Süddeutsche Zeitung - 10.09.2019

(Darren Dugan) #1
von silke bigalke

Moskau– Der erste Hinweis, dass bei der
Moskauer Wahl nicht alles nach Plan lief,
kam vom Umfrageinstitut Wziom. Die
kremlnahe Organisation liefert normaler-
weise erste Prognose, nachdem die Wahllo-
kale schließen. Am Sonntag hatte sie es da-
mit nicht eilig. Angeblich hatten sich viele
Wähler geweigert, Auskunft zu geben.
Trotzdem konnte die Regierungspartei
ihre Verluste nicht lange verstecken: Eini-
ges Russland gab ein Drittel ihrer Sitze im
Moskauer Stadtparlament ab und kontrol-
liert nun nur noch 25 der 45 Mandate. Sie
behält damit die Mehrheit, wie praktisch
überall in dem riesigen Land, in dessen 85
Regionen die Hälfte aller Wahlberechtig-
ten zur Abstimmung aufgerufen waren.
Auch bei den 16 Gouverneurswahlen set-
zen sich die Kandidaten des Kreml durch.
Einerseits ist es angesichts miserabler
Umfragewerte ein Wunder, dass es recht
glimpflich für die Regierungspartei aus-
ging. Andererseits hatte sie gerade in Mos-
kau alle Register gezogen, um Schlimme-
res zu verhindern: Sie hatte die unabhängi-
ge Opposition ausgeschlossen, die Wähler
noch kurz vor der Abstimmung mit höhe-
ren Renten beschenkt, hatte sie mit einem
großen Stadtgeburtstagsfest in die Wahllo-
kale locken wollen – dennoch stimmten

nur knapp 22 Prozent der Berechtigten ab.
Viele Kandidaten von Einiges Russland hat-
ten sich als Unabhängige maskiert, so un-
beliebt ist die Regierungspartei inzwi-
schen bei den Wählern. In der Hauptstadt
kam ihr Name auf den Stimmzetteln gar
nicht vor. Trotzdem behält sie die Mehr-
heit, so funktioniert gelenkte Demokratie.

Dazugewonnen haben vor allem die
Kommunisten und die Partei Gerechtes
Russland. Beide sitzen auch im nationalen
Parlament, gehören als gebilligte Oppositi-
onsparteien zum System des Kreml – in-
dem sie Stimmen von Protestwählern ein-
sammeln, ohne sich der Regierungspartei
in den Weg zu stellen. Auch deswegen
kann man nun kaum von einem Machtver-
lust sprechen. Aber: Die Kremlkritiker ha-
ben es geschafft, der Regierungspartei ei-
nen Denkzettel zu verpassen. Selbst deren
Moskauer Parteichef verlor seinen Sitz im
Stadtparlament.
Eine normalerweise wenig beachtete Re-
gionalwahl ist so zur Krise der Mächtigen
in Moskau geworden. Ihr Versuch, jeden
politischen Wettbewerb zu verhindern,

war zu offensichtlich gewesen: Die Wahl-
kommission hatte fast alle unabhängigen
Kandidaten, darunter prominente Lokal-
politiker, wegen angeblicher Formfehler
aussortiert. Daraufhin protestierten Zehn-
tausende in der Hauptstadt.
Kurz vor der Wahl riefen einige Kreml-
kritiker die Wähler zu einer neuen Taktik
auf: Sie sollten in ihren Bezirken für den
Kandidaten mit den größten Chancen stim-
men, die Regierungspartei zu besiegen. Ei-
ne umstrittene Strategie: Für viele bedeute-
te sie, gegen ihre politische Überzeugung
für die Kommunisten zu stimmen – aus
Mangel an echten Alternativen. Einer, der
diese Taktik empfahl, war Ilja Jaschin. Er
ist bereits Bezirksabgeordneter, war aber
für die Wahl zum Stadtparlament nicht zu-
gelassen worden. Die vergangenen Wo-
chen hat er in Haft verbracht, weil er zu Pro-
testen aufgerufen hatte. Erst am Samstag
kam er frei und veröffentlichte tags drauf
ein Foto mit dem alternativen Kandidaten
in seinem Wahlkreis: Der Hochschullehrer
Magomet Jandijew war für die Partei Ge-
rechtes Russland angetreten und gewann
in Jaschins Bezirk. „Der größte Teil meines
Sieges folgt daraus, dass Ilja Jaschin mich
ausgewählt hat“, sagte er.
Auch Ljubow Sobol, eine der nicht zuge-
lassenen Kandidatinnen aus dem Team
von Kremlkritiker Alexej Nawalny, folgte

