Süddeutsche Zeitung - 10.09.2019

(Darren Dugan) #1
von susanne klein

V


or ein paar Wochen habe er noch gar
nicht gewusst, dass er das Problem
schon wieder neu berechnen muss,
sagt Dirk Zorn. Doch dann lag die neue Be-
völkerungsprognose des Statistischen Bun-
desamts auf seinem Tisch, und Zorn las:
Die Anzahl der Kinder in Deutschland wer-
de bis Anfang der 2030er Jahre weiter stei-
gen. „Das hat natürlich Folgen für die Schu-
len, zuallererst für die Grundschulen“, sagt
der Soziologe. Gemeinsam mit dem Bil-
dungsforscher Klaus Klemm überprüfte
er auf Basis der neuen Zahlen den bislang
erwarteten Mangel an Grundschullehr-
kräften. Das Ergebnis: Allein bis 2025 feh-
len 11000 Grundschullehrerinnen und
-lehrer mehr als von der Kultusminister-
konferenz (KMK) angenommen. Ging die
KMK bisher von rund 15 300 fehlenden
Köpfen aus, so werden nach der Berech-
nung von Zorn und Klemm bis 2025 min-
destens 26300 Grundschullehrer mehr be-
nötigt.


Die Lücke war groß, jetzt ist sie riesig.
Schuld daran ist unter anderem, dass viele
Länder zu selten ihre Schülerzahlen und
Bedarfsanalysen aktualisieren, nur Bay-
ern macht das jährlich. Um fast 72 Prozent
vergrößert sich nun aufgrund der Bevölke-
rungsprognose die Lücke. Schon 2018 hat-
ten Zorn und Klemm veraltete Zahlen zum
Lehrerbedarf als Erste korrigiert, nun fah-
ren sie mit ihrer Analyse für die Bertels-
mann-Stiftung der Bildungspolitik erneut
in die Parade. Die schlechte Nachricht
kommt pünktlich zum Schulbeginn in Bay-
ern und Baden-Württemberg, woanders
liegen die großen Ferien schon länger zu-
rück. Überall haben die Kultusminister
Einstellungszahlen präsentiert, mehr oder
weniger alarmiert vom Lehrerengpass, der
die Länder unterschiedlich stark betrifft.
Bayern, Rheinland-Pfalz und Hamburg
scheint es einigermaßen gut gelungen zu
sein, ihre Stellen mit ausgebildeten Grund-
schullehrkräften zu besetzen. In Nord-
rhein-Westfalen aber sind von 3230Stel-
len rund 1470 noch offen, fast die Hälfte al-
so. Und das, obwohl das Land seit dem vori-
gen Jahr 666 Seiteneinsteiger in die Grund-
schulen geschickt hat – Menschen, die ein
Fach-, aber kein Lehramtsstudium vorwei-
sen können. „Wir lassen nichts unver-
sucht“, erklärte Schulministerin Yvonne
Gebauer (FDP), als sie die desaströsen Zah-
len bekannt geben musste.
Auch Baden-Württemberg hat massive
Probleme, ein Viertel der Grundschulleh-
rerstellen sind zum Schulstart am Mitt-
woch unbesetzt. In Berlin verkündete Bil-
dungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) da-
gegen: „Wir werden alle offenen Stellen be-
setzen können.“ Allerdings reicht es in den
Grundschulen der Hauptstadt nur bei je-
der siebten Stelle für eine Fachkraft, die für
den Unterricht der Jüngsten regulär ausge-
bildet wurde. Bei mehr als 1000 Einstellun-
gen ist das nicht der Fall.
Von solchen Notbehelfen hält der Grund-
schulforscher Jörg Ramseger nichts. Bei
der Einführung in die Schriftkultur, die
Mathematik und Sachkunde seien Laien-
pädagogen schädlich. „Allein für den Ein-
stieg ins Lesen und Schreiben gibt es vier
didaktische Konzeptionen. Die muss man
beherrschen, um auf die Unterschiede bei
Kindern eingehen zu können“, sagt er.
„Von diesem fundamentalen Bestandteil
des Grundschullehrerstudiums hat ein Sei-
teneinsteiger noch nie gehört.“ Ramseger
fordert deshalb ein striktes Verbot für Be-
helfslehrer wenigstens in den ersten zwei
Klassen, „denn was da kaputt gemacht
wird, kann nie wieder korrigiert werden“.
Auch Dirk Zorn von der Bertelsmann-
Stiftung ist skeptisch: „Bevor man Seiten-
einsteiger als Lösung sieht, sollte man alle


