22 KULTUR DI E W E LI E W E LI E W E LTKOMPAKTTKOMPAKT M I T T WO C H , 1 1. S E P T E M B E R 2 0 1 9
R
obert Franks berühm-
testes Buch beginnt
mit einer weißen Frau
am Fenster, das halb
von einer Flagge verdeckt wird.
Es wirkt heute noch genauso
wie damals, als „Die Amerika-
ner“ 1958 erschien und die Zeit-
genossen so erschütterten, weil
es wahr war. Nie zuvor war die-
ses Volk so gnadenlos ehrlich
gezeigt worden. Der Schweizer
Robert Frank hatte die soziale
Schere in den USA auf nur 83
Motiven (ausgewählt aus
28.000 Abzügen) vor dem Auge
des Lesers aufgeklappt. Er hat
die Seele einer ganzen Nation
seziert, egal ob arm oder reich,
in Liebe verfallen oder bitter al-
lein, weiß oder schwarz, in der
Großstadt oder Provinz.
VON SWANTJE KARICH UND
HANS-JOACHIM MÜLLER
Robert Frank, geboren am 9.
November 1924 in Zürich, war
diese Anerkennung, ja, die Ver-
ehrung als Held, die ihm wider-
fuhr, nie wichtig. Und das war
keine Koketterie. Nein, das galt.
Und er bewies es sich selbst: In
den 60er-Jahren, als sein Werk
gefeiert wurde, gab er überra-
schend die Fotografie auf, um
ein unabhängiger Filmemacher
zu werden. Am bekanntesten
wurde seine Dokumentation
über die Rolling Stones, „Cock-
sucker Blues“.
Noch mal zehn Jahre später,
die New Yorker Kunstwelt lag
ihm zu Füßen, verließ Robert
Frank die Stadt und zog in eine
karge Berglandschaft weit oben
in Kanadas Norden. Über die
Jahre hinweg lehnte er ab, was
ihm angetragen wurde: große
Museumsausstellungen ebenso
wie Ehrendoktorwürden von
Universitäten wie der in Yale.
„Lasst das andere haben“, zi-
tiert ihn Nicholas Davidoff im
WELT-Kunstmagazin BLAU
2017 und umreißt damit den
entspannten Charakter des
Künstlers. Im Gespräch kom-
men sie sich immer näher, und
damit auch dem Kern. Schließ-
lich sagt Robert Frank, das Le-
ben könne so hart sein, er kön-
ne es kaum ertragen.
Robert Frank näherte sich in
seiner Arbeit einer Sache, an
die sich heute kaum ein Foto-
graf mehr herantraut: der
Wahrheit. Sie ist etwas, das die
Fotografie heute nur selten für
sich beansprucht. Sie ist zum
absoluten Tool für Spiele mit
der Oberfläche geworden. Mit
seiner Art, die Wahrheit zu sa-
gen, ist Robert Frank zu einem
der berühmtesten und einfluss-
reichsten Fotokünstler des 20.
Jahrhunderts geworden.
Über seinen Bildern – und
das gilt nicht nur für sein ikoni-
sches Werk „The Americans“ –
liegt eine eigentümliche No-
vemberstimmung, als habe das
Jahr mit dem Herbst begonnen
und komme nie über den
Herbst hinaus. Die Menschen
schlagen die Mantelkragen
hoch, spannen die Schirme auf,
decken die Blumenstände ab,
schauen, wenn sie die Straßen
entlangschauen, wie Dunst und
Nebel um die Laternen Höfe
bilden.
Und wenn die Banker mit
den Bowlerhüten durch Lon-
don City eilen, dann ist es, als
eilten sie wie Aeneas gerade-
wegs auf die Unterwelt zu. Den
Wohnwagen, den er 1949 an der
Porte de Clignancourt in Paris
gesehen hat, hat Frank fotogra-
fiert, weil auf ihm „Mur de la
Mort“ steht. Und die Liebes-
paare, die er 1958 am nächtli-
chen Strand von Coney Island
entdeckte, hat er fotografiert,
weil sie daliegen, als warteten
sie nur auf die Abfahrt des To-
tenfloßes.