der Taktik. Sie hatte die Proteste mitange-
führt. Sogar der Anschein von Demokratie
würde nun beerdigt, sagt sie am Sonntag.
Neben den Parteien der System-Opposi-
tion gewann aber auch die liberale Partei
Jabloko vier Sitze, sie gilt als unabhängig
und gemäßigt. Ihrem früheren Chef Sergej
Mitrochin war es als einzigem Kremlkriti-
ker gelungen, seine Kandidatur vor Ge-
richt durchsetzen – und er gewann seinen
Wahlkreis. Auch Darja Besedina von Jablo-
ko freute sich bei Twitter über ihren Sieg,
schrieb aber: „Wir dürfen nicht vergessen,
dass dies keine echten Wahlen waren.“
Die Moskauer Wahl war die auffälligste,
für Präsident Wladimir Putin jedoch nicht
die wichtigste. Bei den Gouverneurswah-
len im vergangenen Herbst hatten drei
Kandidaten des Kreml gegen Herausforde-
rer verloren, die eigentlich gar nicht ange-
treten waren, um zu gewinnen. Dieses Mal
aber setzten sich Putins Wunschkandida-
ten durch, darunter der Gouverneur von
St. Petersburg. Ihm hatten Mitarbeiter Na-
walnys zuvor Manipulation vorgeworfen.
Eine krachende Niederlage erlitt die Re-
gierungspartei in der Region Chabarowsk
im Fernen Osten. Dort hatte 2018 ein Kan-
didat der rechten, nationalistischen Partei
LDPR die Gouverneurswahl gewonnen,
jetzt holte die Partei eine deutliche Mehr-
heit im Regionalparlament.  Seite 4

Uneiniges Russland


Die Regierungspartei verliert bei den russischen Regionalwahlen teilweise dramatisch. Die ganz große Blamage
für den Kreml bleibt jedoch aus – weil die meisten echten Oppositionellen gar nicht antreten durften

Damaskus/Beirut– Im Konflikt zwi-
schen Israel und seinem Erzfeind Iran
ist es erneut zu Zwischenfällen gekom-
men. Nach Angaben der israelischen
Armee feuerten schiitische Milizen mit
engen Verbindungen zu Teheran am
Montag vom Rand der syrischen Haupt-
stadt Damaskus aus mehrere Raketen
in Richtung Israel. Keines der Geschos-
se habe jedoch israelisches Gebiet ge-
troffen. Im Süden des Nachbarlandes
Libanon schoss die proiranische Schi-
itenmiliz Hisbollah zudem nach eige-
nen Angaben eine israelische Drohne
ab. Eine israelische Armeesprecherin in
Tel Aviv bestätigte, eine Drohne des
Militärs sei am Vorabend bei einem
„Routineeinsatz“ auf libanesischem
Gebiet niedergegangen. Unklar war
zunächst, ob die beiden Zwischenfälle
in Verbindung mit Luftangriffen im
Osten Syriens standen, bei denen Akti-
visten zufolge mindestens 18 Kämpfer
ebenfalls proiranischer Schiitenmilizen
getötet wurden. Jets unbekannter Her-
kunft hätten in dem Ort Bukamal an
der Grenze zum Irak Militärposten und
Waffenlager bombardiert, meldete die
Syrische Beobachtungsstelle für Men-
schenrechte am Montag. Israel greift
regelmäßig Ziele in Syrien an, um dort
die militärische Infrastruktur Irans zu
zerstören. Teheran ist im syrischen
Bürgerkrieg ein wichtiger Verbündeter
der Truppen von Machthaber Baschar
al-Assad und unterstützt dort schiiti-
sche Milizen. Zu ihnen zählt auch die
libanesische Hisbollah, die in Syrien an
der Seite der Regierung kämpft. Sie ist
wie Iran mit Israel verfeindet. Die Span-
nungen zwischen Israel und der Hisbol-
lah hatten in den vergangenen Wochen
zugenommen. Die gegenseitigen Angrif-
fe nährten die Sorge vor einer weiteren
Eskalation. Zuletzt war es 2006 zu ei-
nem rund einmonatigen Krieg zwi-
schen Israel und der Hisbollah gekom-
men, den die Schiitenmiliz als Sieg feier-
te. dpa


