Frankfurter Allgemeine Zeitung - 06.09.2019

(Nandana) #1

SEITE 20·FREITAG, 6. SEPTEMBER 2019·NR. 207 Wirtschaft FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


wvp. WASHINGTON, 5. September.
Sich abschwächende Konjunkturdaten be-
flügeln den inzwischen 13. Versuch der
amerikanischen und der chinesischen Re-
gierung, den Handelskonflikt beizulegen.
Die beiden Seiten verabredeten, dass Chi-
nas Chefunterhändler Liu He Anfang Ok-
tober zu Spitzengesprächen nach Wa-
shington kommt. Die Verhandlungen
sind belastet durch neue Zölle auf chinesi-
sche Importe, die seit September gelten
oder im Oktober und spätestens im De-
zember in Kraft treten. China hat darauf
mit Zöllen auf amerikanische Güter rea-
giert und stemmt sich nicht gegen die Ab-
wertung des Yuans.
Der Handelskrieg zwischen den beiden
größten Wirtschaftsnationen bremst of-
fenbar die Konjunktur in beiden Ländern
und lähmt zudem die Weltwirtschaft. Die
Auswirkungen sind bisher allerdings un-
terschiedlich intensiv. Obwohl der Han-
delskrieg seit mehr als einem Jahr im
Gange ist, zeigen amerikanische Konjunk-
turdaten immer noch starke Werte: Die
Konsumausgaben bleiben hoch, die Ar-
beitslosigkeit historisch niedrig, während
Löhne und Inflation leicht anziehen.
„Warum geht es der amerikanischen Wirt-
schaft so gut?“, fragt der Deutsche-Bank-
Ökonom Torsten Slok. „Vielleicht, weil es
die widerstandskräftigste, schwungvolls-
te und diversifizierteste Volkswirtschaft
der Welt ist mit dem kleinsten Import-
und Exportanteil an der Wertschöpfung.“
Die Widerstandskraft der amerikani-
sche Wirtschaft zeigt sich auch im soge-
nannten Beige Book der Federal Reserve.
Trotz steigender Sorgen wegen des Han-
delskonfliktes blieben die meisten Unter-
nehmen zuversichtlich, heißt es darin. Im
Beige Book tragen die Zentralbanker im
ganzen Land anekdotische Informatio-
nen aus Gesprächen mit Wirtschaftsver-
tretern zusammen. Diese zeigten sich ins-
gesamt eher positiv gestimmt, was sich
auch in Beschäftigungsgewinnen und zu-
nehmender wirtschaftlicher Aktivität aus-
drückt. Zwei Bereiche allerdings vermel-
den Rückschläge: die Landwirtschaft we-
gen des chinesischen Einkaufsboykotts
und Missernten nach Hochwasser und die
Industrie. Die Beschäftigung im Verarbei-
tenden Gewerbe wächst nur noch lang-
sam, und die Fabrikbesitzer fahren die
Produktion zurück, was sich in stark zu-
rückgehenden Arbeitsstunden zeigt. An-
ders als der Dienstleistungssektor ist die
Industrie von globalen Wertschöpfungs-

ketten abhängig und deshalb von dem
Handelskonflikt betroffen. Unternehmen
beklagen deutlich zurückgehende Auf-
tragszahlen in einer Jahreszeit, die ge-
wöhnlich durch neue Bestellungen ge-
prägt ist. Dazu gesellt sich die Unsicher-
heit, ob der Streit beigelegt werden kann
oder aber eine komplette Neuausrichtung
der Lieferketten erzwingt. Die Unsicher-
heit drückt auf die Investitionspläne der
Unternehmen. Präsident Donald Trump
glaubt gleichwohl, dass Amerika ein
Scheitern der Handelsgespräche besser
verkraften kann als China, wo verschiede-
ne Konjunkturindikatoren nach unten
weisen. Die amerikanische Zentralbank
Federal Reserve bereitet sich unterdessen
darauf vor, einer Abschwächung der Kon-
junktur durch eine weitere Zinssenkung
entgegenzuwirken. „Der Wirtschaft geht
es gut“, sagte der New Yorker Fed-Chef
John Williams am Mittwoch. Doch die Un-
sicherheiten und Risiken seien groß.