Ein wunderbares Vorver-
ständnis liegt über diesem gan-
zen Werk, eine gleichsam ge-
nuine Aufgeklärtheit, wie es um
die Sache des Menschen be-
stellt ist und nicht anders be-
stellt sein kann. Und jede neue
Fotoreportage hat immer nur
neue Motive für das rätselhafte
Leben gesammelt, neue Belege
für die fototechnisch unbeein-
flussbare Wahrheit, dass Sehen
nur sieht, was es schon weiß.
Und wenn im existenzialisti-
schen Gestus, in der zeichen-
haften „Loneliness“ dieser Fi-
guren auch eine Berührung
zum malerischen Werk des Ed-
ward Hopper möglich scheint,
dann ist der große, der bedeu-
tende Unterschied doch, dass
der Maler nicht ohne die Farbe
auskam, während Frank fast
ausschließlich schwarz-weiß fo-
tografiert hat. Schwarz-weiß
aber ist wie ein Filter, durch
den die Welt gesehen wird.
Schwarz-weiß ist Abstraktion,
eine Augen-Hirn-Leistung, die
mit jeder Verwandlung der
Welt deutlich macht, dass die
Dinge nicht ohne Licht zu ha-
ben sind und dass vom Licht
nicht der Schatten zu trennen
ist.
Der Fotograf der aufgeklär-
ten und eben deshalb immer et-
was abgedunkelten Welt ist mit
merkwürdiger Unruhe durch
diese Welt gestreift. Dass er in
der Schweiz, in Zürich, geboren
wurde, dass er dort im neusach-
lichen Klima der 40er-Jahre Fo-
tosehen gelernt, studiert hat,
das hat man fast vergessen, wo
doch alle heute „Fränk“ sagen
und nicht mehr Frank. Verges-
sen auch, dass der Sohn einer
Schweizer Mutter und eines
nach dem Ersten Weltkrieg
staatenlosen Vaters erst im
April 1945 die Schweizerische
Staatsbürgerschaft bekam.
Lang blieb Robert Frank dann
auch nicht mehr im Land. Kam
gelegentlich zurück, aber im-
mer nur wie auf Besuch, hat die
Schweiz 1947 so entschlossen
verlassen, dass manche von
Emigration sprachen, was ange-
sichts der Emigrationsschicksa-
le im vergangenen Jahrhundert
übertrieben ist.
Man muss es anders sagen:
Die Lebensunruhe ist dem Se-
hen des Lebens geschuldet.
New York, Peru, Bolivien, Spa-
nien, Frankreich, New York, Pa-
ris, London, Valencia, Wales,
New York, quer durch Amerika,
mit Joan Leaf, der Bildhauerin,
nach Nova Scotia an die kanadi-
sche Atlantikküste: Die vielen
Stationen bilden sich unmittel-
bar im Werk ab, nicht als un-
stillbare Gier nach immer neu-
en Sensationen, vielmehr in der
reifenden Gewissheit, dass es
nicht nur einBild vom beweg-
ten Leben geben darf, weil das
eine Bild Fiktion wäre ange-
sichts der vielen Bilder, die es
verschweigt.
Wenn Jack Kerouac, der Poet
der Beatgeneration, der einen
noch immer lesenswerten Text
zu Franks berühmtestem Foto-
Essay „The Americans“ (1958)
geschrieben hat, beobachtet,
wie der Freund mit der Kamera
herumschleicht „wie eine Katze
oder ein wütender Bär“, dann
hat er etwas sehr Entscheiden-
des entdeckt: dass Franks Ka-
mera nämlich kein Stativ ge-
braucht hat, dass sie mehr und
mehr dem Körper gefolgt ist,
den Schritten, den Bewegungen
des Kopfes, dem Schweifen der
Augen, der Unrast der Gedan-
ken und Empfindungen. Am 10.
September ist Robert Frank im
Alter von 94 Jahren gestorben.
Robert Frank (1924–2019), porträtiert 1958 von John Cohen
GETTY IMAGES
/ JOHN COHEN
Der
Seher
Robert Frank
zeigte den
Amerikanern
die Wahrheit.
Jetzt ist die
Fotolegende
gestorben