Kopenhagen– Die Vorbereitung des
abgesagten Besuchs von US-Präsident
Donald Trump in Kopenhagen hat die
dänische Polizei rund 536 000 Euro
gekostet. Das berichtete der Dänische
Rundfunk am Montag. „Zu den Aufwen-
dungen zählen unter anderem Entschä-
digungen aufgrund von Urlaubsstornie-
rungen, Annullierungen von gebuchten
Unterkünften, Betriebskosten für Aus-
rüstung und Material sowie Planungs-
zeiten“, heißt es demnach in den Akten
der Polizei. Trump hatte seine Reise
abgesagt, weil die dänische Regierung
mit ihm nicht über einen Verkauf von
Grönland verhandeln wollte. dpa


Rom– Papst Franziskus hat bei der
dritten und letzten Etappe seiner Reise
nach Ostafrika in Mauritius eine Frei-
luftmesse mit Zehntausenden Gläubi-
gen gefeiert. Bei dem Gottesdienst in
der Hauptstadt Port Louis des vor der
Ostküste Afrikas gelegenen Inselstaats
(FOTO: AFP)beklagte er am Montag Arbeits-
losigkeit und soziale Ausgrenzung jun-
ger Generationen. Er kritisierte, dass
„trotz wirtschaftlichen Wachstums, das
euer Land in den vergangenen Jahrzehn-
ten erlebt hat, die jungen Menschen am


meisten leiden“. Der Mangel an Berufs-
aussichten raube jungen Menschen die
Möglichkeit, die eigene Zukunft zu
gestalten, beklagte das katholische
Kirchenoberhaupt. „So sind sie ver-
wundbar und fast ohne Halt angesichts
der neuen Formen der Sklaverei dieses



  1. Jahrhunderts“. Unter Anspielung auf
    den hohen Drogenkonsum warnte der
    Papst vor „Händlern des Todes“. An
    diesem Dienstag wird das Kirchenober-
    haupt nach Rom zurückkehren. epd


São Paulo– Die Abholzung am Amazo-
nas schreitet voran. Im August wurden
laut dem staatlichen Klimainstitut Inpe
222 Prozent mehr abgeholzt als im Au-
gust 2018. Nachdem das Institut für
Juni 88 Prozent und für Juli 278 Prozent
mehr Rodungen gezählt hatte, entließ
Staatspräsident Jair Bolsonaro den
zuständigen Direktor. Die Regierung
bezeichnet die Zahlen als falsch. Unter-
dessen wurde im Bundesstaat Amazo-
nas ein Mitarbeiter der Indianerschutz-
behörde Funai ermordet. Der 31-jährige
Maxciel Pereira dos Santos arbeitete in
einer abgelegenen Region an der Gren-
ze zwischen Brasilien, Kolumbien und
Peru. Mehrere unkontaktierte Gemein-
schaften leben hier. Die Schutzstation
der Funai soll verhindern, dass Holzfäl-
ler, Jäger oder Goldsucher in das Gebiet
eindringen; in den letzten Monaten war
der Posten mehrmals angegriffen wor-
den. Am vergangenen Freitag wurde
Pereira dos Santos dann auf seinem
Motorroller von zwei Kugeln in den
Kopf getroffen. sz/kna


Rom– In und vor dem Palazzo Montecito-
rio, dem Palast der italienischen Abgeord-
netenkammer, hat sich am Montag Er-
staunliches zugetragen. Drinnen hielt der
alte und neue Premier Giuseppe Conte,
Chef einer frisch geformten Koalition aus
Cinque Stelle und Sozialdemokraten, seine
programmatische Rede, mit der er um
Vertrauen warb. Während draußen, unter
Trikoloren, der rechte Aufsteiger der ver-
gangenen Jahre, Matteo Salvini, mit einer
Protestaktion zusammen mit den postfa-
schistischen Fratelli d’Italia seine Anfänge
als Oppositionschef beging. Nicht dabei:
Silvio Berlusconis bürgerliche Forza Italia,
die sich immer mehr von Salvini absetzt.
Das Ergebnis einer Augustkrise in zwei Bil-
der gefasst, in und vor dem Palazzo. Die Ita-
liener müssen sich erst an die neue Konstel-
lation gewöhnen, vor einem Monat hielt
man sie noch für unvorstellbar.

