
Dass sie hin und wieder fliegt, im Okto-
ber zum Beispiel nach Portugal, um eine
Fabrik zu besuchen, die ihre Kleidung
herstellt. Das Auto, das sie mit ihrer
Mutter teilt. Das Tanken bei Shell. Wür-
de sie nie posten, klar.


Die Marke @dariadaria hat sich längst
verselbstständigt. Der Mensch Madeleine
Alizadeh läuft ihr nun hinterher.
Wenn jemand sie auf dieses Dilemma
anspricht, sagt sie: »Der verliert sich im
small picture.« Einer ihrer Lieblingsaus-
drücke. Als ich sie frage, ob sie es eigentlich
falsch finde, dass ich zu unserem Treffen in
Wien geflogen bin, antwortet sie: »Im small
picture ist das blöd.« Im bigger picture könne
man sagen, dass ich mit diesem Text helfe,
ihre Message in die Welt zu tragen. »Mir
sind 100 Klimaaktivisten in einem Flugzeug
lieber als 100 Consultants.«
Manche stören sich an dieser morali-
schen Haltung. Eine Followerin schreibt:
»Ich muss zugeben, dass ich ihr schon mal
entfolgt bin. Sie ist ein bisschen der erhobe-
ne Zeigefinger in den sozialen Netzwerken.«
Neulich zum Beispiel, da erhob sie den
Zeigefinger Richtung Lidl. Der Discounter
hatte eine Werbung bei Facebook gepostet,
die einen Donut neben einem Bagel zeigte,
dazu der Satz: »Loch ist Loch.« Alizadeh
fand das sexistisch – und rief ihre Follower
dazu auf, Lidl die Meinung zu geigen.
Da geriet die Sache etwas außer Kon-
trolle. Tausende schimpften im Netz,
schickten Nachrichten und schworen, nie
wieder bei Lidl einzukaufen. Andere In-
fluencer stiegen mit ein, nach drei Stunden
löschte der Konzern die Werbung und ent-
schuldigte sich.
»Mir kam es vor, als würde ich eine
Armee dirigieren«, sagt Alizadeh. Sie
grinst dabei.
Geboren wird Madeleine Alizadeh in
Wien, 1989. Ihre Mutter arbeitet im Parla-
ment als Sekretärin bei der SPÖ, ihr Vater,
ein Iraner, ist Menschenrechtsaktivist. Als
Madeleine ein Jahr alt ist, trennt sich die
Mutter von ihm und ist von nun an ständig
in Sorge, dass das Geld nicht reicht. Ein
Auto hat sie nicht, sie verreist mit den Kin-
dern im Zug. »Ich war Öko aus Zwang«,
erzählt die Mutter am Telefon.
In der Grundschule soll Madeleine an
einem Fotoshooting der Stadt Wien teil-
nehmen, zusammen mit einer blonden
Lisa. Als der Kalender erscheint, steht da-
runter: »Die Stadt Wien kümmert sich um
ihre Migranten.« Von da an nennt sich
Madeleine lieber Sophie, weil ihr Made-
leine zu exotisch klingt. »Ich wollte blond
sein«, sagt sie.
Die Mutter lernt einen Mann kennen –
»wenn es einen Vater für mich gab, dann
ihn«, sagt Alizadeh. Die zwei gehen Leber-
käse-Semmeln essen. Er erklärt ihr die Welt.
Mit 15 meldet sich Alizadeh auch seinet-
wegen bei einer kommunistischen Diskussi-
onsgruppe an. Das Ganze endet tragisch, als
die Beziehung zur Mutter zerbricht.
Die Mutter erzählt von einem Mäd-
chen, das »immer eine Bühne brauchte«
und gut auf sich selbst aufpassen konnte.
Oft war sie mit ihrem älteren Bruder allein
zu Hause, weil die Mutter arbeiten war. Bis
heute brauche sie kaum Rat, regle ihre
Dinge selbst.
Das nächste Treffen mit Alizadeh, im
August in Hamburg. Alizadeh ist mit dem
Nachtzug gekommen. Gerade hat sie das
Fotoshooting für die Brigitte hinter sich ge-