anderen Hebel gezogen haben.“ Viele Län-
der versuchen offenbar genau das. Neben
Seiteneinsteigern werden bereits Master-
studenten fürs Lehramt und Pensionäre re-
krutiert, Teilzeitkräfte zum Aufstocken
und künftige Ruheständler mit teils üppi-
gen Zulagen zum Bleiben bewegt. Clips auf
Instagram bewerben den Lehrerberuf,
Hochschulen werden verpflichtet, mehr
Studienplätze zu schaffen. Als probates
Mittel gilt, jungen Gymnasiallehrern, die
mit Überangebotsfächern wie Deutsch
oder Englisch keine Stelle finden, Zweit-
qualifikationen für den Grundschuldienst
anzubieten und einen späteren Wechsel
ans Gymnasium zu garantieren. So hat
Baden-Württemberg nun 86 Stellen be-
setzt.
Ein weiteres Instrument ist die Rück-
kehr zur Verbeamtung. Nur Berlin ist die-
sen Schritt noch nicht gegangen, obwohl
die Stadt nach Schätzung ihrer Bildungsse-
natorin dadurch jährlich 450 Lehrer an an-
dere Länder verliert. Dafür zählt Berlin zu
den Vorreitern bei der Besoldung. Seit Au-
gust beziehen Grundschullehrer dort das
Einstiegsgehalt eines Gymnasiallehrers, et-
wa 500 Euro mehr als zuvor. Auch Branden-
burg und Sachsen zahlen A13, Mecklen-
burg-Vorpommern folgt 2020, Bremen
hebt das alte Ständedenken zwischen Gym-
nasium und Grundschule stufenweise bis
2021 auf, Schleswig-Holstein bis 2026.
Und doch, es reicht nicht. Beispiel Sach-
sen: Zwar scheinen die seit Jahresbeginn
mögliche Verbeamtung und das attraktive
Einstiegssalär zu wirken. „Wir haben eine

insgesamt bessere Bewerberlage als 2018“,
sagt Dirk Reelfs, Sprecher des Kultusminis-
teriums. Die Seiteneinsteigerquote ist mit
20 Prozent so niedrig wie lange nicht
mehr, nur 22 Grundschullehrerstellen in
Sachsen sind noch offen, aber das Haupt-
problem bleibt – die Unterversorgung des
ländlichen Raums. „In der Region Bautzen
wollten wir 95 Grundschullehrer anstel-
len, bekommen haben wir 34“, klagt
Reelfs. Im Gegenzug wurden in Leipzig
60 Lehrer zu viel eingestellt – in der Hoff-
nung, manche aus der Stadt zu locken mit
guten Worten und Geld. Bis auf Thüringen

haben alle Ost-Länder Provinzzulagen ein-
geführt, Sachsen zahlt mit bis zu 600 Euro
monatlich die höchste Lockprämie. Die Re-
sonanz könnte besser sein. „Wir rollen den
jungen Lehrern den roten Teppich aus“, so
Reelfs. „Aber einer hat sogar gesagt: Ich
fahr lieber Taxi in Leipzig, als auf dem
Land zu unterrichten.“
In der Mangelregion Bautzen liegt auch
Löbau, 27 Kilometer vor der Grenze zu Po-
len. Dort leitet Grit Kahstein eine von zwei
kürzlich in der Provinz eröffneten Ausbil-
dungsstätten für Grundschullehrer. Zuvor
wurden Referendare nur in Leipzig, Dres-

