Nachdem US-Präsident Donald Trump
im Februar dieses Jahres seine Absicht
verkündet hatte, Kelly Craft als Botschaf-
terin bei den Vereinten Nationen zu nomi-
nieren, dauerte es nicht lange, bis ein
Fernsehinterview vom Oktober 2017 auf-
tauchte, in dem Craft gefragt wurde, ob
sie an den Klimawandel glaube. Sie sagte,
dass sie „beide Seiten der Wissenschaft“
respektiere, was insbesondere die Demo-
kraten sehr erregte. Im Juli wurde sie den-
noch vom Senat als künftige Botschafte-
rin bestätigt, an diesem Dienstag wird sie
vereidigt, gerade rechtzeitig vor der UN-
Vollversammlung, die in der zweiten Sep-
temberhälfte stattfindet.
Was das Klima angeht, hat Craft ihre
Aussage später modifiziert. Sie glaube
durchaus, dass der Mensch Einfluss auf
das Klima habe. Damit ging sie zumindest
ein wenig auf Distanz zum Präsidenten,
der öfter angemerkt hat, dass zwar das Kli-
ma sich wandele, das aber nicht notwendi-
gerweise vom Menschen verursacht wer-
de. In Crafts Fall wurde diese Aussage
auch deshalb mit Interesse zur Kenntnis
genommen, weil sie seit 2016 in dritter
Ehe mit dem Milliardär Joe Craft verheira-
tet ist, der für einen der größten Kohlepro-
duzenten der USA arbeitet.
Die Crafts gehören zu den größeren
Geldgebern der Republikaner. Nach Anga-
ben derNew York Timesspendeten sie
2016 mehr als zwei Millionen Dollar für
Trumps Wahlkampf und für dessen Amts-
einführung. Im Gegenzug nominierte
Trump Kelly Craft im Juni 2017 als Bot-
schafterin in Kanada. Es ist sowohl bei De-
mokraten als auch bei Republikanern
durchaus üblich, dass großzügige Spen-
der mit Botschafterposten belohnt wer-
den. Ungewöhnlich ist hingegen, dass ein
so bedeutender Posten wie der bei den Ver-
einten Nationen an jemanden vergeben
wird, der nicht über langjährige Erfah-
rung in der Politik verfügt.
Die 57-jährige Craft stammt aus Kentu-
cky, wo sie zur Schule ging, studierte und
eine Unternehmensberatung leitete.
2004 engagierte sie sich als Spenden-
sammlerin für den damaligen Präsiden-
ten George W. Bush. Dieser ernannte sie
2007 zur Delegierten bei den UN. Zu ihren
Schwerpunkten gehörten die Beziehun-
gen der USA zu afrikanischen Ländern.
Ihr neuer Posten bei den Vereinten Nati-
onen in New York gilt als das zweitwich-
tigste außenpolitische Amt in der Regie-
rung. Crafts Vorgängerin Nikki Haley
hatte im Herbst vergangenen Jahres über-
raschend erklärt, dass sie Ende 2018
zurücktreten werde. Seither hatte ihr
Stellvertreter Jonathan Cohen die USA
interimsmäßig bei den UN vertreten. Ur-
sprünglich hatte Trump Heather Nauert
als Nachfolgerin Haleys nominieren wol-
len, eine ehemalige Fox-News-Moderato-
rin, die als Chefsprecherin für das Außen-
ministerium arbeitete. Diese Wahl wurde
kritisiert, weil Nauert über keinerlei diplo-
matische Erfahrung verfügte. Nauert ver-
zichtete im Februar darauf, nominiert zu
werden, offiziell aus familiären Gründen.
Laut mehreren Medienberichten hatte ihr
Rückzug jedoch damit zu tun, dass sie ein
Kindermädchen beschäftigt hatte, das kei-
ne Arbeitserlaubnis hatte.