Nach dem


Besuch auf dem


Schlachthof


postet sie ein


Selfie mit


Trä nen


bracht. Redakteurinnen, Praktikantinnen,
eine Fotografin sind um sie herumgesprun-
gen, ständig puderte sie eine Visagistin ab,
eine andere hielt ihr den Föhn ins Gesicht
und brachte die Haare zum Flattern.
Nun sitzt sie in einem Burrito-Laden.
Sie sieht müder aus als nach der Schlacht-
hofnacht. Im Wiener Dialekt bestellt sie
einen Eistee, dann fällt ihr mein Hemd
auf. »Billigteil«, sagt sie. »Nähte aus Poly-
ester, Knöpfe und Etiketten aus Plastik,
das Teil müsste man in den Restmüll tun.«
Sie zieht einen Body aus ihrer Tasche.
»Den dagegen könntest du auf den Kom-
post schmeißen.« Er ist aus ihrer Kollekti-
on und kostet 59 Euro.
»Wenn mein Unternehmen so weiter-
wächst wie jetzt, könnte es in ein paar Jah-
ren Riesenmaßstäbe setzen, wie in Europa
Mode gemacht wird.« Im vergangenen Jahr
habe sie einen Umsatz von 170.000 Euro
erzielt, mit einem Gewinn von 10 bis 15
Prozent. Das ist nicht exorbitant viel. Aller-
dings kommen hinzu: der Vorschuss fürs
Buch, das Geld von Spotify, Kooperationen
mit Firmen im Wert von weiteren knapp
100.000 Euro.
Feste Mitarbeiter hat Alizadeh nicht.
Die Ideen für die Entwürfe kommen von
ihr, ein Schnittzeichner setzt sie um, in Por-
tugal beschäftigt sie eine Agentur, die die
Produktion im Auge behält.
Hatte sie eigentlich schon mal ein
schlechtes Gewissen deswegen: Die Welt
brennt, und sie verdient Geld daran?
»Konservative Männer werden so was
nicht gefragt«, sagt sie. »Ich verdiene mit
etwas Gutem Geld, nicht mit etwas Schlech-
tem. Darauf bin ich eher stolz.«
Eine, die findet, dass Alizadeh zu oft ver-
gesse, wie viel Geld sie verdient, ist die Jour-
nalistin Nicole Schöndorfer, ebenfalls aus
Wien. Während Alizadeh ein eher links-
liberales Publikum anspricht, denkt Schön-
dorfer radikaler. Alizadehs Welt ist Insta-
gram, Schöndorfers Welt ist Twitter.
Während Alizadeh die Billigklamotten-
kette Primark verabscheut, argumentiert
Schöndorfer, dass Alizadeh den Klassen-
aspekt völlig außer Acht lasse. »Die meisten
Menschen können sich fair produzierte
Kleidung nicht leisten«, schreibt sie in einer
Mail. »Dabei kann Kleidung von Primark
helfen, bestehende Klassenunterschiede
optisch zu nivellieren. Weil sie zeitgemäß
und günstig ist.«
Gleich beim ersten Treffen hatte Aliza-
deh darum gebeten, den Konflikt mit
Schöndorfer nicht zu thematisieren. Sie be-
fürchte, ihre Follower könnten sich auf
Schöndorfer stürzen. Vielleicht wollte sie
aber auch nicht, dass hier steht, was Schön-
dorfer denkt.
Die Kritik trifft sie. Weil sie einen der
heftigsten Vorwürfe enthält, die man je-
mandem im linksliberalen Spektrum
heute machen kann: You didn’t check your
privileges! Was weißt du vom Existenz-
kampf? Dabei weiß Alizadeh ja sehr wohl
etwas darüber. Auch Geringverdiener
könnten secondhand kaufen, findet sie –
wie ihre Mutter damals.
»Die Feministinnen, die mich kritisie-
ren«, sagt sie, »geben vor, für die Gering-