den und Chemnitz geschult. „Weg von der
Zentralisierung“, das findet Kahstein rich-
tig. Im Sommer hat sie an der TU Dresden
für die Region geworben, jetzt lernen 25 Re-
ferendare in ihrer Einrichtung, weitere 25
sollen im Februar folgen. „Wenn ich direkt
in der Region ausbilde, dann werden die
jungen Leute 18 Monate lang in einer Schu-
le und einem Kollegium heimisch. Dabei
entsteht ein gewisser Klebeeffekt, denn
viele Lehrer identifizieren sich mit ihrer
Schule und wollen bleiben“, sagt Kahstein.
Und auch dabei hilft Sachsen nach. Um
1000 Euro steigt das Grundgehalt, wenn
die Nachwuchskräfte fünf Jahre lang auf
dem Land bleiben.
Noch ist Sachsen nicht da, wo es hinwill,
aber es bemüht sich. „Wir sehen Licht am
Ende des Tunnels, und das Licht wird hel-
ler“, sagte Kultusminister Christian Piwarz
zum Schulstart im August.
Da wusste er noch nicht, was Dirk Zorn
und Klaus Klemm gerade berechneten: Ge-
lingt es den Ländern nicht, die Lücke zwi-
schen Bedarf und Angebot trotz der ver-
schärften Prognose zu schließen, droht
der Lehrermangel sogar bis 2030 anzuhal-
ten, warnen die Bildungsforscher. Denn
selbst zum Ende des dritten Jahrzehnts
werden in den Grundschulen noch rund
160000 Kinder mehr sitzen als gedacht.

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auchden Podcast.
 sz.de/nachrichtenpodcast

Wenn sich Lehrer zu einer Tagung versam-
meln, ist das normalerweise kein Termin,
bei dem ein Staatsoberhaupt vorbei-
schaut. Ganz anders Frank-Walter Stein-
meier am kommenden Freitag: Der Bun-
despräsident reist nach Frankfurt zum
Kongress des Grundschulverbands und
wird in der Paulskirche eine Grundsatzre-
de zur Bedeutung der Grundschule für die
Demokratie halten. Der Anlass: Die Schule
für die Jüngsten wird 100 Jahre alt.
Die „für alle gemeinsame Grundschule“
wurde mit der Weimarer Reichsverfas-
sung von 1919 beschlossen. Das war, zu-
mindest auf dem Papier, eine gesellschaft-
liche Revolution. Damals bekamen Kinder
aus wohlhabenden Familien noch Hausun-
terricht, ärmere Kinder gingen in überfüll-
te Volksschulen. Auch die Trennung nach
Geschlechtern sowie evangelischen und ka-
tholischen Schülern war üblich. Mit der
neuen Verfassung kam die allgemeine
Schulpflicht. Die für alle verpflichtende

Grundschule sollte in der jungen Weima-
rer Republik Standesunterschiede über-
brücken und Gesellschaftsschichten zu-
sammenführen. Doch die Realität sah
meist anders aus. „Eine ‚Schule für alle‘
war das damals nicht wirklich“, sagt der Bil-
dungsforscher Heinz-Elmar Tenorth, eme-
ritierter Professor an der Humboldt-Uni-
versität Berlin. Körperlich oder geistig be-
hinderte sowie „sittlich gefährdete“ Kin-
der waren von den neuen Gesetzen ausge-
nommen, Privatschulen blieben erlaubt.
„Die alten Milieuprivilegien sowie Religi-
onsvorbehalte blieben teilweise bestehen“,
so Tenorth.
„Die wahre Errungenschaft von damals
ist, dass die Schulbildung überhaupt eine
Angelegenheit von Staat und Öffentlich-
keit wurde“, sagt der Bildungshistoriker.
Nicht jedem gefiel das. Die Kirche verlor
durch die Verfassung viel von ihrer Macht
im Bildungswesen an den Staat. Nur gegen
starke Widerstände der Koalitionspartner
erkämpfte die katholische Zentrumspar-
tei, dass die Kirche ihre Konfessionsschu-
len behalten durfte. Auch über die Dauer
der Grundschulzeit wurde heftig gestrit-
ten. Die Anhänger der neuen Schulform
forderten acht gemeinsame Schuljahre,
die Gegner wollten sie möglichst kurz hal-
ten. Am Ende einigte man sich auf vier Jah-
re. Die Grundschule war zudem nur ein
Teil der Volksschule – ohne eigene Lehrer,
Schulleitung und Organisation. „Das kam
erst mit der Grundschulreform in den
1960ern“, sagt Tenorth. „Sie gab der Grund-
schule ihre Identität.“ Auch die Trennung
der Konfessionen wurde erst dann aufge-
hoben; bis zur Inklusionsdebatte dauerte
es noch viele weitere Jahre. Was die heuti-
ge Grundschule mit der von damals noch
gemein hat? Auf 1919 gehe ein elementares
didaktisches Prinzip zurück, sagt der Bil-
dungsexperte: „Vom Kind aus zu denken,
ihm die Welt zu eröffnen und es mit grund-
legender Bildung an wissenschaftliche
Denkweisen heranführen.“
Heute gilt die Grundschule in Deutsch-
land als Erfolg. Eine längere Gemein-
schaftsschule, wie ursprünglich geplant,
gibt es aber auch 100 Jahre später nicht.
Nur in Berlin und Brandenburg lernen die
Kinder sechs Jahre zusammen. „Ein Para-
debeispiel für gemeinsame, demokrati-
sche Bildung sind diegrundskolasin den
skandinavischen Ländern“, sagt Tenorth.
In Schweden etwa dauert die Grundschule
ganze neun Jahre. max gilbert