Auf Kelly Craft kam Trump Beobach-
tern in Washington zufolge, weil sich
Mitch McConnell für sie starkgemacht
hatte. McConnell ist der Mehrheitsführer
im Senat und stammt ebenfalls aus Kentu-
cky. Craft und er kennen einander gut, sie
hat in Kentucky regelmäßig Spenden für
republikanische Kandidaten gesammelt.
Nachdem Trump sich für Craft entschie-
den hatte, sprach McConnell von einer
„phänomenalen Wahl des Präsidenten“.
Bereits in zwei Wochen hat Craft die Ge-
legenheit, sich in großer Runde vorzustel-
len, wenn zum Klimagipfel und zur Voll-
versammlung Staats- und Regierungs-
chefs aus aller Welt nach New York reisen.
Es ist allerdings davon auszugehen, dass
sie die ganz große Bühne ihrem Chef über-
lassen muss. Donald Trump hat angekün-
digt, anlässlich der Zusammenkunft ein
paar Tage in seiner Heimatstadt zu ver-
bringen. christian zaschke
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von silke bigalke
W
ahlen in Russland sind für die
Machthaber ein Balanceakt. Ei-
nerseits sollen sie demokra-
tisch aussehen, andererseits will der
Kreml das Ergebnis vorherbestimmen.
Seine Gehilfen drehen an vielen kleinen
Schrauben, bis der richtige Kandidat ge-
winnt. Mittlerweile aber ist die Unzufrie-
denheit im Land so groß, dass der Kreml
immer stärker eingreifen muss. Nun
stimmt aus seiner Sicht weder das Wahl-
ergebnis wirklich, noch ist der schöne
Schein gewahrt. Vielleicht muss sich Prä-
sident Wladimir Putin bald für das eine
oder das andere entscheiden: demokrati-
scher Schein oder völlige Kontrolle.
Das Ergebnis der Regionalwahlen ist
zwar keine Niederlage für den Kreml. Es
ist aber auch kein Triumph. Man könnte
sagen, dass die Regierungspartei Einiges
Russland, einst von Wladimir Putin ge-
schaffen, ihre Mehrheit verteidigt hat –
wäre da jemand gewesen, gegen den sie
sich ernsthaft hätte zur Wehr setzen müs-
sen. Wo echte Konkurrenz drohte, hat
man sie frühzeitig lahmgelegt. In Mos-
kau stürzte dabei die ganze demokrati-
sche Kulisse ein. Als die Behörden dort zu
offensichtlich eingriffen, haben die Bür-
ger protestiert.
Das ist das erste Problem des Kreml:
Die Menschen nehmen die Trickserei
nicht mehr klaglos hin. Wer Wahlen insze-
nieren will, braucht Wähler, die sich et-
was vorspielen lassen. Die Wahlbeteili-
gung war zwar nie besonders hoch, in
Moskau lag sie trotz der Aufregung der
vergangenen Wochen aber wieder nur
bei knapp 22 Prozent. Seit Jahren sinkt
der Wohlstand, sinkt das Vertrauen in die
Regierungsinstitutionen, in Partei, Pre-
mierminister – und inzwischen auch in
den Präsidenten. In Moskau sind viele
Wähler den einzigen Weg gegangen, ih-
ren Unmut zu zeigen: Sie haben den Kan-
didaten gewählt, der in ihrem Bezirk die
größten Chancen gegen jenen der Regie-
rungspartei hatte – egal, was sie von des-
sen politischen Ansichten hielten. Viele
Stimmen gingen so an die Kommunisten.
In Moskau hat Einiges Russland dadurch
zwar ein Drittel ihrer Sitze verloren, aller-
dings meist an Parteien, die mit ihr zu-
sammen im nationalen Parlament sitzen
- also an eine Opposition, die so loyal und
berechenbar ist, dass sie der Regierungs-
partei nicht im Weg steht. Deswegen
kann man kaum von Machtverlust spre-
chen. Dennoch müssen die Proteststim-
men Putin zu denken geben.