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ppl. LONDON, 5. September. Inmitten
des politischen Chaos um den Brexit-
Kurs hat die britische Regierung neue
Beschlüsse in der Migrationspolitik für
EU-Ausländer angekündigt. Vor kurzem
hieß es, im Fall eines „No-Deal“-Aus-
tritts aus der EU gebe es ein sofortiges
Ende der Personenfreizügigkeit für EU-
Bürger. Das ist nun wohl vom Tisch.
Nach den neuen Plänen soll es zwar so-
fort Grenzkontrollen geben, „um es
schwieriger für Kriminelle zu machen,
ins Vereinigte Königreich zu gelangen“.
Aber unbescholtene Bürger sind will-
kommen.
Bürgern aus der EU und Norwegen
(EEA-Länder) und der Schweiz wird es
weiter möglich sein, bis Ende 2020 mit
ihren Familien ins Königreich zu ziehen
und einen vorläufigen Aufenthaltsstatus
(Temporary Leave to Remain) zu bean-
tragen, der für drei Jahre gültig ist. „Das
wird Unternehmen die Sicherheit ge-
ben, dass sie weiterhin Mitarbeiter rekru-
tieren und behalten können nach dem
Brexit“, teilt das Innenministerium mit.
Wirtschaftsverbände hatten die Regie-
rung kritisiert, sie verstärke die Unsi-
cherheit, als es zunächst hieß, die EU-
Personenfreizügigkeit werde abrupt am



  1. Oktober enden. Organisationen wie
    die Gruppe „The 3 Million“ werfen der
    Regierung vor, sie diskriminiere die
    mehr als 3 Millionen EU-Bürger, die im
    Königreich leben.
    Etwa eine Million EU-Bürger haben
    bislang eine permanente Aufenthaltsge-
    nehmigung beantragt. Neuere Zahlen
    zeigen, dass nur zwei Drittel den dauer-
    haften Aufenthaltstitel (Settled Status)
    erhalten. Etwa ein Drittel erhält nur die
    vorläufige Aufenthaltsgenehmigung
    (Pre-Settled Status). Diesen erhalten
    EU-Bürger, die weniger als fünf Jahre im
    Land leben. Mehr als 340 000 Menschen
    wurde nur der Pre-Settled Status gege-
    ben. Sie können später eine Dauergeneh-
    migung beantragen. Wird diese abge-
    lehnt, erlischt das Aufenthaltsrecht, und
    sie müssten das Land verlassen. Es gab


Berichte über Ausländer, die zum Teil
schon Jahrzehnte in Großbritannien leb-
ten, deren Anträge jedoch abgelehnt
wurden. Das Innenministerium erklärte
dazu, es gebe Fehler im System, die kor-
rigiert würden.
Innenministerin Priti Patel nannte die
neuen Beschlüsse einen „ersten, histori-
schen Schritt, um die Kontrolle über un-
sere Grenzen zurückzuholen“. Die Bre-
xit-Hardlinerin bekräftigte abermals,
das Land werde die EU am 31. Oktober
verlassen. Nach den jüngsten Beschlüs-
sen im Parlament ist dies aber sehr unsi-
cher. Laut Patel werden am 31. Oktober
die blauen EU-Schilder im Zollbereich
von Flughäfen oder anderen Grenzüber-
gängen entfernt. Reisende müssten

dann entweder den grünen Durchgang
(„Nichts zu verzollen“) oder den roten
Durchgang („Waren zu verzollen“) wäh-
len. Später im Jahr soll für die Briten ein
neuer blauer Reisepass eingeführt wer-
den. Dieser enthält keine EU-Zeichen
mehr. In der Zukunft soll laut Patel und
Premierminister Boris Johnson ein Punk-
tesystem zur Gewinnung von qualifizier-
ten Einwanderern eingeführt werden.
Diese neue Immigrationspolitik soll ab
2021 gelten. Angesichts des Brexit-Cha-
os ist indes zu fragen, ob die Regierung
so lange im Amt bleiben wird.
Seit dem EU-Austrittsreferendum
2016 ist die Zahl der nach Großbritan-
nien einwandernden EU-Bürger gesun-
ken. Johnsons Vorgängerin Theresa May

