Die Zeit - 12.09.2019

(singke) #1
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  1. September 2019 DIE ZEIT No 38


Was hilft gegen


den Hass?


Eine härtere Justiz


ls Kim m. erfuhr, dass eine Flüchtlingsfami-
lie in eine leer stehende Wohnung in seiner
Nachbarschaft einziehen sollte, schlug er
dort ein Fenster ein, kippte Farbverdünner
in die Wohnung und warf brennende
Streichhölzer hinterher. Die polizei konnte
Kim m. aufgrund von DNA-Spuren an
Streichhölzern und Farbkanister ausfindig
machen. Ins Gefängnis kam er für seine
Hass-tat trotzdem nicht. ein richter in Lü-
beck setzte seine kurze Strafe auf bewährung
aus. Selbst seine Stelle als Finanzbeamter in
Hamburg durfte er behalten.
ein anderer Fall: Obwohl er zu diesem
Zeitpunkt schon volljährig war, besuchte
Abdul D. die achte Klasse in einer Schule
im rheinland-pfälzischen Kandel. Nach ein
paar monaten kam der Flüchtling aus Af-
ghanistan mit der 15-jährigen mia V. zu-
sammen. Als mia mit ihm Schluss machte,
stellte er ihr nach. ein paar tage nach Weih-
nachten tötete er sie mitten in der Stadt mit
einem brotmesser. Die polizei fasste ihn
noch am selben tag. Doch die Strafe für
seine bluttat fiel erstaunlich milde aus: Da
nicht ausgeschlossen werden konnte, dass er
zur tatzeit noch 20 Jahre alt war, verurteilte
ihn das Landgericht Landau nach Jugend-
strafrecht zu gerade mal achteinhalb Jahren
Gefängnis. In etwa fünf Jahren könnte Ab-
dul D. schon wieder frei sein.
erst vergangene Woche kam heraus: Allein
im ersten Halbjahr 2019 wurden in Deutsch-
land 609 Straftaten gegen Flüchtlinge und
Asylbewerber verübt – von beleidigung und
Volksverhetzung bis hin zu brandstiftung und
gefährlicher Körperverletzung. Hinzu kamen
60 Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte sowie
42 Attacken gegen Hilfsorganisationen oder
ehrenamtliche Helfer, wie aus einer Anfrage
der Linkspartei im bundestag hervorgeht.
Und die Konsequenzen? Sie sind für die täter
oft läppisch.
Selbst bei Delikten, die geeignet sind,
menschengruppen gegeneinander aufzuwie-
geln, herrscht in Deutschland eine Kultur
von Strafmilde. menschen wie Kim m. oder
Abdul D. kommt das zugute. Die Gesell-
schaft als Ganzes aber gerät in eine Schiefla-
ge, wenn bürger den begründeten eindruck
haben, die Justiz sei zu nachsichtig. Sie füh-
len sich dann nicht mehr sicher miteinander.
Für das Zusammenleben hat es viel schwer-
wiegendere Folgen, wenn jemand eine Woh-
nung anzündet, um den einzug von Flücht-
lingen zu verhindern, als wenn jemand eine
Wohnung anzündet, um bei der Versiche-
rung eine prämie abzukassieren. Deshalb
müssen täter, die den inneren Frieden be-
drohen, stärker als bisher bestraft werden.
Die deutsche tradition
der Strafmilde unterscheidet
das Land von den meisten
Demokratien in Asien, Ost-
europa, Lateinamerika und
im angelsächsischen Sprach-
raum. So werden Vergewalti-
ger in Deutschland im
Durchschnitt zu etwa drei
Jahren Gefängnis verurteilt,
von denen sie wiederum nur
einen teil absitzen.
In Großbritannien dage-
gen beträgt die durchschnitt-
liche Gefängnisstrafe für Ver-
gewaltigung acht Jahre. Auch
die relative Anzahl der Insas-
sen unterscheidet sich stark.
So befinden sich in Deutsch-
land etwa 75 von 100.
menschen im Gefängnis. In
Italien sind es dagegen 98, in
Frankreich 104, in brasilien
324, und in den USA gar


  1. Wie der amerikanische
    rechtswissenschaftler James
    Q. Whitman schreibt, »ist
    der Kontrast zwischen der
    praxis im kontinentalen
    Westeuropa und den USA
    eklatant«.