Mehr als eine Stunde dauerte Contes Re-
de, zentral waren darin vor allem zwei The-
men: Haushalts- und Migrationspolitik.
Vom Gelingen in diesen Bereichen hängt
ab, ob die neuen Mächtigen Salvini verges-
sen machen und dessen Propaganda ent-
kräften können. Conte gab zu, dass der Etat
für 2020 „viele Herausforderungen“ dar-
stelle. Es gelte einerseits, eine Erhöhung
der Mehrwertsteuer zu verhindern. Eine
solche würde dann fällig, wenn Italien die
Defizitvorgaben aus Brüssel nicht einhält,
so ist es ausgemacht. Andererseits wolle
man die Steuern verringern, die auf den Ar-
beitnehmern lasteten. Conte beklagte,
dass alte europäische Regeln und Korsetts
das Wachstum bremsten statt es zu beglei-
ten, und plädierte deshalb für eine „Verbes-
serung“ des Stabilitätspakts. Denselben
Wunsch hatte am Wochenende schon Itali-
ens Staatspräsident Sergio Mattarella geäu-
ßert. Die neue Regierung erhofft sich in der
Zwischenzeit trotz hoher Staatsschulden
aus Brüssel erneut etwas Flexibilität beim
Defizit, damit ihr der Start glückt.
Solidarität von den europäischen Part-
nerstaaten erwarten die Italiener auch in
der Migrationsfrage, vor allem bei der Auf-
nahme der Ankömmlinge. Es gebe zwar
schon lange Abkommen zur Verteilung der
Migranten, doch würden sie noch immer
nicht befolgt. Conte forderte „humanitäre
Korridore nach Europa“ für Flüchtlinge,
die ein Recht auf Schutz hätten. Mit Ursula
von der Leyen, der designierten EU-Kom-
missionschefin, habe er schon fruchtbare
Gespräche geführt, die seinen Optimis-
mus nährten. Die Migration sei ein „epo-
chales Phänomen“, sagte er, sie gehöre ge-
meinsam behandelt. Die neue Regierung
hat vor, Salvinis kontroverse, sogenannte
Sicherheits- und Immigrationsdekrete I
und II zu ändern – wie genau, ist noch un-
klar. Der harte Umgang mit Seenotrettern
im Mittelmeer dürfte korrigiert werden.

Der Premier verhieß eine „Saison der
Reformen“. So soll das bereits weit gediehe-
ne Vorhaben, das Parlament um 345 Sitze
zu verkleinern, von einer Serie weiterer
Verfassungsänderungen begleitet werden.
Darauf besteht die Linke. Geplant ist auch
ein neues Wahlgesetz: eine Rückkehr zur
Verhältniswahl mit einer Sperrklausel von
vier Prozent. Außerdem sprach Conte von
einem „Green New Deal“, um der Forde-
rung nach mehr grüner Politik zu genü-
gen, sowie von der „Smart Nation“, einer
Kampagne zur Digitalisierung. In den letz-
ten Minuten wurde der Premier mehrmals
unterbrochen. „Wahlen, Wahlen“, skandier-
ten die Abgeordneten von den Rängen der
Lega und der Fratelli d’Italia.
Auf den Ausgang der Vertrauensabstim-
mung hatte der lautstarke Protest aber kei-
nen Einfluss. In der großen Kammer mit ih-
ren 630 Sitzen stand nie infrage, dass die
Regierung „Conte II“ eine breite Mehrheit
erreichen würde. Am Montagabend stimm-
ten 343 Abgeordnete dann auch für die Re-
gierung, 263 gegen sie. Im Senat, der klei-
neren Kammer mit ihren 321 Sitzen, wo
Conte an diesem Dienstag erwartet wird,
sind die Mehrheitsverhältnisse knapper.
Die absolute Mehrheit liegt dort bei 161.
Das neue Bündnis bringt es zusammen mit
Fraktionslosen aus dem „Gruppo misto“,
Ex-Sternen und Vertretern der autonomen
Regionen wohl auf 167 bis 170 Stimmen.
oliver meiler

