Neue Zürcher Zeitung - 08.09.2019

(John Hannent) #1

NZZamSonntag8. September 2019


Meinungen 17


Politische Notbündnisse sollen nach den jüngsten


Wahlen inOstdeutschland dierechte Protestpartei AfD


in dieSchrankenweisen. CDU, SPD und Grünewerden


nachSachsen-Anhaltvielleicht bald schon inSachsen


und Brandenburg eineRegierungsmehrheit zusammen-


zimmern.Der Parteifarbenwegen firmiert ein solches


Bündnis unter dem NamenKenya-Koalition, was die


politische Exotik einer solchen Unternehmung treffend


beschreibt. Grosse und immer grössereKoalitionen sind


allerdingskeine Lösung inDeutschland.Vor allem im


Osten wollen dieWähler keine Konkordanz, sondern


Eindeutigkeit –kein Einbeziehen möglichstvieler politi-


scher Kräfte in einegemeinsameRegierung, sondern


das klareProfil einer starkenRegierungspartei. Die gibt


es derzeit nicht inDeutschland. DieFührungsschwäche


der CDU auf Bundesebene ist das eigentlicheProblem


des Landes. Als letzteverbliebeneVolkspartei muss die


Union deshalb den überfälligen politischenGeneratio-


nenwechsel hinbekommen und ihrkonservatives Profil


schärfen. Dass die so unsicher agierende CDU-Vorsit-


zende undMerkel- Vertraute Annegret Kramp-Karren-


bauer kaum die richtigePerson für dieseAufgabe ist, hat


man inzwischen begriffen. UmWähler von der AfD


zurückzugewinnen, muss die Union einen neuen, über-


zeugenden Kanzlerkandidaten finden.Markus Bernath


Die CDUmussendlich den


Generationenwechsel schaffen


Deutschland


Der jüngste Entscheid derWettbewerbskommission


(Weko) zeigt das immenseAusmass der Absprachen, die


BündnerBaufirmen überJahre im ganzen Kanton


getroffen haben. Die Entrüstung darüber hält sich in


Graubünden jedoch noch immer in Grenzen.Der Unmut


richtet sich ehergege n die böseWeko und den Whistle-


blower, die das Kartell aufdeckten. Ein Unrechts-


bewusstseinfehlt weitgehend.Frei nach demMotto


«Wir nicht, die anderen auch»werden Absprachen als


gängigePraxis verteidigt. Dasrührt daher, dass bisweit


in die neunzigerJahre, bevor das Kartellgesetz in Kraft


trat, in trautem Unternehmerkreisgetroffene Abspra-


chen legal und alltäglichgewesen waren.Wohl auch


deshalb funktionierte das BündnerSystem trotz Kartell-


verbot bis 2010 ungestörtweit er. Acht Jahre später, als


die Dimension des Skandals deutlichwurde, setzte das


kantonale Parlament eine Untersuchungskommission


(PUK) ein.Doch dieFrage, wie ein Kartell die öffentliche


Hand so lange unbemerkt schädigenkonnte, bleibt


weit er unbeantwortet.Ebenso ist ungeklärt, ob kanto-


naleBeamte Teil desSystems waren. Diesezentralen


Punkte hat die PUK nun schnell zu klären. OhneRück-


sicht auf schmerzhafte Erkenntnisse.Andreas Schmid


Höchste Zeit,dieVerfehlungen


schonungslosaufzuarbeiten


Baukar tell


DieseWoche hat dieUS-Kartellbehörde darüber infor-


miert, dassGoogle aufYoutube auch Daten von un ter


13-Jährigen sammelte, obwohl das in denUSA verboten


ist. Der Konzern zahlt eine Busse – ohneSchuldeinge-


ständnis.Wenn es ums Datensammelngeht, in tere ssiert


er sich nicht einmal fürGesetze, die Kinder schützen.


Das ist umso zynischer, als viele Sprösslinge von Silicon-


Valley-Millionären ohne Smartphone undTablet auf-


wachsen. Ihre Elternwissen,wie wichtig es ist, die


Daten ihrer Kinder zu schützen. Umgekehrt lagernweni-


ger pri vilegierte Elterngerne einenTeil derBetreuung


ihrer Kinder anYoutube aus – undgeben deren Daten


schutzlos preis.Bevor sie etwas zu sagen haben, entzieht


ihnenGoogle dasRecht aufPrivat sphäre.Marco Metzler


Kinder ohnePrivatsphäre


Youtube


V


or einiger Zeit hat die schweizeri-
sche Unesco-Kommission den
Bericht «Für einePolitik derfrühen
Kindheit»veröffentlicht. Er soll
demnächst im Parlament diskutiertwerden.
Laut denAutorinnen undAutore n des
Berichts sollen Angebote, die sich bewährt
haben,wie Kinderkrippen,Mütter- und
Väterberatung,Familienzentren, Spielgrup-
pen, öffentliche Spielplätze undBesuchs-
programmevermehrt unterstütztwerden.
Das Anliegen istwichtig.Wenn mit diesem
Vorhaben aber eine «umfassendePolitik der
frühen Kindheit» angestrebtwird, wie dies
der Bericht betont, soweckt diesWider-
spruch. EinePolitik der Kindheit kann sich
nicht darauf beschränken, bestimmte Ange-
bote ausserfamiliärerBetreuung sowie
Hilfen im Notfall zufördern. Damitwird die
bestehende und sich immer mehr auswei-
tende Tendenzverstärkt, dasAufwachsen
der Kinder als ein «Bringen undHolen»von
einer Institution zur nächsten aufzufassen.
GesundesAufwachsen braucht Raum.
Raum, den die Kinder eigenständig erreichen
und in dem sie allmählich in dieWelt hinein-
wachsenkönnen.Für jün gere Kinder ist dies
ausschliesslich im nahen Umfeld derWoh-
nung möglich.Fehlt ein gutesWohnumfeld,
so entsteht eineFülle von Problemen,
welche dieverschiedenen imBericht
erwähnten Förderangebote nicht lösen
können.So empfiehlt dieWeltgesundheits-
organisation WHO für Kinder täglich 180
MinutenkörperlicheBewegung.Führende
Augenärztefordern täglich zwei Stunden
Bewegung imFreien, um der grassierenden
Kurzsichtigkeit entgegenzuwirken.Bewe-
gungsmangel undKurzsichtigkeit hängen
wesentlich mit demfehlendenFreiraum im
Wohnumfeld zusammen.
Umgekehrt haben Kinder, die unbegleitet
im Freien spielenkönnen, mehrFreundin-
nen undFreunde in der Nachbarschaft und
verbringen deutlichweniger Zeitvor dem
Bildschirm.Auch die nachbarschaftlichen
Kontakte unter Erwachsenen sind in einem

