Die Welt Kompakt - 11.09.2019

(Darren Dugan) #1

KULTUR DIE WELIE WELIE WELTKOMPAKTTKOMPAKT MITTWOCH,11.SEPTEMBER2019 SEITE 20


sterben, Hungersnöten und aus-
sterbenden Arten verleiten Wet-
terphänomene kaum jemanden,
der nicht selbst dabei war, zu Fra-
gen à la „Wo warst du, als ...“ –
vielleicht nicht einmal die, die
mittendrin steckten. Es ist ja nur
Wetter. Nur Umwelt.
Zukünftige Generationen wer-
den allerdings bestimmt zurück-
blicken und sich im biblischen
Sinne wundern, wo wir damals
gewesen sind. Zu welchen Ent-
scheidungen die Krise uns veran-
lasst hat. Warum um alles in der
Welt – dieser Welt – wir den
Freitod gewählt und sie geopfert
haben.
Vielleicht könnten wir uns
dann darauf berufen, dass die
Entscheidung ja gar nicht bei uns
lag: Sosehr wir auch wollten, wir
konnten nichts tun. Wir wussten
nicht genug. Als Einzelne hatten
wir gar nicht die Mittel, wirklich
etwas zu ändern. Die Ölkonzerne
gehörten ja nicht uns. Wir mach-
ten die Gesetze nicht.
Vielleicht könnten wir – wie
Roy Scranton in seinem Essay
„Raising My Child in a Doomed
World“ in der „New York Times“


  • behaupten, wir „konnten so
    wenig selbst entscheiden, wie
    wir lebten, wie wir die Naturge-
    setze hätten brechen können“.
    Uns – und sie – zu retten, lag
    nicht in unserer Hand. Aber das
    wäre gelogen.


Information ist zwar nicht
alles, was man für eine gute Ent-
scheidung braucht – ohne Glau-
ben ist Wissen nichts als Wissen
–, aber ohne geht es auch nicht.
In Sachen Klimawandel haben
wir uns auf gefährlich falsche In-
formationen verlassen.Wir haben
uns komplett auf fossile Brenn-
stoffe konzentriert, was uns ein
unvollständiges Bild der Krise so-
wie das Gefühl vermittelte, wir
schleuderten Steine nach einem
unerreichbaren Goliath.
AAAuch wenn bloße Fakten nichtuch wenn bloße Fakten nicht
genügen, uns zu anderem Verhal-
ten zu bewegen, können sie doch
immerhin unser Denken ändern,
und da müssen wir ansetzen. Wir
wissen, dass wir etwas tun müssen,
aaaber „Wir müssen etwas tun“ istber „Wir müssen etwas tun“ ist
meistens nur ein Ausdruck unserer
Unfähigkeit – oder wenigstens Un-
gewissheit. Solange wir nicht wis-
sen, was zu tun ist, können wir uns
nicht entschließen, es zu tun.
Der folgende Abschnitt wird
unser Bild zurechtrücken, indem
er den Zusammenhang zwischen
Nutztierhaltung und Klimawan-
del erklärt. Was leicht mehrere
Hundert Seiten Prosa hätten wer-
den können, habe ich zu einer
Handvoll der wichtigsten Fakten
verdichtet. Außerdem habe ich
wichtige ergänzende Aspekte
weggelassen: andere Facetten der
Umweltzerstörung durch Mas-
sentierhaltung.

Wasserverschmutzung zum
Beispiel, Totwasserzonen in den
Weltmeeren, Rückgang der Bio-
diversität; die moderner Nutz-
tierhaltung zugrunde liegende
Grausamkeit, die Auswirkungen
von historisch hohem Konsum
von Fleisch, Eiern und Milchpro-
dukten auf Gesundheit und Ge-
sellschaft. Dieses Buch ist weder
eine umfassende Erläuterung
des Klimawandels noch eine ka-
tegorische Verurteilung des Ver-
zehrs von Tierprodukten. Es be-
fasst sich mit einer Entschei-
dung, die die Krise des Planeten
uns abverlangt.
Der Klimawandel ist die größ-
te Krise, der die Menschheit je-
mals gegenüberstand, eine Kri-
se, die wir nur gemeinsam ange-
hen können und die jeden von
uns ganz allein betrifft. Wir
können nicht unsere vertrauten
Mahlzeiten und zugleich unse-
ren vertrauten Planeten behal-
ten. Eins davon müssen wir auf-
geben. So einfach und so
schwierig sieht es nun mal aus.
WWWo waren Sie, als Sie sich ent-o waren Sie, als Sie sich ent-
schieden haben?

DIE ERSTE KRISE


  • Fünfmal in der Geschichte kam
    es zu einem Massenaussterben.
    Alle außer dem der Dinosaurier
    wurden durch Klimawandel ver-
    ursacht.


ALBERTO CRISTOFARI/ CONTRASTO/ LAIF

MUSEEN

Städel erhält
Koch-Gemälde

Das Frankfurter Städel-Mu-
seum erhält das um 1832 ent-
standene Gemälde „Land-
schaft mit dem Propheten
Bileam und seiner Eselin“ des
Malers Joseph Anton Koch
(1768–1839) zurück. „Das zum
Bestand des Museums ge-
hörende Werk galt seit 1945
als verschollen und befand
sich zuletzt in Privatbesitz“,
wie das Städel mitteilte.