versuchte, die Nettomigration unter die
Marke von 100 000 im Jahr zu drücken.
Dies scheiterte jedoch. 2018 kamen net-
to 258 000 Immigranten ins Land. Die
Zahl der Menschen von außerhalb der
EU stieg dabei stark, die Zahl der EU-Zu-
züge sank.
Jüngst musste das Statistikamt ONS ei-
nen Fehler eingestehen. In der Statistik,
die von 3 Millionen Immigranten netto
seit 2009 spricht und auch auf Schätzun-
gen beruht, hatte das ONS die Nicht-
EU-Einwanderung überschätzt und die
EU-Einwanderung um rund eine Viertel-
million unterschätzt. Der Ruf „Take
back control“ zur Einwanderung war ein
wichtiges Motiv vor drei Jahren in der
Brexit-Volksabstimmung.

F.A.Z.FRANKFURT, 5. September. Die
deutsche Industrie bekommt weniger
neue Aufträge und befindet sich weiter-
hin in einer konjunkturellen Schwäche-
phase. Im Juli sind die Bestellungen um
2,7 Prozent gesunken, teilte das Bundes-
wirtschaftsministerium mit. Zuvor befrag-
te Fachleute hatten im Schnitt mit einem
Rückgang um 1,5 Prozent gerechnet. Wäh-
rend die Aufträge aus dem Inland um 0,
Prozent abnahmen, stiegen die aus den
anderen Mitgliedsländern der Europäi-
schen Währungsunion leicht um 0,3 Pro-
zent. Dagegen sank die Nachfrage aus der
übrigen Welt, inklusive der beiden größ-
ten Volkswirtschaften Vereinigte Staaten
und China, um 6,7 Prozent. „Angesichts
der weiter schwelenden internationalen
Handelskonflikte und der zurückhalten-
den Geschäftserwartungen im Verarbei-
tenden Gewerbe zeichnet sich für die
kommenden Monate noch keine grundle-
gende Besserung der Industriekonjunktur
ab“, teilten die Fachleute des Wirtschafts-
ministeriums mit. „Seit Jahresbeginn sind
die Inlandsaufträge sogar stärker gesun-
ken als die Auslandsaufträge“, kommen-
tierte Carsten Brzeski, Ökonom der Bank
ING: „Das deutet darauf hin, dass die glo-
balen Probleme die Binnenwirtschaft er-
reicht haben.“ Die schwachen neuen Da-
ten zur gesamten deutschen Industrie be-

stätigen sich durch die andauernde Auf-
tragsflaute im Maschinenbau. Dieser be-
kam im Juli 4 Prozent weniger Bestellun-
gen als in derselben Zeit des Vorjahres,
wie der Branchenverband VDMA mitteil-
te. Das deutsche Bruttoinlandsprodukt ist
aufgrund der Entwicklung in der Indus-
trie zuletzt leicht geschrumpft – Fachleu-
te sorgen sich mittlerweile sogar um eine
drohende Rezession.

Pflegefall Wald
Dem Wald geht es schlecht, deshalb
sind Forstingenieure gefragter denn je.
Spaziergang unter kranken Fichten.

cmu. HAMBURG, 5. September. Im
Hamburger Hafen soll die bisher größte
Anlage zur Gewinnung von Wasserstoff
mit Hilfe elektrischen Stroms entstehen.
Wie der parteilose Wirtschaftssenator Mi-
chael Westhagemann mitteilte, sind die
Gespräche mit potentiellen Kunden und
Investoren für eine sogenannte Wasser-
stoff-Elektrolyse mit einer Leistung von
100 Megawatt weit vorangeschritten. Der
Bau werde einen dreistelligen Millionen-
betrag kosten und solle durch Fördermit-
tel vom Bund und von der EU ermöglicht
werden. Hamburg will die nötigen Flä-
chen bereitstellen. Hintergrund für den
Vorstoß sind die Energiewende und der
bisherige Mangel an Möglichkeiten, den
durch Windparks auf hoher See und an
Land sowie andere regenerative Quellen
erzeugten Strom effizient zu speichern.
Die Elektrolyse gilt als mögliche Lösung,
indem Wasserstoff etwa in unterirdi-
schen Hohlräumen gelagert wird. Auch
könnte der Energieträger vor Ort direkt
verwendet werden. „Wir wollen beim Kli-
maschutz erfolgreich sein“, sagte Westha-
gemann. Wasserstoff sei dafür der nächs-
te logische Schritt. „Wir haben alles in
Hamburg. Industrie, Universitäten, Inno-
vationsgeist. Und am wichtigsten: Alle
Sektoren der Anwendung.“ Eine 100-Me-
gawatt-Elektrolyse wäre global gesehen
eine neue technische Dimension. Die bis-
lang größten Anlagen leisten allenfalls
zehn Megawatt, in der Regel weniger.


