Neue Zürcher Zeitung - 08.09.2019

(John Hannent) #1
NZZamSonntag8. September 2019
Hintergrund 23

DieGeschichtederSBBbegannmiteiner
kleinenVerspätung.Stattaufdenzwölften
GlockenschlagrolltenihreerstenWagen,
eineZugskompositionausBaselundZürich,
einpaarMinutennachMitternachtinden
BernerBahnhofein.DieMengeaufdem
Perronjubelte, 14 Eisenbahnerposierten
vorder festlichgeschmücktenLokomotive,
einanonymerFotografhieltdieSzenefest.
SeitherrollendieSBBohneUnterlass.
BegonnenhattedasEisenbahnzeitalter
inderSchweiznatürlichschonfrüher.Am
9.August 1847fuhrdieSpanischbrötlibahn,
einprivatesStartup,erstmalsvonZürich
nachBadenundlöste einefiebrigeGründer-
zeitaus.WeitereprivateGesellschaften
schossenwiePilzeausdemBodenundlie-
fertensicheine nteilweiseruinösenWett-
bewerb.DieBefürwortereinerschweizeri-
schenStaatsbahnerhieltenAuftrieb.«Die
Schweizerbahnendem Schweizer Volk»,
lauteteihreLosung.DieGegnerfürchteten
sichvoreinemHeervonBundesbeamten.
1898 stimmtedasVolkeinerÜbernahme
derPrivatbahnendurchdenBundzu.Am
1.Januar1902nahmdieSBB-Generaldirek-
tioninBerndieArbeitauf.
DieSchweizhattejetzt eineStaatsbahn.
IhreAngestellten warenBeamte, siereprä-
sentiertendieEidgenossenschaftmit
feierlichemErnst.DieKontrolleeinesBahn-
billettesglichnochlangeeinemhoheit-
lichenAkt.DieMänner,diedaserledigten,
hiessennichtKundenbegleiter,sondern
Kondukteure, sietrugenUniformmützen
und–zumindestaufdiesemBild–einen
ehrfurchtgebietendenSchnauz.(tis.)

DashistorischeBildBern,1.Januar1902


Rea Brändle, 66


I


st heute in derSchweiz von sogenannten
Völkerschauen dieRede, alsovon der
AusstellungexotischerMenschen zur
Ergötzung desPublikums im Zirkus oder
im Zoo, dann ist die Grundlage oft das Buch
«Wildf remd, hautnah», das 2013 in zweiter
Auflage erschienen ist. DieAutorin undJour-
nalistinRea Brändle hat darin dieGeschichte
dieserSchauen aufgearbeitet, die bis in die
sechzigerJahre stattfanden.
Geborenwurde Rea Brändle 1953 in Neu
St. Johann imToggenburg.Für ihr Studium
der Germanistik ging sie nach Zürich,wo sie
sich später auch niederliess. ImToggenburg
wäre eine Existenz nach ihrenVorstellungen
nicht möglichgewesen, erzählte sie in einem
Interview. Als sie1990 ihr erstes Buch
(«JohannesSeluner») über einWolfskind im
Toggenburgveröffentlichte und dieLokal-
zeitung darüber berichtete , stand über die
Autorin nur,wessenTochter sie sei. In Zürich
arbeitete Brändle alsKulturjournalistin beim
«Tages-Anzeiger», später bei der«Wochen-
zeitung». Neben Stoffen aus demToggen-
burgwidmete sie sich etwa auch der
Geschichte von Na yo Bruce, einemTogole-
sen, der im19.Jahrhundert als Impresario
sich und seineFamilie inSchauen in Europa
mit Gespür fürsGeschäftvermarktete.Rea
Brändle ist in Zürichgestorben.(tis.)

Clora Bryant, 92


S


ie warkein Jazztrompeter, sondern
eineJazztrompeterin, und darum
nicht so bekannt,wie sie es mit ihrem
Talent hätte sein müssen.Der Musi-
ker Dizzy Gillespie war überwältigtvon
ihremKönnen.«Sie hat dasGefühl für die
Trompete», befand er. Clora Bryantwurde
1927 in Denison,Texas, geboren. IhreMutter
starb, als Clora drei war.Der Vater musste die
Familie alsTaglöhner allein durchbringen –
und hat seine Trompete spielendeTochter
stets unterstützt. Sie entschied sich für eine
Schule inHouston mit einerFrauenbigband.
Später spielte Bryant mitJosephineBaker
und BillieHoliday. Auf ihrem ersten Album
«GalWith A Horn» zwang die Plattenfirma
sie, auch zu singen (was sie gar nichtwollte).
Sie war zweimalverheiratet, mit einemBas-
sisten und einemSchlagzeuger, und hatte
vier Kinder.1990 hörte siewegen Herzpro-
blemen mit Trompetenspielen auf. Clora
Bryant ist inLos An geles gestorben.(tis.)

