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NZZamSonntag8. September 2019
Meinungen
MeineTöchter
habenmich
davorbe wahrt,
ineinenvon
JahrzuJahr
engerund
gleichförmiger
werdenden
Kreishinein
zualtern.
K
aum sind die Kinder ein paarTage
aus dem Haus,verkomme ich
zusehends. DieWäsche bleibt unge-
waschen, das Brot schimmeltvor
sich hin, der Kaffee ist alle, derKühlschrank
leer.Selbst die honigfreie Müeslisorte, die
in einem Anfallvon Gesundheitswahn ange-
schafft undfortan von allenFamilienmitglie-
dern grosszügig den andern überlassen
wurde, neigt sich dem Ende zu.
Sie kennen diese Nachlässigkeitvielleicht
auch, die sich breitmacht,wenn der Stun-
denplan des Nachwuchses den Alltag nicht
mehr diktiert. Manverliert jedevernünftige
Tagesstruktur, steht am Nachmittag auf, isst
bis 16 Uhr nichts,gegen Mi tternacht dafür
ganzviel. Vielleichtkönnen nurMütter und
Väter wirklich nachvollziehen,wie es sich
anfühlt, nach jahrzehntelangem Pflege- und
Wäschedienst einfach einmal störungsfrei
vor sich hin zuexistieren.Ich jedenfalls habe
die temporäreVerwahrlosung bisher immer
genossen. Sie erinnerte mich ein bisschen
an mein chaotisches Studenten-WG-Leben,
einfach mit besseremWein.
Doch als ichgestern den letztenSchluck
Milch über die trockenen Flocken schüttete ,
die niemandem schmecken, auch mir nicht,
und sie mangels Alternative hungrig auslöf-
felte, bin ich doch etwas erschrocken. Zuletzt
ist mir das nämlich 1997 passiert.Der Grund
damals war akuter Liebeskummer. Nun ist es
nicht so, dass ichwegen der Abwesenheit der
Töchter an Herzschmerz leidenwürde. Ich
vermisse sie zwar, nicht aber die Hausarbeit,
die ihretwegen angefallen ist. Bisher aller-
dings war dietemporäre Kinderfreiheit stets
zu kurz, als dass mirwirklich bewusstgewor-
den wäre, was diese mit mir anstellt.
Und damit meine ich nicht meinen Hang
zur haushalterischenTotalverweigerung.Ich
verkomme auch sonst zumSonderling.So
ein Wochenende – auch ein langes – vergeht
schon einmal, ohne dass ich mit einer einzi-
gen Meinungkonfrontiert werde, die ich
nicht selbstteile. Ich habe es nämlichgern
still,wenn ich einmal nichtvon Kindern
zugetextet werde oder sie selber zutexte.
Treffe ichBekannte auf der Strasse, bin ich
so kurz angebunden, als wären dieWorte
kont ingentiert. Und so kam es mitAusnahme
der Coiffeuse, die ich kürzlich besucht habe,
zu keiner nennenswerten sozialen Inter-
aktion mitMenschen ausserhalb meines
Freundes- oderKollegenkreises. Ist das,
was übrig bleibt,wenn die Kinderwegfallen,
die selbstverschuldeteRuhe in der eigenen
Echokammer?
Tatsächlich ist es alsMutter von Klein-
oderSchulkindern gar nicht möglich, sich
irritationslos in der eigenen Filterblase
zu verkriechen. Diesezerplatzt schon beim
ersten Gang auf den Spielplatz. Unterhält
man sich dort doch zwangsläufig auch mit
Menschen, die man, wäre man kinderlos,
grossräumig umfahren hätte, weil zwischen
ihnen und einem selbst der GrandCanyon
liegt.Auf dieSandkastengesprächefolgen
die Elternabende an derPrimarschule.
Sie sind so bunt,wie ein türkischerBasar,
vorausgesetzt man lebt nicht im Zürcher
51 Prozent
Kinderlos– undunterwegsindieFilterblase
NicoleAlthaus istChefredaktorin Magazine
bei der «NZZ am Sonntag».
Seefeld oder einem ähnlich sozial segregier-
ten Quartier. Und das ist durchausgesund.
Zwar existiert manfortan nur noch als die
«Mutter von xy», aber so selbstverständlich
wie mit schulpflichtigen Kindernwird man
wohl nie mehr mitLebensentwürfen und
Weltansichten konfrontiert, die maximal
weitvon den eigenen entfernt sind. Kinder-
freundschaften nehmen nullRücksicht auf
Bankkonto, Berufsga ttung, Parteizugehörig-
keit und Hautfarbe der Eltern.