verdiener in deutschen und österreichi-
schen Primarks zu kämpfen. Warum den-
ken die nie an die Frauen in Bangladesch,
die das Zeug nähen? Warum endet die So-
lidarität da?«
Ihre politische Transformation setzt Ali-
zadeh weiter fort. Immer häufiger postet sie
Fotokacheln mit politischen Botschaften.
»Jeder Flug, den ich mache, verkürzt das
Leben eines anderen Menschen.«
Und dann, plötzlich, steht sie auf einer
Bühne. Die Grünen hatten sie eingeladen.
In einem Facebook-Video kann man sich
den Auftritt ansehen. Unten im Saal sitzen
Hunderte Menschen und schauen Made-
leine Alizadeh an. Sie trägt ein weißes
T-Shirt mit der Aufschrift: »we not me«.
Sie spricht über die Klimaziele, über
Solidarität und Gerechtigkeit. »Wir Jun-
gen wollen eine Politik, mit der wir uns
identifizieren können«, sagt Alizadeh ins
Mikrofon. Sie sei von den Grünen ja oft
gebeten worden, ihre Partei zu unterstüt-
zen, nun sei es an der Zeit, sich zu beken-
nen. »Ich kann mobilisieren, so viel ich
will, on- und offline, aber Gesetze werden
am Ende im Parlament gemacht.« Sie gebe
hiermit bekannt, dass sie bei der österrei-
chischen Nationalratswahl im September
kandidieren wolle.
Eine Influencerin im Nationalrat?
Die Grünen springen auf, sie klatschen,
stampfen, johlen – und wählen sie mit 87
Prozent der Stimmen auf ihre Bundesliste.
Sigi Maurer, eine der bekanntesten
Vertreterinnen ihrer Partei, sagt am Tele-
fon: »Wenn es Bedenken gegeben hat, ob
eine Influencerin geeignet sei, dann hat
Alizadeh die mit ihrer fulminanten Rede
weggewischt.«
Aber Alizadeh steht nun vor einem Di-
lemma. Sie muss sich entscheiden, was sie
sein möchte: Influencerin oder Politikerin.
Sie sagt, dass ihre Kandidatur solidarisch
gemeint sei. Für eine Karriere als Politikerin
sei es noch etwas zu früh.
Sie steht auf dem letzten Listenplatz.
Das österreichische Wahlsystem sieht
aber Vorzugsstimmen vor. Schreiben ge-
nug Wähler ihren Namen auf den Wahl-
zettel, würde sie vorrücken und zum Zug
kommen.
Sagt sie dann zu, müsste sie das Modela-
bel aufgeben, jetzt, wo es gerade Maßstäbe
zu setzen beginnt.
Ein politisches Vorbild sei Alexandria
Ocasio-Cortez, sagt Alizadeh, die junge US-
Demokratin, die einen neuen Politikstil ge-
prägt hat. Aus Kongressanhörungen bastelt
sie Social-Media-taugliche Videoschnipsel.
Ihre Fans vergöttern sie.
Für Alizadeh würde Politik machen auch
bedeuten: ernst machen. Raus aus der Blase
der loyalen Followerschaft, Kompromisse
finden, Ideen für eine bessere Welt zerschel-
len sehen am Willen des Gegners. Politik
wäre der Lackmustest.
Dabei haben Politiker und Influencer
durchaus einiges gemeinsam: Beide senden
Botschaften. Beide können Menschen be-
einflussen und hinter sich versammeln.
Hinter Madeleine Alizadeh steht ihre
Armee. Einige dürfen in diesem Jahr zum
ersten Mal wählen.

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  1. SEPTEMBER 2019 DIE ZEIT No 38 77


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