LITERATUR

Nelly-Sachs-Preis für


Kamila Shamsie


Die britisch-pakistanische
Autorin Kamila Shamsie
erhält den diesjährigen Nel-
ly-Sachs-Preis. Sie erhält die
mit 15.000 Euro dotierte
Auszeichnung für ihre auch
in deutscher Sprache er-
schienenen Romane, die auf
vielfache Weise Brücken
schlügen und dem „fragilen
Charakter von Herkunft,
Identität und Weltbildern“
nachspürten, so die Jury.

KOMPAKT


D


as Umweltbundes-
amt hat nach sehr in-
tensiven Beobach-
tungen herausgefunden, dass
Elektrotretroller gar nicht so
umweltfreundlich sind, wie
es Andreas Scheuer immer
geglaubt hat. Die gefahrenen
Strecken sind zu kurz und
könnten auch zu Fuß oder
mit Bus, Bahn oder Fahrrad
bewältigt werden. Es scheint,
dass man den Verkehrsminis-
ter schon wieder hereingelegt
hat. Nachdem er bereits bei
der Pkw-Maut Betrügern in
die Hände gefallen ist, er-
weist sich nun, dass der E-
Scooter gar nicht zur Über-
windung der gefürchteten
„letzten Meile“ genutzt wird,
sondern einfach nur so aus
Scheiß. Scheuer hat also an-
scheinend einigen Unterneh-
men die Genehmigung er-
teilt, Tonnen von Elektro-
schrott auf deutschen Bür-
gersteigen zu entsorgen. Der
Elektroschrottroller stellt ei-
ne Gefahr für die Umwelt
und die Gesundheit der Bür-
ger dar. Und was ist mit der
letzten Meile? Womit soll sie
zurückgelegt werden? Man
könnte ein spezielles Last-
Mile-Mobil konstruieren, das
überhaupt keinen Spaß
macht, oder man schafft die
letzte Meile einfach ab.

Zippert


zappt D


er Klimawandel ist
kein Puzzle auf dem
Wohnzimmertisch,
mit dem man sich be-
schäftigen kann, wann immer
einem grade danach ist. Er ist ein
brennendes Haus. Je länger wir
ihn ignorieren, desto größer wird
das Problem. Aufgrund diverser
Teufelskreise – schmelzendes Eis
wird zu dunklem Wasser, das
mehr Hitze absorbiert; tauender
Permafrostboden setzt jede Men-
ge Methan frei, eins der schlimm-
sten Treibhausgase – stehen wir
kurz vor dem Umschlagpunkt zu
einem Dominoeffekt, bei dem wir
unrettbar verloren sind.
Wir haben nicht den Luxus, in
„unserer“ Zeit zu leben. Wir kön-
nen nicht durchs Leben gehen,
als gehöre es nur uns. Mehr als je
zuvor erzeugt das Leben, das wir
führen – jetzt, in unserer Zeit –,
eine Zukunft, die sich nicht mehr
ändern lässt.
Stellen Sie sich vor, wenn Lin-
coln die Sklaverei nicht 1863 ab-
geschafft hätte, wäre Amerika
dazu verurteilt gewesen, auf im-
mer und ewig Menschen zu ver-
sklaven. Stellen Sie sich vor, das
Recht auf Heirat für gleichge-
schlechtliche Paare hätte einzig
und für alle Zeiten von Obamas
Sinneswandel im Jahr 2012 abge-
hangen.
Wenn Obama von morali-
schem Fortschritt sprach, zitierte
er oft Martin Luther Kings Aus-
spruch: „Der Bogen des morali-
schen Universums ist weit, aber
er biegt sich zur Gerechtigkeit.“
In diesem beispiellosen Augen-
blick in der Geschichte könnte
der Bogen endgültig brechen.
An mehreren entscheidenden
Momenten in der Bibel fragt Gott
einen Menschen, wo er ist. Am
häufigsten zitiert wird, wie Adam
sich nach dem Biss in die verbote-
ne Frucht versteckt und Gott ihn
fragt: „Wo bist du?“, und wie Gott
Abraham anruft, bevor er ihm
aufträgt, seinen einzigen Sohn zu
opfern. Ein allwissender Gott
weiß natürlich sowieso, wo seine
Geschöpfe sind. Seine Frage be-
zieht sich nicht auf den Raum,
sondern auf das Selbst.
Wir haben davon unsere eige-
ne, moderne Version. Wenn wir
an Momente denken, in denen
wir quasi zu Augenzeugen der
Geschichte wurden – Pearl Har-
bor, das Kennedy-Attentat, der
Fall der Mauer, der 11. September
–, fragen wir andere oft, wo sie
waren, als es passierte. Wie Gott
in der Bibel fragen wir dabei
allerdings nicht nach geografi-
schen Koordinaten. Wir fragen
nach etwas Tieferem, nach ihrer
persönlichen Verbindung zu je-
nem Augenblick – in der Hoff-
nung, uns dadurch selber besser
auszukennen.
Das Wort „Krise“ kommt vom
griechischen krisis, zu Deutsch:
„Entscheidung“. Obwohl wir die
Umweltkrise alle miterleben,
kommt sie uns nicht vor wie ein
Ereignis, an dem wir teilnehmen.
Sie kommt uns überhaupt nicht
vor wie ein Ereignis. Trotz des
Traumas von Hurrikans, Wald-
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