Das zweite Problem des Kreml ist,
dass sein Hauptwerkzeug für Wahlen
nicht mehr funktioniert: Die Regierungs-
partei Einiges Russland ist so unbeliebt,
dass die Parteizugehörigkeit einem Kan-
didaten schadet. Ihre Moskauer Abgeord-
neten sind deswegen als Unabhängige an-
getreten. Sogar bei einigen Gouverneurs-
wahlen hat die Regierungspartei offiziell
niemanden ins Rennen geschickt. Auch
dank dieses Tricks haben die Wunschkan-
didaten des Kreml überall gewonnen.
All das zeigt, dass Einiges Russland als
Partei praktisch am Ende ist. Sie agiert
wie eine Fußballmannschaft, die ohne
Gegner auf dem Feld steht und trotzdem
ein Tor nach dem anderen kassiert. Bei
den nationalen Parlamentswahlen 2021
wird sie Putin kaum noch helfen können,
eine Mehrheit zu sichern. Das bedroht Pu-
tins Macht zwar nicht. Es bedeutet aber,
dass er sich andere Strukturen ausden-
ken muss, um sie zu erhalten. Und dass er
vielleicht nicht mehr beides haben kann,
den Anschein demokratischer Legitimi-
tät und die Sicherheit eines Autokraten.
von max hägler
E
in schwerer Porsche-SUV rast in Ber-
lin auf einen Gehweg, vier Men-
schen sterben. Die Ursache der To-
desfahrt ist nicht geklärt. War der Wagen
schuld, wegen eines fehlerhaften Assis-
tenzsystems? Oder der Fahrer, der viel-
leicht gesundheitliche Probleme hatte?
Und hätte so etwas nicht auch mit einer Li-
mousine passieren können? Ausschließ-
lich an diesem Crash die Gefahren von
SUVs und Geländewagen zu kritisieren,
ist unseriös. Und doch ist es gut, dass nach
diesem Unfall gerade eine grundlegende
Debatte über sehr große Autos entsteht.
Diese Autos bringen unserer Gesell-
schaft enorme Probleme – und werden
doch immer beliebter. Jeder dritte Käufer
greift mittlerweile zu solch einer Fahr-
zeugklasse. Auf der Automobilausstel-
lung IAA, die diese Woche startet, werden
etliche solcher aufgepumpten Autos aus-
gestellt. Sie liegen im Trend.
Die Probleme sind offensichtlich: Grö-
ße und Gewicht. Eineinhalb oder zwei Ton-
nen müssen erst einmal bewegt werden,
das kostet viel Energie. Dass der Verkehrs-
sektor in Deutschland beim CO2-Ausstoß
nicht besser wird, liegt genau daran. Eine
absurde Entwicklung in Zeiten der Klima-
krise. Übrigens sieht die Bilanz mancher
neuer Elektro- und Hybridwagen nicht
viel besser aus: Der Strom muss ja irgend-
woher kommen, und die großen deut-
schen E-SUVs verbrauchen teilweise dop-
pelt so viel wie kleine, leichte E-Autos aus
Asien. Apropos Größe: Der Durchschnitts-
parkplatz ist 2,30 Meter breit. Ein großer
SUV passt da gerade so hinein, manchmal
auch nicht. Noch eine absurde Entwick-
lung in sowieso sehr engen Innenstädten.
Und ja, auch um die Sicherheit geht es
bei der Debatte um SUVs. Solche Wagen
würden gekauft, sagen die Automanager,
weil die Insassen sich sicherer fühlten.
Doch die Sicherheit ist einseitig. Im Falle
eines Crashes sind alle Kleineren unterle-
gen. Fußgänger und Radler haben oft kei-
ne Chance; es erwischt sie häufig auf
Brusthöhe. Kleinwagen, die nur die halbe
Masse aufbringen, werden zermalmt bei
der Kollision mit einem SUV.
