GEO - 09.2019

(Nancy Kaufman) #1

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beugt, wird staunen, wie dicht die Ähren
mittlerweile stehen. Um immer höhere
Erträge auf ein und derselben Fläche
zu erzielen, bringen Bauern fastjedes
Jahr mehr Insektizide, Fungizide, Her­
bizide und Dünger aus. Ihre Maschinen
wachsen, um effektiver säen, mähen,
dreschen und ernten zu können. Die
Mähdrescher, die im Herbst den Mais
einholen, sind breiter als die Landstra­
ßen in meiner Gegend.
Es gibt einen messbaren Zusammen­
hang zwischen der Steigerung des Er­
trags und dem Verlust von Biodiversi­
tät. Die Faustregel lautet: Verdoppelt
sich die Ausbeute, halbiert sich die Zahl
der Arten. Die Natur zahlt also einen
Preis dafür, dass Bauern hohe Ernten
einfahren.
Was aberwäre der Preis, wenn sie es
in der Mehrheit nicht täten? Und wer
müsste ihn zahlen?

V

0 R E I NI G ER Z EI T war ich
in Berlin zu einem Parlamen­
tarischen Abend eingeladen,
Thema: Insektensterben. Auf
dem Podium diskutierten Experten. Es
dauerte nicht lange, bis die Runde den
Bogen von den verschwundenen Insek­
ten zu den spritzenden Bauern geschla­
gen hatte. Bald fiel der Begriff Agrar­
wende. Gemeint: eine Transformation
des gesamten Landbaus zu einem Wirt­
schaften wie in Brodowin.
Beim anschließenden Stehempfang
kam ich mit einem jungen Mann ins
Gespräch. Er vertritt die Interessen der
Agrochemiehersteller. Das Wort, das
der Referent am häufigsten gebrauch­
te, lautete: Ertragslücke.
Ertragslücke bezeichnet den Unter­
schied zwischen dem, was aus einem
Boden rauszuholen ist, wenn ein Bauer
alle Register zieht, und der tatsächli­
chen Ausbeute. Der Ertrag liegt bei Bio
tendenziell niedriger als im konventio­
nellen Landbau, wobei die Werte von
Kultur zu Kultur und von Standort zu
Standort variieren.
Wir in Deutschland, sagte der Refe­
rent, seien mit unseren fruchtbaren
Böden und dem gemäßigten Klima ver­
pflichtet, einen größtmöglichen Bei­
trag zur Welternährung zu leisten! Und

ob ich wüsste, dass Biolandbau im End­
effekt der Natur nicht nütze, sondern
schade? Nach der Veranstaltung, wir
hatten Visitenkarten getauscht, schick­
te der Referent eine Mail. Im Anhang
eine Studie, die seine Aussage wissen­
schaftlich unterfütterte. Die Kernthese
des Papiers: Wenn Bauern rund um den
Globus auf ökologischen Landbau um­
stellten, klaffte eine Ertragslücke von
hochgerechnet 25 Prozent. Um sie zu
schließen, müsste entsprechend mehr
Land in Nutzung genommen werden.
Und wo anders sollten diese Flächen
abgezwackt werden als von den letzten
Naturräumen? Weltweit, recherchiere
ich, beträgt der Bioanteil an den bewirt­
schafteten Flächen derzeit 1,2 Prozent.
Die Studie-nur ein Gedankenexperi­
ment Wenngleich ein interessantes.
Teja Tscharntke, Professor für Agrar­
ökologie, lächelt und schüttelt den Kopf,
als ich ihn auf diese Position zum Hun­
ger in der Welt anspreche und zu unse­
rer Verantwortung, ihn zu stillen. Kalo­
rien genug für alle würden heute schon
weltweit produziert, sagt er. Das Haupt­
problem sei die ungerechte Verteilung;

Nach der Ernte der
Gundelrebe sortiert
Olaf Schnelle die
Pflänzchen in Fein­
arbeit. Der Aufwand
lohnt sich: Das
Grünzeug aus seiner
Gärtnerei ist in
ganz Deutschland
für seine Spitzen­
qualität bekannt

die Armen können sich die Lebensmit­
tel nicht leisten. Und dass mehr als ein
Drittel unserer Nahrungsmittel nicht
in den Mägen lande, sondern im Müll.
"Scherte uns in Deutschland tatsächlich
das Schicksal der Hungernden, müss-
ten wir als Erstes über Verschwendung
in den reichen Ländern, über die Ver­
luste bei der Lagerung in den armen
Ländern, die Kalorienverschwendung
durch Tierernährung und über kon­
krete Hilfsmaßnahmen vor Ort reden,
nicht über Ertragslücken."

T

SCHARNTKE LEHRT ander
Universität Göttingen. Als ich
ihn dort besuche, hat er gera­
de einen Vertrag auf seinem
Schreibtisch. Ein bedeutender deut­
scher Agrochemiekonzern hat ihm eine
Kooperation vorgeschlagen; viele sei­
ner Kollegen finanzieren Forschungs­
projekte über Mittel aus der Wirtschaft.
Tscharntke wird den Vertrag nicht un­
terschreiben: "Man macht sich ja doch
abhängig."
Te ja Tscharntkes Unabhängigkeit von
der Industrie, aber auch von Parteien -
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