Meine Töchter, denke ich und quetsche
die Müeslischüssel in die übervolle Spüle,
haben mich davor bewahrt, in einenvon Jahr
zu Jahr enger und gleichförmigerwerdenden
Kreis hineinzualtern. Sie störten permanent
meinen selbstgebastelten Algorithmus, mit
dem ich,wie die meistenMenschen, meinen
Erlebensraum sortierte undfragmentierte.
Dafür kaufe ich eigentlich ganzgern wieder
regelmässig ein, sobaldTochter II aus
Amerika zurückkehrt.Wenn sie dereinst
ebenfalls auszieht, muss ich mirvielleicht
doch einenHund zulegen.
Wennwir
glauben,die
Demokr atie
verhaltesich
zumPopulis
muswiedas
Lammzum
Wolf,liegenwir
historis ch
falschund
hand eln
politischta t
sächlichwie
Schafsköpfe.
Gastkolumne
A
ls 1989 der EiserneVorhang fiel,
schien der Triumph derDemokra-
tie total. Genau zweiJahrhunderte
hatte der Kampfgedauert,vom
Sturm auf dieBastille in Paris bis zum Durch-
bruch der Mauer inBerlin. Er warreich an
Rückschlägen und nochreicher an Siegen:
erst gegen die altenMonarchien, danngegen
den Faschismus, schliesslichgegen den
Kommunismus. Niemand hätte es 1989 für
möglichgehalten, dass dreissigJahre später
im siegreichenWestenwiederBergpredigten
für dieDemokratiegehaltenwerden. Aber da
stehenwir nun undreiben uns dieAugen.
Wie Jesus seineJünger warnte, so warnen
heuteDemokraten ihre Mitbürger: «Hütet
euch abervor denfalschenPropheten, die in
Schafskleidern zu euchkommen, inwendig
aberreissendeWölfe sind.» Mittlerweile
schlägt sogar das unterkühlte britische
Magazin «TheEconomist» mit einem angst-
erregenden Titelbild Alarm.Auf einem
kahlenFelsplateau steht einvollgef ressener
Wolf imSchafspelz, hinter ihm dräuen die
Gewitterwolken, unter ihm liegt das blutige
Gerippe seinerBeute, und darüber steht
gross: «Democracy’s enemywithin».Wer
noch nichtgemerkt hat,von welchemFeind
die Rede ist, findet die Antwort imLeitarti-
kel: «Demokratien sterben, so denkt man
gemeinhin,vor einemPistolenlauf, durch
Putsche undRevolutionen. DieserTage
jedochwerden sie eher langsam erdrosselt
im Namen desVolkes.»
«TheEconomist» identifiziert dieMeu-
chelmörder derDemokratie in den Trumps
und Johnsons dieserWelt. Wenn man sieht,
mit welcher Chuzpe der britischePremier
gerade das Parlament auszuhebelnversucht,
kann man dieAufregungverstehen. Aller-
dings erweist das Bild desverschlagenen
Wolfes denPopulisten zuviel Ehre. Hinter
ihrerPolitik verbirgt sichkein Geheimplan
zur Zerstörung derDemokratie, und sie sind
alles andere alsvirtuoseVerkleidungskünst-
ler. Eher entblössen sie sich mit ihrem Gross-
mannsgetue, um sich anschliessendwie
Exhibitionisten an der Entrüstung der poli-
tisch Züchtigen zu ergötzen.
Nochweniger gleichen dieDemokratien in
Westeuropa und Nordamerika einer schutz-
losenSchafherde. Sie sind schon mit ganz
anderenBedrohungen fertiggeworden.
Wenn wir glauben, dieDemokratieverhalte
sich zumPopulismuswie dasLamm zum
Wolf, liegenwir historischfalsch und han-
deln politisch tatsächlichwie Schafsköpfe.
Man entzaubertPopulisten nicht, indem
man sieverteufelt und sich selbst alswehr-
loses Opfer gibt.
Wie aber stehenDemokratie undPopulis-
mus zueinander?Beginnenwir in derGegen-
wart.HeutigePopulisten betreiben einePoli-
tik derreaktionärenGegenmoral. Sie sind
Moralisten,weil sie im Namen desvermeint-
lich betrogenenVolkes Entrüstungssalven
auf Eliten abfeuern, sie der Lüge undKorrup-
tion bezichtigen. Gleichzeitig sind sieReak-
tionäre,weil siegemässigte bis progressive
Werte bekämpfen, ohne ein eigenes Normen-
gerüst, geschweige denn eineDoktrin zu
besitzen. Darin unterscheiden sie sichvon
Konservativen, aber auchvon Kommunisten
und Faschisten des letztenJahrhunderts, die
wegen ihrertotalitären Klassen- und Rassen-
ideologieviel gefährlicher waren.Kommen
Populisten auf demokratischenWegen an die
Macht, bleiben sie demreaktionärenReflex
verhaftet.Donald TrumpsAgenda reduziert
sich, egal ob es um Immigration,Gesundheit
oder den Irangeht, auf eine lärmige Anti-
Obama-Politik.