Eine Spirale des automobilen Aufrüs-
tens hat begonnen, und die mächtigen
Konzerne befördern den Trend nach Kräf-
ten: möglichst viel schweres Blech verkau-
fen, denn damit verdient man mehr Geld
als mit kleinen Autos. Das Ziel von Volks-
wagen lautet deswegen: In fünf Jahren
soll jeder zweite Wagen ein SUV sein. Mer-
cedes bewarb sein neues Modell mit dem
Spruch: „Sie jagen gern Abenteuer in der
Großstadt?“ Im Angesicht des Unfalls wur-
de die Kampagne gerade gestoppt.
Der Markt entwickelt sich in die falsche
Richtung, zu Lasten der Allgemeinheit,
und deshalb braucht es nun harte Regeln
der Politik. Keine Einfahrverbote in Städ-
te, das wäre zu viel, aber das Prinzip muss
deutlich mehr als heute lauten: Wer mit
seinem Wagen viel mehr Raum und Res-
sourcen verbraucht und ein höheres Risi-
ko darstellt als andere, sollte dafür sehr
deutlich zahlen – vielleicht abzüglich ei-
nes Kinderbonus. Der Ansatz von SPD-Fi-
nanzminister Olaf Scholz geht in die richti-
ge Richtung: Übergroße Wagen durch
Steuern deutlich teurer machen, die Nut-
zer kleinerer E-Autos entlasten. Auch
wenn die Premiumhersteller aufheulen.
Und die Kommunen und die Polizisten
sollten zugleich genauer hinschauen in
den Innenstädten, wo immer öfter SUVs
tatsächlich zu Stadtpanzern werden, auf
Gehwege ragen oder Kreuzungen zustel-
len, mangels Parkplatz. Nachsicht ist da
nicht angebracht, sondern ein Knöllchen.
A
uf den zweiten Blick ist die Zahl
noch alarmierender, als sie auf den
ersten schon wirkt: 26 000 Lehr-
kräfte könnten 2025 an deutschen Grund-
schulen fehlen, der Mangel ist eklatant.
Sprengstoff liegt vor allem darin, dass die-
ser Mangel Deutschlands Bildungssys-
tem noch unfairer machen könnte.
Wenn Lehrerinnen und Lehrer hände-
ringend gesucht werden, heißt das auch:
Sie können sich die Stelle aussuchen, ge-
hen oft lieber in die Viertel mit bürgerli-
cher Klientel – und machen einen Bogen
um Schulen, wo Kinder Sprachdefizite ha-
ben und Eltern nicht wie selbstverständ-
lich bei Hausaufgaben helfen. Brenn-
punktschulen fällt es schon jetzt schwer,
Stellen zu besetzen. Sie müssen oft auf
Quereinsteiger zurückgreifen, die nicht so
schlecht sind wie ihr Ruf, aber ihrerseits
besondere Unterstützung bräuchten.
Die Bildungspolitiker müssen daher
nicht nur ihre Stellenprognosen regelmä-
ßiger aktualisieren und ihre Personalpla-
nung verbessern. Sie müssen auch dafür
sorgen, dass der Lehrermangel nicht wei-
ter vor allem die Schulen trifft, die schon
jetzt benachteiligt sind. Man könnte Leh-
rern Zulagen zahlen, wenn sie freiwillig an
Brennpunktschulen unterrichten. Oder
die Behörden teilen die Lehrkräfte wieder
stärker zentral den Schulen zu. Das mag
nicht populär sein bei den Lehrern, aber
vielleicht doch nötig. bernd kramer
I
n einer Demokratie ist es für die Poli-
tik zwingend, die Nähe zum Bürger zu
suchen, also die eigene Agenda mit
der Bedürfnisstruktur der Menschen ab-
zugleichen. Nicht immer ist das, was sich
dabei als populär entpuppt, das Richtige
für die gesamte Gesellschaft. Oft aber för-
dert diese Art der Tuchfühlung ein ganz
anderes Ärgernis zutage: dass die Politik
den gesellschaftlichen Entwicklungen hin-
terherhinkt, zum Teil seit vielen Jahren.