dc.BERLIN,5. September. Im Koaliti-
onsstreit über die geplante Grundrente
für Geringverdiener bereiten Union und
SPD nun die Einsetzung einer Arbeits-
gruppe vor. Der CDU-Arbeitnehmerflü-
gel verfolgt das Gerangel mit wachsender
Ungeduld und fordert von den Beteiligten
dringend erhöhte Bereitschaft zum Kom-
promiss. „Alle müssen zusehen, dass wir
das Thema jetzt gelöst kriegen“, sagte der
Vorsitzende der Christlich-Demokrati-
schen Arbeitnehmerschaft (CDA), Nord-
rhein-Westfalens Arbeitsminister Karl-Jo-
sef Laumann, der F.A.Z. „Und jeder sollte
wissen, was Kompromiss bedeutet: Es
wird nicht ein 100-Prozent-CDU-Modell
geben, aber auch kein 100-Prozent-SPD-
Modell.“ Die Gelegenheit zur Einigung
verstreichen zu lassen werde sich dage-
gen für keine Seite auszahlen, warnte er.
Von der SPD verlangte Laumann, sich
nicht länger auf ein Modell zu versteifen,
mit dem Rentner die geplanten Rentenzu-
schläge ohne eine Prüfung ihrer Einkom-
menssituation erhalten sollen. „Wenn je-
mand durch andere Einkommensquellen
als die gesetzliche Rente vernünftig abge-
sichert ist, kann es nicht richtig sein, ihn
trotzdem als bedürftig einzustufen“, sag-
te er. Und das gelte nicht nur für eigene
Einkünfte, sondern auch für Partnerein-
kommen: „Wer beispielsweise einen
Oberstudienrat a. D. als Partner hat, ist
schlicht nicht bedürftig. Punkt.“

Bundessozialminister Hubertus Heil
(SPD) hatte im Mai einen umstrittenen
Gesetzentwurf zur Grundrente vorgelegt.
Damit würden gesetzliche Renten künftig
über den Wert der gezahlten Beiträge hin-
aus bis zum Doppelten aufgewertet, falls
zwei Bedingungen erfüllt sind: Die Rent-
ner waren mindestens 35 Jahre beitrags-
pflichtig versichert; und ihre Löhne wa-
ren dabei, aufs Jahr gerechnet, niedriger
als 80 Prozent des jeweiligen Durch-
schnittslohns.Die im Koalitionsvertrag
vereinbarte Bedürftigkeitsprüfung, die
seit jeher über den Zugang zur Sozialhil-
feleistung Grundsicherung im Alter ent-
scheidet, fehlt indes im Gesetzentwurf.
Mit Heils Modell würden deshalb rund
3 Millionen Senioren neue Rentenzu-
schläge erhalten, andernfalls wären es
weniger als 200 000. Und die erwarteten
Mehrausgaben belaufen sich auf jährlich
fast 5 Milliarden Euro, andernfalls wären
es weniger als eine Milliarde. Zur Finan-
zierung hatte Heil daher unter anderem
eine Erhöhung der Mehrwertsteuer auf
Hotelübernachtungen geplant.
Laumann zeigte sich offen dafür, ab-
weichend von den Kriterien der Grundsi-
cherung ein gelockertes Prüfverfahren
für die Grundrente vorzusehen – eines,
das sich auf andere Einkommen neben
der gesetzlichen Rente konzentriert.
„Auf eine Vermögensprüfung kann man
sicherlich verzichten“, sagte er. Im Alltag