2 HF2 (^) THEMA DES TAGES Dienstag,10. September 2019, Nr. 209 DEFGH
Schülerzahlentwicklung in der Grundschule
3300000
3200000
3100000
3000000
2900000
0
2020 2025 2030
SZ-Grafik: Mainka; Quelle: Bertelsmann Stiftung 2019
Jahrgangsstufen 1 bis 4 der Grundschulen,
Gesamtschulen und Waldorfschulen
168000
Schüler zusätzlich
Schülerzahlprognose auf Basis
des Statistischen Bundesamts
Schülerzahlprognose der
Kultusministerkonferenz
Lockruf ins Klassenzimmer
Studenten,Pensionäre, Seiteneinsteiger – die Bundesländer suchen mit vielfältigen Angeboten neue Lehrer,
um die Lücken an den Grundschulen zu schließen. Wirklich Erfolg haben sie aber wohl nur mit einem Mittel
Lehrermangel an GrundschulenDass demnächstTausende Pädagogen beim Unterricht für die Kleinsten fehlen werden,
war länger abzusehen. Doch dass es so viele sind, überrascht die meisten Länder. Die Bildungsminister haben es schlicht versäumt,
ihre Schülerzahlen und Bedarfsanalysen zu aktualisieren. Dafür werden sie nun teuer bezahlen müssen
Sechs gemeinsame Schuljahre
gibt es nur in
Berlin und Brandenburg
„Wir lassen nichts unversucht“,
sagt die Schulministerin.
Dennoch reicht es nicht
Riesenlöcher: Allein bis 2025 werden in Deutschland 11000 Grundschullehrerinnen und -lehrer fehlen. FOTO: MAURITIUSIMAGES / ASTRAKAN IMAGES
Eine
für alle
Die Grundschule wurde vor hundert
Jahren in der Verfassung verankert
Ein Angebot der Süddeutsche Zeitung GmbH, Hultschiner Str. 8, 81677 München.
Podiumsdiskussion
Whoah! We’re going to Ibiza. Ein Video und seine Folgen
Ein kurzes Video aus Ibiza bringt im Mai die ÖVP-FPÖ-Regierung zum Sturz – und Österreich international in die Schlagzeilen.
Kurz vor der Nationalratswahl stellt sich die Frage: Was hat die Affäre verändert?
Bastian Obermayer, Oliver Das Gupta und Peter Münch vom Rechercheteam der Süddeutschen Zeitung berichten, wie ihnen
das Filmmaterial mit Heinz-Christian Strache und Johann Gudenus zugespielt wurde und wie sie den Skandal um fragwürdige
Deals, mutmaßlich illegale Parteispenden und den geplanten Verkauf der Kronenzeitung aufdeckten.
Politikwissenschaftlerin Kathrin Stainer-Hämmerle und Publizistikprofessor Fritz Hausjell analysieren die Rolle der Medien,
die Folgen für die Parteien und die Stimmung im Land.



  1. September 2019 | 10.30 bis 12.30 Uhr | Burgtheater, Universitätsring 2, Wien


Begrüßung: Martin Kušej, Burgtheater
Moderation: Alexandra Föderl-Schmid, SZ

Tickets zu 7 Euro, ermäßigt 5 Euro an allen Kassen der Bundestheater und unter http://www.burgtheater.at/ibiza

Weitere Informationen auf:

sz-veranstaltungen.de

BURGTHEATER in Kooperation mit der Süddeutschen Zeitung.
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