Nirgends wird das so deutlich wie in
der Familienpolitik. Dass etwa beide zu
gleichen Teilen arbeiten und sich um die
Kinder kümmern, ist unter Müttern und
Vätern inzwischen genauso beliebt wie
das traditionelle Modell des hauptsäch-
lich oder alleinverdienenden Vaters. Väter
sollen Windeln wechseln, da sein, das Ba-
by nachts durch die Wohnung tragen und
die Karriere der Frau mit ermöglichen.
Die Politik hat mit Krippenausbau und
Elterngeld einiges getan, um dem Para-
digmenwechsel gerecht zu werden, aber
nicht genug. Trotzdem wird die nächste
Elterngeldreform wieder keine Anhebung
der Vätermonate mit sich bringen. Trotz-
dem kommt der Anspruch auf Ganztags-
betreuung in der Grundschule erst 2025,
und als Fortschritt gilt schon die Einigung
von Bund und Ländern, dass „ganztags“
acht Stunden bedeuten soll. Für dieses
Schneckentempo ist der gesellschaftliche
Wandel zu rasant. henrike roßbach
M
anche Erscheinungsformen von
politischer Dummheit verdienen
es eigentlich nicht, dass man sie
ernst nimmt. Leider muss man das im Fall
jener hessischen Lokalpolitiker dennoch
tun, die in Altenstadt einen dem Verfas-
sungsschutz wohlbekannten NPD-Mann
zum Ortsvorsteher wählten, weil sich
sonst keiner fand – und weil der Vertreter
der rechtsextremen Partei Mails schrei-
ben könne, wie es unter anderem hieß.
Was er privat mache, sei sein Bier, hieß es
aus dem Ortsbeirat, in dem Mitglieder aus
CDU, SPD und FDP für ihn stimmten.
So viel Narrheit ist selten. Demokraten
stimmen für eine Partei, welche das demo-
kratische System der Bundesrepublik
kaum verhüllt ablehnt. Das ist so, als wür-
den sich die Schafe einen Wolf zum Anfüh-
rer wählen und erklären: Wenn er privat
gern Schafe verspeise, sei das sein Bier.
Natürlich ist die Bedeutung des Vor-
falls in einem Kleinstadtviertel für die Re-
publik ziemlich überschaubar. Aber es
war gut und notwendig, dass die Spitzen
der demokratischen Parteien das Verhal-
ten ihrer Lokalpolitiker scharf verurteil-
ten. Mit Extremisten darf es keine Koope-
ration geben; nur dann bleibt diese Demo-
kratie stark und notfalls wehrhaft. Immer-
hin bleibt den Verirrten von Altenstadt ein
Ausweg: Wer in der Demokratie gewählt
wird, kann auch wieder abgewählt wer-
den. joachim käppner
D
as deutsche Gesundheitssys-
tem gehört zu den besten der
Welt. Wer krank ist, be-
kommt alles, was zur Gene-
sung nötig ist. Die Wahrheit
ist aber: Wer Pech hat, bekommt sehr viel
mehr als das. Das Gesundheitswesen ist
nicht nur eine Institution der Nächstenlie-
be, es ist auch ein Wirtschaftszweig. Hier
werden Milliarden bewegt, die Folge ist
ein Paradoxon: Finanziell haben Kliniken
wenig davon, wenn sie Patienten gut bera-
ten und mit einfachen Mitteln heilen. Sie
profitieren stattdessen von Menschen, die
sie aufwendig operieren, oder von sol-
chen, die sie an Geräte anschließen und de-
ren Genesung sich möglichst lange hin-
zieht. Das große Geld gibt es für maxima-
len Aufwand.