Die deutsche milde hat Vorzüge. Insbe-
sondere den erschreckenden Verhältnissen
in den Vereinigten Staaten, wo mittlerweile
fast zwei millionen menschen im Gefäng-
nis sitzen, sollte niemand nacheifern wol-
len. Aber hierzulande fallen wir oft ins an-
dere extrem. Und so wie exzessive Härte
birgt auch exzessive milde ernste Gefahren.
Gerade eine multiethnische Gesellschaft
kann langfristig nur funktionieren, wenn
der Staat die einhaltung ihrer grundlegen-
den regeln des sozialen mit ein an ders
durchsetzt.
menschen aus aller Welt leben in
Deutschland zumeist friedlich bei- und
miteinander. Selbst die riesige Anzahl an
Flüchtlingen, die um 2015 ins Land ka-
men, hat trotz aller Schwarzmalerei weder
eine terrorwelle noch bürgerkriegsähnliche
Verhältnisse hervorgebracht. Das ist eine
Leistung, auf die Deutschland durchaus
stolz sein darf.
Aber in den vergangenen Jahren haben
wir auch immer wieder erleben müssen,
dass eine multiethnische Gesellschaft für
Angst, einschüchterung und meinungs-
mache besonders anfällig ist. Wenn es An-
schläge auf Flüchtlingsheime gibt oder
eine Gruppe betrunkener andere men-
schen wegen ihrer Hautfarbe durch die
Straßen hetzt, hat das nicht nur Folgen für
die unmittelbaren Opfer. Jeder, der sicht-
bar einer ethnischen oder religiösen min-
derheit angehört, fürchtet dann um die
eigene Sicherheit. In der Folge erodiert ein
fundamentales Versprechen des Staates: das
mögliche und Angemessene zu tun, um
alle hier lebenden menschen zu schützen.
Auch Straftaten, die nicht politisch mo-
tiviert sind, bergen in einer einwanderungs-
gesellschaft das potenzial, dieses Grundver-
trauen schwinden zu lassen. begeht ein
Flüchtling oder einwanderer einen mord
oder eine Vergewaltigung, dann schüren
meinungsmacher im Internet Hass auf alle
»Ausländer«. So kann eine Hassspirale in
Gang gesetzt werden. Diese Gefahr besteht
umso mehr, je stärker die mehrheit der be-
völkerung das Strafmaß, das auf solche ta-
ten folgt, als unzureichend empfindet.
richter in Deutschland haben unter an-
derem die Aufgabe, für respekt gegenüber
der freiheitlich-demokratischen Grundord-
nung zu sorgen. Deshalb müssen sie sich
darauf besinnen, dass neben der Vorbeu-
gung von Straftaten auch die Sühne für
Verbrechen, die das Zutrauen in eine multi-
ethnische Gesellschaft besonders schwer
stören, bei der Strafzumessung eine wichti-
gere rolle spielen sollte. Denn es geht bei
der Straffindung nicht nur
darum, einen täter von
weiteren Delikten abzuhal-
ten – sondern eben auch
darum, den menschen im
Lande die Gewissheit zu
vermitteln, dass der Staat all
jene, die sich den Grund-
regeln unserer Gesellschaft
verweigern, bestrafen wird.
Das geht nur, indem die
Justiz ein klares Signal an
potenzielle Straftäter sen-
det: Wer ein Verbrechen
aus der Verachtung für den
Gleichheitsgedanken heraus
verübt, versündigt sich nicht
nur am Opfer, sondern
auch am inneren Frieden
im Land. Deshalb hat er
mit entsprechender Härte
zu rechnen.
Wenn die Justiz diese
Aufgabe aufgrund der be-
stehenden rechtslage –
oder einer über lange Jahr-
zehnte entstandenen Kul-
tur der Strafmilde – nicht
erfüllt, dann liegt es am
Gesetzgeber, Abhilfe zu
schaffen. Der erste Schritt

sollte dann darin bestehen, Verbrechen, de-
nen extremistische motive zugrunde liegen,
mit größeren Strafrahmen zu versehen. Ge-
rade der Zuwachs an fremdenfeindlichen
Angriffen auf Flüchtlinge zeigt ja, wie drin-
gend hier der Handlungsbedarf ist.
Selbst bei gewalttätigen Verbrechen, die
zwar keine politischen motive haben, aber
viel stärker als andere Kriminaldelikte geeig-
net sind, menschengruppen gegeneinander
aufzuwiegeln, sollte der bundestag auf Straf-
längen bestehen, die mit dem Gerechtig-
keitsempfinden weiter teile der bevölkerung
im einklang stehen. Denn damit würde der
Staat nicht nur Neuankömmlingen signa-
lisieren, dass er die Grundregeln unseres

Zusammenlebens dezidiert durchsetzen
wird. er würde – was mindestens ebenso
wichtig ist – auch der Gefahr vorbeugen,
dass extremisten unter Verweis auf die Un-
tätigkeit der behörden das Heft selbst in die
Hand nehmen.
es ist selbstverständlich wichtig, diese
Veränderungen besonnen in Angriff zu neh-
men. politiker dürfen sich auch weiterhin
nicht in laufende Verfahren einmischen. Das
Strafmaß für eine Vergewaltigung oder einen
mord darf nicht von der Hautfarbe oder der
Staatsbürgerschaft des täters abhängen. Und
obwohl höhere Strafen zwangsläufig zu mehr
Gefängnisinsassen führen würden, sollten
wir uns an Demokratien mit einem etwas

weniger milden Strafsystem orientieren, wie
Frankreich oder Italien, anstatt an solchen
mit einem viel rabiateren Strafsystem wie
dem in den Vereinigten Staaten.
Diese Forderungen sind kein Angriff auf
den rechtsstaat. Vielmehr entstammen sie
der riesigen bedeutung, die gerade eine Ge-
sellschaft, in der menschen mit sehr verschie-
denen Sitten und Werten täglich aufeinan-
dertreffen, einem effektiven Justizsystem zu-
messen sollte. Denn nur ein rechtsstaat, der
von allen respektiert wird, kann die basis für
ein friedliches miteinander schaffen.

Yascha Mounk,
1982 in münchen geboren,
lehrte politik in Harvard
und ist heute an der John
Hopkins in Washington.
2015 trat er aus der SpD aus,
weil deren Asyl- und euro-
politik das Versprechen
breche, »für die Interessen
von menschen zu kämpfen,
unabhängig davon, ob sie
Deutsche sind oder etwa
Syrer, Ukrainer oder Grie-
chen«. 2018 erschien von
ihm »Der Zerfall der Demo-
kratie: Wie der populismus
den rechtsstaat bedroht«

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Deutschlands einwanderungsgesellschaft kann


nur funktionieren, wenn richter Vertrauen in


deren regeln herstellen VON YASCHA MOUNK


Illustration: Karsten Petrat für DIE ZEIT; kl. Foto [M]: V. Muller/Opale/Leemage/ddp

STREIT 9


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