Bordeaux– Sie nennen sich immer noch
„Marcheurs“, Marschierer. So wie vor in-
zwischen bald drei Jahren, als sie anfingen,
den Weg von Emmanuel Macron ins Präsi-
dentenamt zu ebnen. Aus „En Marche“ ist
inzwischen La République en Marche
(LREM) geworden. Eine Partei, die die
stärkste Fraktion in Frankreichs National-
versammlung stellt und die bei der Europa-
wahl nur um einen Prozentpunkt daran
scheiterte, die rechtsradikale Marine Le
Pen zu schlagen. Einst Frischzellenkur der
Politik, stehen die Marschierer heute vor
zwei Fragen: Wie sichern sie ihre Macht?
Und wie können sie gleichzeitig weiterhin
den Eindruck vermitteln, dass sie für ei-
nen Neuanfang stehen?
Um Antworten zu finden, besann sich
LREM auf ein altbewährtes Mittel: die
politische Sommeruniversität. Es gehört
in Frankreich zum Standardprogramm
der Parteien, jeden August die Mitglieder
zu sammeln, um Kontakt zwischen Basis
und Führung herzustellen. Eine Übung in

Selbstvergewisserung, bevor im Septem-
ber die Arbeit von Parlament und Regie-
rung wieder losgeht. „Campus des Territoi-
res“ hat LREM ihr Zusammentreffen in
Bordeaux am vergangenen Wochenende
genannt. „Territoires“, die politische kor-
rekte Bezeichnung für alles außerhalb von
Paris, was früher „Provinzen“ genannt wur-
de, bezeichnet dabei die Zielrichtung des
Experiments. In sechs Monaten sind in
Frankreich Kommunalwahlen, und LREM
ist bislang eine Partei mit ausgeprägter ur-
baner Schlagseite. Entstanden und verwur-
zelt in Paris.
„Heute beginnt der zweite Akt unserer
Bewegung!“, ruft Stanislas Guerini am
Samstagmittag auf der Bühne des Messe-
zentrums, und der Saal jubelt. Laut LREM

sind 3000 Menschen zusammengekom-
men, um darüber zu diskutieren, wer sie
sein wollen. Guerini, Parteivorsitzender
von LREM, gibt den Ton vor: „Wir sind
nicht hier, um eine gute Zeit zu haben, son-
dern um zu arbeiten.“ Véronique Vias sitzt
in Reihe sieben und klatscht. Sie ist extra
aus Meudon angereist, einem Vorort im Sü-
den von Paris. Seit 2017 engagiert sie sich
dort für Macron und dessen Politik. Im
März wird sie bei den Kommunalwahlen
für LREM kandidieren. Inhaltlich ist die
54-jährige Vias nach wie vor von Macron
überzeugt: „Ich teile seine Überzeugung,
dass wir in Europa enger zusammenarbei-
ten müssen, und mir gefällt sein Pragmatis-

mus.“ Ihr gefällt es auch, dass LREM keiner
Ideologie angehört, sich „weder links noch
rechts“ nennt, das bedeute für sie, „die
Komplexität der Welt zu akzeptieren“. Und
doch ist Vias von LREM enttäuscht. „Als
wir angefangen haben, waren wir einfach
aktive Bürger. Inzwischen gibt es sehr kla-
re Hierarchien, und ganz oben werden Din-
ge entschieden, die wir dann umsetzen sol-
len.“ Guerinis Satz, bei dem Vias „Bravo!“
ruft, lautet: „Wir müssen die Mitglieder
wieder ins Zentrum der Bewegung stellen.“
Nur was oder wo ist das Zentrum einer
Partei, in der frühere Sozialisten ebenso
Karriere machen wie der Ex-Republikaner
und jetzige Premierminister Édouard Phi-