Doch das Gesundheitssystem ist kein
Markt wie andere, hier geht es um das Le-
ben von Menschen. Trotzdem wirken gera-
de hier ökonomische Mechanismen mit
teils fatalen Folgen. Klinikmanager und
Ärzte werden verleitet, in Stückzahlen zu
denken. Je mehr Herzkatheter, künstliche
Hüften oder Knieprothesen sie ihren Pati-
enten verpassen, desto besser ist das für
ihre Bilanz. Je länger ein Mensch an le-
benserhaltende Maschinen gehängt wird,
desto höher der Erlös. Die künstliche Beat-
mung von Schwerkranken wird absurder-
weise lukrativer, wenn Ärzte weniger für
sie tun. Mediziner spüren den ökonomi-
schen Druck, der auf ihren Entscheidun-
gen lastet. Manche von ihnen profitieren
auch persönlich von einer Überbehand-
lung der Patienten. Dass Ärzte Bonuszah-
lungen bekommen pro Eingriff, den sie
vornehmen, ist zwar verpönt, aber nicht
verboten.
Krankenhäuser sind hierarchische Or-
te. Wenn ein leitender Arzt immer wieder
zweifelhafte Behandlungen anordnet,
fällt seinen Mitarbeitern Zynismus oft
leichter als Protest. Zugleich ist das Risi-
ko, wegen einer unnötigen Operation be-
langt zu werden, gering. Denn obwohl die
gefährlichen Anreize bekannt sind, ist die
Kontrolle löchrig.
Vor dem Gesetz ist zwar jeder Eingriff,
dem ein Patient nicht zugestimmt hat,
schlicht Körperverletzung. Doch das
Rechtssystem bringt Ärzten großes Ver-
trauen entgegen. Sie sind in ihrem medizi-
nischen Urteil frei. Der Medizinische
Dienst der Krankenkassen überprüft kei-
ne ihrer Diagnosen, sondern lediglich die
Rechnungen der Kliniken und Pflege-
dienste. Patienten können deshalb nur
schwer beweisen, dass es auch ohne die
Knieprothese gegangen wäre.
Nicht nur für Patienten, auch für Poli-
zisten und Staatsanwälte ist das Gesund-
heitswesen viel zu oft eine Black Box. Das
Regelwerk ist komplex, die medizini-
schen Fragen diffizil. Korruption findet
nicht unbedingt in Form von Geldbündeln
statt, oft beginnt sie mit Gefälligkeiten
und Absprachen zwischen Ärzten, die
schwierig nachzuweisen sind. Wenn etwa
ein Orthopäde alle seine Patienten zu ei-
nem befreundeten Radiologen schickt
und dieser ihm dafür Prämien zahlt, dann
fällt das erst einmal niemandem auf. Wer
Rückenschmerzen hat, freut sich womög-
lich sogar über die umfangreiche Untersu-
chung. Erst wenn Menschen, die hilflos in
einer Klinik liegen, zum Objekt solcher
Handelsbeziehungen werden, ist der Miss-
brauch offenkundig. Deutschland benö-
tigt daher dringend mehr geschulte Er-
mittler, die das Gesundheitswesen als Tat-
ort durchleuchten.
Die Politik muss die falschen Anreize,
durch die Patienten zu Schaden kommen,
abschaffen. Die Bezahlung von Ärzten
und Kliniken darf sich nicht mehr nur
nach der reinen Masse der Behandlungen
richten. Entscheidend sollte sein, dass ein
Mensch gesund wird. Wenn sich Ärzte Zeit
für ein Gespräch mit Patienten und deren
Familien nehmen, um mit ihnen über die
Konsequenzen von Operationen, über Le-
ben, Tod und Pflegebedürftigkeit zu spre-
chen, muss auch das vergolten werden.
In Krankenhäusern, die schwerstkran-
ke Patienten über längere Zeit behandeln
oder riskante Operationen anbieten, soll-
te eine bestimmte Ausstattung und Ausbil-
dung der Mediziner Pflicht werden. Bis-
lang hat der Staat die Krankenhausland-
schaft weitgehend sich selbst überlassen.