Wie aber stand esfrüher um dasVerhält-
nis von Demokratie undPopulismus?Der
PolitologeJürgen Mackert hat die provoka-
tive Theseaufgestellt, derPopulismus sei
historisch nicht als Zerstörer, sondern als
Schöpfer derDemokratie zu betrachten. In
der Tat machten bereitsfranzösischeRevolu-
tionärewie Jean-Paul Marat populistische
Propaganda, als sie «das kleineVolk» gegen
«dieVaterlandsfeinde» ausAdel, Finanz und
Klerus positionierten. Bloss trug ihrPopulis-
musweniger zumWachstum eines demokra-
tischen Pflänzchens als zur Zerstörung der
monarchischen Institutionen bei.
Ein besseresBeispiel für Mackerts These
bietet dieSchweizerGeschichte nach1860.
Damals griffen radikalePopulisten in mehre-
ren Kantonen «die alles überwuchernde,
aber ungesetzlicheGeldaristokratie» an und
wollten «dieVolksherrschaft zu einer
Wahrheit machen». Sieforderten das Initia-
tiv- und Refere ndumsrecht,kostenlosen
Schulbesuch, progressive Steuern und
Pressefreiheit. Nach zähem, aberfriedlichem
Ringen mit den liberalen Eliten setzten sie
die meisten Anliegen durch.Wir geniessen
sie bis heute.Jede Zeit hat diePopulisten,
die sieverdient.
Caspar Hirschi istProfessor für Allgemei ne
Geschichte an der Universität St.Gallen.
Nichtalle
Populisten
sind reissende
Wölfe
Heutescheint derPopulismus
dernatürlicheFeindder
Demokratiezuse in.Daswarschon
einmalanders–inderSchweiz
ILLUSTRATION: GABI KOPP
W
enn Sie gut lebenwollen,
sollten Sie diese Zeitung
nicht lesen. Sie schadet
Ihnen. Das behauptet jeden-
falls derSchweizerAutor Rolf Dobelli in
seinem neusten Buch. Er hält Nachrichten
für irrelevant und manipulierend. Sie
hemmten dasDenken, machten unkrea-
tiv, förderten denTerrorismus und der-
gleichen mehr.Dobelli selbst liestweder
Zeitung noch Online-Portale, hörtkein
Radio und sieht nichtfern. Er informiere
sich über seine sogenannten Kompetenz-
kreise:Freunde undFamilie einerseits
und Beruf andererseits.So bekäme er
alles mit, waswirklichwichtig sei, sagt er
und rät allen, es ihm gleichzutun.
Die Idee derkollektiven News-Absti-
nenz ist originell, aber sie funktioniert
nur imKopf eines ichbezogenen Zeitgeist-
philosophen.Lassenwir mal beiseite,
dass nicht jeder über derartwohlinfor-
mierteKompetenzkreiseverfügtwie
Dobelli.Wenn alle seinem Ratfolgen
würden, gäbe es selbst inDobellis Kreisen
plötzlich niemanden mehr, der ihn infor-
mierenwürde, wenn sich auf derWelt
etwasWichtiges zuträgt. Klimawandel,
Wirtschaftskrise, brennender Amazonas:
Allesweit weg, niemand hat davon erfah-
ren. Dobelli kann sich seine Abstinenz
heute nur leisten,weil andere für ihn die
Nachrichten lesen. Damit erinnert er an
jeneSchlaumeier, die behaupten,Medien
und Journalisten seien überflüssig,weil ja
allesWichtige im Internet zu finden sei.
Wenn niemand mehr Nachrichten läse,
gäbe eskeine Medien mehr, undwir
würden auchvon Dobellis Büchern kaum
etwas erfahren.Denn derAutor hat für
sein neustesWerk natürlichMedien-
interviewsgegeben und damitexakt die
Mechanismen der Nachrichtenindustrie
bedient, die er kritisiert: mit einerkont ro-
versen These möglichstviel Aufmerksam-
keit erzeugen, um denVerkauf anzukur-
beln.Ich weiss nicht, ob ich das raffiniert
oder nur unendlich dreist finden soll.
Medienkritik
Solltenwiralle
aufNachrichten
verzichten?
Michael Furger ist Leiter des Ressorts
Hintergrund der «NZZ am Sonntag».
MichaelFurger
CasparHirschi
NicoleAlthaus