werde es ohnehin wenige Fälle geben, in
denen Menschen trotz hoher Vermögen
Grundrente bekämen. Ein Modell ohne
jede Bedarfsprüfung, aber mit ausufern-
den Kosten sei für ihn aber nicht vorstell-
bar. „Und dafür auch noch Steuererhö-
hungen zu machen wäre absurd.“
Umgekehrt rief Laumann seine eigene
Partei auf, von sich aus überzeugend für
eine Grundrente einzutreten und diese
nicht nur als ein SPD-Projekt zu sehen,
das man sich politisch abhandeln lasse.
„Wir haben auf dem Arbeitsmarkt nun
einmal einen Niedriglohnsektor, in dem
nicht wenige Menschen über lange Zeit-
räume arbeiten“, betonte er. Das habe
Folgen für die Rente, die man nicht igno-
rieren dürfe. „Die CDU hat sich immer
als Freund der fleißigen Leute verstan-
den“, mahnte er. „Und bei aller Aufmerk-
samkeit, die natürlich auch Themen wie
Klimaschutz verdienen, dürfen wir nicht
die Lebenssituation dieser Menschen aus
den Augen verlieren.“
Wie in Koalitionskreisen zu hören ist,
soll kommende Woche eine ranghohe Ar-
beitsgruppe eingesetzt werden und eine
Lösung suchen, gestützt auf mögliche
Kompromisslinien, über die Kanzleramts-
chef Helge Braun und Minister Heil zu-
letzt intensiv verhandelt haben. Dem Ver-
nehmen nach sind neben Braun und Heil
auch Finanzminister Olaf Scholz (SPD)
und Gesundheitsminister Jens Spahn
(CDU) für die Arbeitsgruppe nominiert.

itz.WIEN,5. September. Es kriselt nach
wie vor im Verhältnis zwischen Deutsch-
land und der Türkei. Das liegt zum einen
an der autoritären Innenpolitik von Präsi-
dent Recep Tayyip Erdogan, zum ande-
ren an seiner Zypern-Politik. Weil die
Türkei vor der Küste der Mittelmeerin-
sel, die zur EU gehört, nach Gas bohrt,
haben die Außenminister der Gemein-
schaft Sanktionen verhängt. Und das, ob-
gleich die Türkei offiziell noch immer
ein Beitrittskandidat ist. Zunächst sollen
EU-Mittel gekürzt und die Verhandlun-
gen über ein Luftverkehrsabkommen auf
Eis gelegt werden. Später könnten weite-
re Strafmaßnahmen hinzukommen.
In Deutschland hat man einige Erfah-
rungen im härteren Umgang mit Erdo-
gan. Vor zwei Jahren gab es schon ein-
mal eine Eiszeit zwischen Berlin und An-
kara, da die Türkei deutsche Staatsbür-
ger aus politischen Gründen inhaftiert
hatte. Um Druck auszuüben, beschloss
die Bundesregierung damals, die Her-
mesbürgschaften für deutsche Ausfuh-
ren zu begrenzen. Das galt als ein schar-
fes Schwert, schließlich war und ist die
Bundesrepublik der wichtigste Handels-
partner der Türkei.
Heute muss man jedoch feststellen,
dass die Einschränkungen nur auf dem
Papier bestanden. Die Deckelung der Ex-


portkreditversicherungen wurde von der
Bundesregierung so hoch angesetzt, dass
nie die Gefahr bestand, dass es deswegen
zu Rückschritten im Türkei-Geschäft
kommen würde. Denn die Begrenzung
bezog sich nicht auf alle Exportgaran-
tien, sondern lediglich auf eine Unter-
gruppe, die „Einzeldeckungen“. Deren
Höchstgrenze betrug 2017 rund 1,5 Milli-
arden Euro. Wirklich nachgefragt und be-
willigt wurden aber nur etwas mehr als
die Hälfte, rund 790 Millionen.
Als die Bundesregierung 2018 die
Sanktionen auslaufen ließ, nahm das Vo-
lumen der Einzeldeckungen um satte 22
Prozent auf 965 Millionen Euro zu.
Selbst dieser Wert war noch weit von
dem entfernt, was 2017 zulässig gewesen
wäre. Die Zunahme zeigt aber, dass die
deutsche Wirtschaft ihre Lieferungen in
wachsendem Maße absichern will. Das
hat auch damit zu tun, dass die Organisa-
tion OECD das Länderrisiko 2018 um
eine Stufe erhöht hat: Die Türkei ran-
giert jetzt in der Kategorie fünf, der dritt-
schlechtesten.
In einer Untersuchung hat der Kredit-
versicherer Euler-Hermes festgestellt,
dass Lieferanten im Durchschnitt 79
Tage auf ihr Geld aus der Türkei warten
müssen; das war der fünftschlechteste
Platz. Es gibt also gute Gründe, sich ge-