Nachruf


EinFrauenbefreier


Pete r Lindbergh, Künstler undModefotograf, der mitseiner Ästhetik die Ära


der Supermodels prägte, ist 74-jähriggest orben.Von ThomasIsler


E


s war einSonntagmittag Ende1989.
Auf einer Strasse imMeatpacking
Districtvon Manhattan lichtete ein
Fotograf fünfModels inBodys und
Jeans für die«Vogue» ab. Etwa zwei Stunden
dauerte das Shooting. Eines der Bilderverän-
derte die globalePopulärkultur für immer:
Das Gruppenbild inSchwarzweisszeigte
NaomiCampbell, Linda Evangelista,Tatjana
Patitz, Christy Turlington und Cindy Craw-
ford, inszeniert in einer Natürlichkeit, die
Mode- undWerbeleute damalsverstörte.
Eine neue Ära hatte begonnen: die Ära der
Supermodels. UndFotograf Peter Lindbergh
galt als ihrSchöpfer.
Lindberghs Trick alsModefotograf: Er
intere ssierte sich nicht fürMode, er interes-
sierte sich fürMenschen und fürGesichter.
Den Glamour der achtzigerJahre verachtete
er. Retuschen an seinen Bildern liess erver-
traglichverbieten: «DieKosmetikindustrie
hat uns allen doch eine Hirnwäschever-
passt», sagte er dem «Guardian». «Ichretu-
schiere nichts. ‹Oh, aber sie schaut so müde
aus›, heisst es dann.Ja und? Dann ist sie
eben müde und schön!»
Geborenwird Peter Lindbergh1944 in
Polen alsPeter Brodbeck. Als er sechs
Wochen alt ist,flüchtet dieMutter mit ihm
und zweiGeschwistern mit einem Pferde-
wagen 2500 Kilometerweitzu Verwandten
im Allgäu.Bei der Ankunft bewegt sich das
Baby nicht mehr, man glaubt, es sei erfrore n.
Doch das Kind überlebt. Später wohnt die
Familie in Duisburg.Der Vater, zurück aus
dem Krieg, arbeitet als Reisender für Süss-
waren.Peter ist ein schlechter Schüler;
mit 14 lernt erSchaufensterdekorateur. Mit
17 entgeht er der Bundeswehr dank einer
Arbeitsstelle in Luzern,zehn Monate später
zieht er nachWestberlin. Erkennt weder
Ausstellungen nochKunstbücher. Abends
beginnt er nunKunstkurse zu besuchen. Das
begeistert ihn. Er zieht nach Arles (auf den
SpurenVan Goghs) und trampt durch Europa
und Marokko. Er schreibt sich an einer
Kunstschule in Krefeld ein, entdeckt das
Fotografieren undwird in Düsseldorf Assis-

tent bei einemWerbefotografen.Dort rufen
bald Gläubiger an, die ihn bedrohen.Der
Grund: Es gibt in der Stadt einen andern
Fotografen namens Brodbeck mitSchulden.
Fortan nennt er sichPeter Lindbergh.
Zusammen mit seiner erstenFrau, die er
an derKunstschulekennengelernt hat,
macht er sich alsWerbefotograf selbständig.
Er kreiert etwa die Kampagne für den ersten
VW Golf. Dasfranzösische Magazin «Marie
Claire» bietet ihm an, monatlich einePro-
duktion samt Cover zu machen.1978 zieht er
mit derFamilie nach Paris. Erst als er dort ist,
realisiert er, dass er ja garkein Wort Franzö-
sisch spricht. Er lernt es schnell. Die Stadt
dient ihm bis zum Ende seinesLebens als
Basis. Später wechselt er zur«Vogue». Die
achtzigerJahre? «Luxusweibchen, perfekt
geschminkt und seelenlos, damitkonnte ich
nichts anfangen», sagt er. Lindbergh sucht
nach andernFrauenbildern, aber seine Zeit
ist noch nichtgekommen. Als er 1988 am
Strandvon Malibu sechsModels in übergros-
sen weissen Männerhemden inszeniert,wirft
die damalige Chefinvon «Vogue» das Bild
in den Abfall. Erst AnnaWintour, die kurz
danach Chefredaktorinwird, un terstützt
Lindberghs Blick.
In derPopulärkultur der neunzigerJahre
werden dieHollywoodstarsverdrängt –von
den Supermodels. Lindbergh ist derenRegis-
seur und Kameramann zugleich. Er baut
seine Shootings zu Filmsets aus, erzählt
Geschichten und inszeniertGesichter – von
Kate Moss bis ClaudiaSchiffer. Er hat ein
grossesTalent fürMenschen. Lindbergh,
das zeigt ein aktuellerDokumentarfilm über
ihn, arbeitet ebensotemperamentvollwie
warmherzig.Fotografen, die bei der Arbeit
schreien: «KommBaby, zeig’s mir!», findet er
albern. Lindbergh meditiert täglich, je zwan-
zig Minuten amMorgen und am Abend. «Das
Geheimnis ist: Dann bekommt man alles
geschenkt», sagte er jüngst dieser Zeitung in
einem Interview.
Peter Lindbergh, dervier Söhne hat, lässt
sich zuBeginn der neunzigerJahre scheiden.
«Künstler sindkeine Heiligen», sagt seine

ersteFrau lakonisch dazu. Im indischenGoa
lernt er Ende 2000 seine zweite Frau
kennen, die ausDeutschland stammt und
dort einRestaurant führt. Siewird erst seine
Assistentin, dann ebenfallsFotografin.
Lindbergh istkein Kulturpessimist. Er
foto grafiertviel undgern per Smartphone
und nennt dieFotoplattform Instagram
«ein phantastischesMedium».Auch wenn
er dakeine Essensbilder, sondern hochwer-
tige Fotos poste.
Lindberghs Abstandvon derModewelt
und sein Intere sse anMenschen, bewahren
ihn vor Zynismus. Und sie machen seine
Bilderzeitlos. DassCalvin Klein 2015 für eine
neue Parfumwerbung einSchwarz-Weiss-
Bild von Christy Turlington und MarkVan-
derloo benutzt, das er 25Jahre zuvorfoto-
grafiert hat, und dass dies niemand bemerkt,
macht Lindbergh stolz.«Wenn man nicht
retuschiert und nichts schminkt, was kann
dann altern?»,fragt er. «Nichts!»

Pete rLindbergh
vorseinemBild,
dasbei«Vogue»erst
imAbfalllandete
–undspäterzu
einerIkonewurde.
(München,2017)

GISELA

SCHOBE

R / GETTY IMAGES

SBB / KEYSTONE
Free download pdf