kinderfreundlichenWohnumfeld intensiv,
und diegegenseitige Hilfe unter den Eltern
in derBetreuung der Kinder ist gross. Das
Zusammenlebenvon Familien ausverschie-
denenKulturen,wie es in Siedlungen oft der
Fall ist,fördert die Integration.Gewiss, ein
Wohnumfeld, das mit anderenFamilien
geteilt wird, ist nicht ohneKonflikte. Diese


  • oft ist Kinderlärm der Anlass – müssen im
    Gesprächgelöst werden. Der Verzicht auf
    nachbarschaftlicheKontakte und das Ein-
    sperren der Kinder in derWohnung sind
    keine Lösung undkeine Basis für dasgesell-
    schaftliche Zusammenleben.
    Jüngere Kinder ihrerseits habenkeine
    Probleme mit Spielkameraden, auchwenn
    diese nun eine andere Hautfarbe haben. Sie
    wollen miteinander spielen und bemühen
    sich, die Sprache ihrer Spielkameradenken-
    nenzulernen. Kinder, die in einemWohn-
    umfeld aufwachsen,welches sie selbständig
    aufsuchen und mit anderen Kindern bespie-
    len können,gehen imGegensatz zu Kindern,


die dieseMöglichkeit nicht haben, sehr rasch
unbegleitet in den Kindergarten.Wenn
umgekehrt Mütter undVäter gezwungen
werden, ihre Kinder überJahre hinweg an
die Hand zu nehmen,weil dieVerkehrs-
gefahrenvor der Haustüre zu gross oder die
Türen immergeschlossen sind, laufen sie
Gefahr, eine krankhafte Bindung zu
ihrem Kind zu entwickeln. Die starkegegen-
seitige Abhängigkeitvon Eltern und Kindern
führt ihrerseits zum Elterntaxi und zu
Helikoptereltern.
Raum fürvielfältige Eigenaktivitäten der
Kinder wäre da. Esfehlt abervielfach an der
Bereitschaft der Erwachsenen, diese Räume
für das Kinderspielfreizugeben. Sie bleiben
unbenutzt oderwerden vom Strassenver-
kehr besetzt.Verdichtet bauen erweist sich
aus der Sicht der Kinder als eine Chance, da
sie in einer solchenWohnumgebung Spiel-
kameraden finden.Vorschriften undGestal-
tungspläne müssen allerdings garantieren,
dass dasverdichtete Bauen kinderfreundlich
erfolgt.Vor einiger Zeit hat man die kinder-
freundlichenWohnstrassen abgeschafft und
durchBegegnungszonen ersetzt.Dort gilt
eineHöchstgeschwindigkeitvon 20 Kilo-
metern pro Stunde und einkonsequenter
Vortritt für Fussgänger und spielende Kinder.
Ein katastrophaler Entscheid, da diese
Strassen heuteweitgehendvon parkierten
Fahrzeugen besetzt sind. Eine Änderung
dieserPraxis würde fürviele Kinder Spiel-
räume schaffen.
EineFörderung kinderfreundlicherWohn-
umfelder erweist sich als eine echte Chance,
den Kindern jene Räume zugeben, die ihnen
ein allmähliches Hineinwachsen in unsere
Welt ermöglicht. Sie bieten einen hervor-
ragenden Start für dasHeranwachsen zu
eigenständigenPersönlichkeiten. Die Raum-
problematik muss zu einemwichtigenTeil
der Politik der Kindheitwerden. Die «Bring-
und Hol-Gesellschaft»,wie sie sich im
Bericht der schweizerischen Unesco-Kom-
mission spiegelt, bietet ein phantasieloses,
ja erschreckende Bild der Kindheit.

DerexterneStandpunkt


Die be ste Frühförderung sind nicht Angebote na ch dem Prinzip


bringen und holen –sondern Freiräume rund umsWohnhaus.Es ist ei ne


Frage der Bau- undVerkehrspolitik,findet Marco Hüttenmoser


Gesundes Aufwachsen braucht


vor allem genügend Raum


Chappatte


MarcoHüttenmoser


Marco Hüttenmoser, 77, leitet dieFor-
schungs- und Dokumentationsstelle Kind
und Umwelt (www.kindundumwelt.ch) in
Muri AG. Der Sozialwissenschafterwar Mit-
arbeiter am Marie-Meierhofer-Institut für
das Kind in Zürichund beschäftigt sichseit
über40 Jahren mit den Themen «Kind und
Verkehr»sowie «Kind und Raum».
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