gen Zahlungsausfälle zu wappnen, und
die Exporteure machen davon kräftig Ge-
brauch. Betrachtet man nicht nur die Ein-
zeldeckungen, sondern alle von der Bun-
desregierung zugesagten Exportgaran-
tien für die Türkei, dann stieg deren
Wert 2018 um mehr als 13 Prozent auf
1,78 Milliarden Euro. Nach Angaben der
sogenannten Auslandsgeschäftsabsiche-
rung erreichte das Land gemeinsam mit
Amerika Platz zwei hinter Russland.
Das rege Interesse an der Türkei dau-
ert an. Im ersten Halbjahr 2019 war sie
wiederum das wichtigste Schwellenland
für Hermeskredite hinter Russland. Aller-
dings nahmen die Deckungen um 24 Pro-
zent auf 630 Millionen Euro ab. Wie
wichtig Kleinasien für die deutsche Wirt-
schaft insgesamt ist, zeigt die Überle-
gung der VW-Gruppe, in der Nähe von Iz-
mir ihr erstes Autowerk zu bauen – und
wohl nicht in den EU-Ländern Bulgarien
oder Rumänien, die ebenfalls im Rennen
um den südosteuropäischen Standort wa-
ren.
Neben VW zieht es auch andere deut-
sche Unternehmen verstärkt in die Tür-
kei, trotz der Defizite in Rechtsstaatlich-
keit und Demokratie. Das zeigen die Sta-
tistiken der türkischen Zentralbank.
Nachdem die Direktinvestitionen aus der
Bundesrepublik eine Zeitlang abnah-

men, steigen sie jetzt wieder, und zwar
entgegen dem europäischen Trend. Wäh-
rend im ersten Halbjahr die Zuflüsse aus
der ganzen EU um 26 Prozent abnah-
men, haben sich die deutschen um 70
Prozent erhöht.
Ähnlich sieht es im Handel aus, wie
sich aus den Daten des türkischen Statis-
tikamts ergibt. Obgleich der Import am
Bosporus stark unter der Lira-Schwäche
leidet, sind deutsche Güter weiterhin
sehr gefragt. Im Juli verzeichnete die Ein-
fuhr aus der Bundesrepublik ein Plus von
2,2 Prozent. Hingegen gab es in der EU
ein Minus von 10 Prozent. Freilich bleibt
auch Deutschland von der schwierigen
wirtschaftlichen Lage des Nato-Partners
nicht verschont. In den ersten sieben Mo-
naten nahm der Außenhandel (Einfuhr
plus Ausfuhr) um 14 Prozent auf 19,2 Mil-
liarden Dollar ab. Das waren 23 Prozent
des Austauschs mit der ganzen EU und
9 Prozent des gesamten türkischen Au-
ßenhandels.
Besser als der Import läuft der türki-
sche Export. Ihm hilft der geringe Lira-
Wert, weil er die Waren auf den Welt-
märkten verbilligt. Deshalb weist die EU,
anders als vor einem Jahr, in den ersten
sieben Monaten ein Handelsbilanzdefi-
zit mit der Türkei auf. Deutschland hinge-
gen hat seinen Überschuss gewahrt.

Teurer Unterhaltsvorschuss
Die Ausgaben für staatlichen Unterhalts-
vorschuss zugunsten von Trennungskin-
dern sind stark gestiegen. Mit 2,1 Milliar-
den Euro seien die Ausgaben 2018 fast
doppelt so hoch wie im Vorjahr gewesen,
teilte das Bundesfamilienministerium am
Donnerstag mit. Grund ist ein 2017 umge-
setzter Ausbau der Sozialleistung; mit ihr
unterstützt der Staat Alleinerziehende, de-
ren Ex-Partner Unterhalt schuldig bleibt.
Von diesen konnte der Staat nun nur noch
13 Prozent seiner Vorschüsse zurückholen.
Eine ergänzende Analyse ergab, dass die
Ex-Partner in 61 Prozent der Fälle nicht
ausreichend zahlungsfähig waren. dc.