So kämpft jedes Provinzhospital mit teils
fragwürdigen Mitteln um sein wirtschaft-
liches Überleben, auch auf Kosten der Pati-
enten. Es wird Zeit für eine mutige staatli-
che Planung: Überzählige Häuser gehören
geschlossen – zugunsten einer stärkeren
Förderung spezialisierter Zentren. Weil
das Gesundheitswesen eben kein privat-
wirtschaftlicher Markt ist, muss auch
Steuergeld in die Erhaltung und den Aus-
bau von Kliniken fließen. Heute sind die
Häuser gezwungen, das Geld, das sie im
OP erwirtschaften, in die Reparatur kaput-
ter Fenster zu stecken statt in Medizin.
Für Patienten und ihre Familien sollte
es selbstverständlich und viel einfacher
werden, die Meinung eines zweiten Medi-
ziners einzuholen. Das Recht, sich für
oder gegen eine Therapie zu entscheiden,
gilt nicht nur für Ärzte, sondern ganz be-
sonders für Patienten. Damit nicht das
Pech darüber entscheidet, ob man behan-
delt oder überbehandelt wird.
Es ist noch kein Meister vom
Himmel gefallen. Das weiß
der Volksmund und meint
damit, dass es zum Erwerb
von Fachwissen und zum Er-
lernen von Handwerkskunst vor allem
Zeit und Übung braucht. Einem Meister,
abgeleitet vom lateinischen Magister, al-
so Lehrer, traute man dieses Wissen zu.
Bereits im Mittelalter gab es Meister bei
den städtischen Zünften: Die Handwer-
ker einer Stadt schlossen sich darin zu-
sammen, um gemeinsam Interessen
durchzusetzen. Das fing bei Rohstoffliefe-
rungen an, ging über Löhne und Absatz-
mengen bis zu Witwenversorgung und
kommunaler Politik. Zu den Mitgliedern
einer Zunft zählten Lehrlinge, Gesellen
und eben die Meister, wobei nur Letztere
stimmberechtigt waren. So sicherten die
stark dynastischen Meisterfamilien ihre
Macht innerhalb und außerhalb der
Zunft. Mit der Industrialisierung und der
Einführung der Gewerbefreiheit durch
die Preußen im deutschen Reich änderte
sich die Stellung des Handwerks, das drei-
stufige Modell der Berufsausbildung
aber blieb und wurde auf die Industrie
übertragen. Wesentlich für den Meister-
brief sind das Beherrschen des Berufs,
Verständnis für Buchhaltung und die Fä-
higkeit, auszubilden. 2004 war die Meis-
terpflicht in vielen Berufen weggefallen,
nun will die Regierungskoalition in zwölf
Gewerken zurück zum Meister. mxh
4 HF3 (^) MEINUNG Dienstag,10. September 2019, Nr. 209 DEFGH
FOTO: CHRIS DONOVAN/AP
RUSSLAND
Scheindemokratie
SUV
Auto aus Absurdistan
BILDUNG
Ungerechte Schule
FAMILIENPOLITIK
Im Schneckentempo
RECHTSEXTREMISMUS
Nicht sein Bier
MangelberufLehrer sz-zeichnung: sinisa pismestrovic
GESUNDHEITSSYSTEM
Geldquelle Patient
von kristiana ludwig
AKTUELLES LEXIKON
Meister
PROFIL
Kelly
Craft
Ungewöhnliche
Besetzung als
UN-Botschafterin
Putins Partei ist am Ende.
Er braucht ein anderes Mittel,
um seine Macht zu sichern
Eine Spirale der Aufrüstung
ist in Gang, sie geht zu
Lasten der Allgemeinheit
Provinzhospitäler kämpfen um
ihr wirtschaftliches Überleben –
teils mit fragwürdigen Mitteln