lippe? Eine Partei, die sich zudem als ökolo-
gische Hoffnung gibt und dafür, so wie
auch am Sonntag in Bordeaux, immer wie-
der den Grünen Daniel Cohn-Bendit auf ih-
re Podien holt. Die Antwort lautet an die-
sem Wochenende: Wir definieren uns über
den aktiven Bürger. Manchmal wirkt
LREM wie ein Politik gewordener Nachbar-
schaftsverein. Die inhaltlichen Kernideen
werden im Sitzungssaal auf die riesige
Leinwand geworfen: „Progressismus, Inno-
vation, Pragmatismus, Dialog, Europa“.
Am Abend wird eine Diskussion zu der Fra-
ge angeboten, ob progressiv eigentlich das-
selbe bedeutet wie pragmatisch.
Gerade wenn keine klare Ideologie den
Zusammenhalt bringen soll, sondern der
einzelne Bürger jeweils durch sein Engage-
ment definieren soll, was die Bewegung
ausmacht, ist entscheidend, wer diese Bür-
ger nun eigentlich sind, aus denen sich
LREM zusammensetzt. Einer derjenigen,
die an diesem Wochenende in Bordeaux
der Partei den Spiegel vorhält, ist der
Politikwissenschaftler Gilles Finchelstein:
„Sie sind das Frankreich, dem es gut geht
und das weiß, dass es ihm gut geht.“ Als Vor-
sitzender der Stiftung Jean-Jaurès nimmt
Finchelstein an einer Podiumsdiskussion
teil, die sich mit den bevorstehenden Kom-
munalwahlen beschäftigt. Vor ihm sitzen
Parteimitglieder und Abgeordnete und ma-
chen sich Notizen. Die Männer in Hemd
und Sakko, die Frauen in Kleid und mit ho-
hen Schuhen. Hier trifft sich das Frank-
reich aus gutem Hause, das nicht satt und
konservativ genug ist, um sich bei den Re-
publikanern zurückzulehnen. Wer LREM
beitritt, hat Lust auf Erfolg.
Strategisch gesehen ist das Treffen in
Bordeaux eine Fortsetzung dessen, was
mit dem Grand débat in diesem Jahr be-
gann. Damals, im Frühjahr, reagierte
Macron nicht nur auf den Zorn der Gelb-
westen. Er reiste durchs Land, um Bürger-
meister für sich zu gewinnen. LREM will
expandieren: raus aus Paris, rein in Dörfer
und kleine Städte. nadia pantel

DEFGH Nr. 209, Dienstag, 10. September 2019 (^) POLITIK HMG 7
Der Ansatz, jeglichen politischen
Wettbewerb von vornherein
zu verhindern, war zu plump
Spontane Pressekonferenz nach der Stimmabgabe: Ljubow Sobol, eine der Kandidatinnen aus dem Team von Kremlkritiker Alexej Nawalny, war nicht zur Wahl zugelas-
sen wordenund führte anschließend die Proteste mit an. Nun werde sogar der Anschein von Demokratie beerdigt, sagte sie. FOTO: KIRILL KUDRYAVTSEV/AFP
Auf der Sommeruniversität von La République en Marche (LREM) in Bordeaux
spricht auch Ex-Republikaner und Premier Édouard Philippe. FOTO: GEORGES GOBET / AFP
„Wahlen, Wahlen“, skandierten die
Abgeordneten von den Rängen
der Lega und der Fratelli d’Italia
„Progressismus, Innovation,
Pragmatismus, Dialog, Europa“,
das sollen die Kernideen sein
Mehrere Raketenangriffe
Trumps kostspielige Absage
Papst warnt vor Ausgrenzung
Abholzung steigt dramatisch
„Saison der
Reformen“
Italiens Premier Conte verspricht
eine entschärfte Migrationspolitik
AUSLAND
Wer mit wem? Ein Graffito des italieni-
schen StraßenkünstlersTvboy zeigt neue
und alte Koalitionäre. FOTO: MEDICHINI/AP
Wie ein politischer Nachbarschaftsverein
Die jungePartei „En Marche“ von Frankreichs Präsident möchte sich über aktive Bürger definieren – und expandieren

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