EU-Staaten entgehen Milliarden
Die EU-Staaten haben ihre Steuerausfäl-
legesenkt. 2017 seien den öffentlichen
Kassen ungefähr 137 Milliarden Euro an
Steuereinnahmen wegen Betrugs, Steuer-
vermeidung und Insolvenzen entgangen,
teilte die EU-Kommission mit. 2016 wa-
ren die Mehrwertsteuereinnahmen in den
EU-Staaten noch um 147 Milliarden Euro
niedriger, als anhand der Wirtschaftsleis-
tung zu erwarten war. Für 2018 sei der
Trend ebenfalls positiv, Zahlen gebe es
aber noch nicht. dpa-AFX

Indien und Russland kooperieren
Indien vertieft die wirtschaftlichen Bezie-
hungen zu seinem jahrzehntelangen Rüs-
tungspartner Russland, um dem wachsen-
den Gewicht Chinas etwas entgegenzuset-
zen. Das Handelsvolumen soll sich inner-
halb von nur fünf Jahren auf 30 Milliar-
den Dollar fast verdreifachen. Minister-
präsident Narendra Modi und Russlands
Präsident Wladimir Putin vereinbarten zu-
dem einen ganzen Strauß von Abkom-
men im Energie-, Rüstungs- und Schiff-
fahrtssektor. Modi sprach von einer „neu-
en Dimension der Wirtschaftsdiploma-
tie“ beider Länder. che.

Hohe Forderung für Zeitarbeiter
Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB)
fordert 8,5 Prozent mehr Lohn für die
800 000 Zeitarbeiter in Deutschland. Zu-
dem will er in der kommenden Tarifrunde
mehr Urlaubsgeld, mehr Urlaub und höhe-
re Zuschläge durchsetzen. Wie der DGB
mitteilte, haben die Gewerkschaften ein
entsprechendes Forderungspaket den bei-
den Zeitarbeitsverbänden übermittelt.
Dies sind der Bundesarbeitgeberverband
der Personaldienstleister (BAP) und der
Interessenverband Deutscher Zeitarbeits-
unternehmen IGZ. Die Tarifrunde be-
ginnt am 17. September. dc.

EU-Bürger können doch nach Britannien ziehen


Rushhour auf der London Bridge:Großbritannien heißt EU-Bürger auch nach einem harten Brexit willkommen. Foto Reuters


Weniger Aufträge für die Industrie


Die deutsche Konjunktur entwickelt sich weiter schwach


Autohass und gute Gehälter
Die Autoindustrie hat viele Probleme,
Ingenieure verdienen dennoch gut –
wenn sie das Richtige studiert haben.

Hamburg plant größte


Wasserstoff-Elektrolyse


Grundrente: CDU-Sozialflügel fordert Kompromiss


Laumann mahnt rasche Einigung der Koalition an / „Kein Modell ohne Bedarfsprüfung“


Die deutsche Wirtschaft hält der Türkei die Treue


Direktinvestitionen und Export steigen / Es gibt aber gute Gründe, sich gegen Zahlungsausfälle abzusichern


Kurze Meldungen


Noch eine Runde im Handelskrieg


zwischen Amerika und China


Washington sieht sich in einer Position der Stärke


Industrie im Abschwung
Bestellungen für Industriegüter (Stand 2015 =100)1)

1) Preis-, arbeitstäglich- und saisonbereinigte Werte. 2) Vorläufig.
Quelle: Thomson Reuters F.A.Z.-Grafik swa.

Juli 2017 Juli 2018 Juli 20192)

Ausland

Inland

Insgesamt


103,

95,

100,3100,

95

100

105

110

115

120

Müssen Ingenieure programmieren?
C++, Python, R – viele Ingenieure
verstehen die Sprache der Informati-
ker nicht. Muss sich das ändern?

Selbst bei einem Brexit ohne


Abkommen gilt bis Ende


2020 weiterhin Freizügigkeit.


Die Wirtschaft dürfte


erleichtert sein.

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