NZZamSonntag8. September 2019
InternationalÖsterrei ch 3
JAKOB GLASER/ ÖVP
Fünfzehn Minuten Rede, eine Stunde Selfies mitWählern: Sebastian Kurz beieinem Wahlkampfauftritt in Güssing imBurgenland.(28. August 20 19)
UnterwegsmitdemSelfie-K anzler
SebastianKurzsteuert seinerWiederw ahlen tgegen. Österrei chhateineSchwächefür junge,
gut aussehende Polit-Aufsteiger.Von Markus Bernath, Güssing
M
anchen im eigenenLager wird er
schon etwas unheimlich. «Er ist
einMagnetfürdieLeute,einMes-
sias. Es ist fast schon grenz-
wertig», sagt ein Parteifunktionär und lächelt
doch beglückt.Der Abendhimmelwölbt sich
über dieFestwiesevon Güssing, türkisfarben
wie dasLogo der NeuenVolkspartei, die
SebastianKurz anführt.Der Star der österrei-
chischenPolitik trägt einen Anzug, der blau-
grau ist, dezenter als dieFarbe seiner Partei
und sorgfältig gewählt für ein Bild unter dem
BurghügelvonGüssing.DerMessiasüberlässt
nichts dem Zufall. Er hat einen Kameramann
dabei für die Internetvideos, einenFotogra-
fen, einen Conférencier. Die kleine burgen-
ländische Stadt ist seine perfekteKulisse.
SebastianKurz geht überhaupt nur an schöne
Orte.AlsHeilsbringerziehterdurcheineheile
österreichischeWelt, von einemFotote rmin
zum nächsten. Ende desMonats,wenn ge-
wähltwird, will er wieder Kanzler sein.
KurznimmtaufeinerderBierbänkeaufder
Festwiese Platz. Kinder in Trachten tanzen
vor ihm, dasPublikum applaudiert dem Gast
aus Wien. «Landeinwärts» haben seine PR-
Strategen diesesVeranstaltungsformat für
denSommergetauft:KurzbesuchtdieBürger.
Esgabauch«Bergauf».DannwanderteSebas-
tian Kurz einwenig inT-Shirt und mitRuck-
sack, begleitet von einerHundertschaftvon
Anhängern. Es sind schöneMotive für die
Wahlplakate geworden.
In Güssing sprichtKurz knappe fünfzehn
MinutenüberseinProgramm.EinjungerLan-
despolitikerstehtdazumitihmaufderBühne
undführteineinstudiertesPlauder-Interview
mitdemParteichef.DannistZeitfürdasVolk.
EineStundeSelfiesmitWählernundFunktio-
nären. Es ist der eigentliche Sinn derVeran-
staltung.Kurz lächelt, lässt sich Arme auf die
Schulter legen,versucht, bei denAufnahmen
seiner etwas grossen Ohrenwege n auf eine
leicht seitlicheKopfhaltung zu achten, er
schüttelt Hände, dankt für dasKommen. Die
«Generation Zuckerberg» ist amWerk: Kein
Politiker inÖsterreichgeht so versiert mit
Facebook, Instagram,Twitter um.
33 Ja hrealtistderEx-KanzleramVortagge-
word en. Er hat nie etwas anderes alsPolitik
gemacht.EristdieKarriereleiterhinaufgejagt
ohneOchsentourdurchParteiundParlament,
ohneMentor. Sein Sieg bei den Nationalrats-
wahlen am29.September gilt als sicher. Ein
Mann ohneBerufs- und mitwenig Lebens-
erfahrung soll alsoweit er dasLand führen?
Vielleicht garwieder mit denRechtspopulis-
ten als Partnern? Eine junge Fr au zuckt mit
den Achseln.«Wissen Sie, erkommt ehrlich
rüber, er sprichtvom Herzen.So wirkt er auf
mich.»SelbstdasabgebrocheneJura-Studium
ist kein Handicap. «Er ist sehrgescheit»,ver-
sicherteinWahlhelfer,ein19-jährigerBurgen-
länder, der türkisfarbeneSonnenbrillenver-
teilt. «Er hat mich fürPolitik erst intere ssiert.
Eristdochkeinschlechtere rMensch,nurweil
er kein abgeschlossenes Studium hat.»
Ruhig, höflich, adrett
Der Wunsch nach jungen Held en ist gross im
Land.ImSportsowieso,aberauchinderPoli-
tik. SebastianKurzistnichtderErste,demdas
Kunststückgelingt,ihnzuerfüllen.Österreich
istvernarrtingutaussehende,junge Politiker-
männer.Vor Kurz war Karlheinz Grasser da,
der smarte Kärntner, der mit 31 Finanzminis-
terwurdeunddiessiebenJahreblieb.Undvor
GrassernatürlichJörg Haider.Braungebrannt,
sportlich,frech provozierte er in den1990er
Jahren das politische Establishment und
führte dierechts gerichtete FPÖ von Sieg zu
Sieg. Jörg Haider war ein Spieler, der sich am
Endeverzockte. Grasserwiederum liebte den
LuxusundhatheuteeinDutzendStrafverfah-
renwege nBetrugundVeruntreuungamHals.
SebastianKurz aber ist perfekt.Kurz spielt
Sebastian.Den netten jungen Mann von
nebenan, den bestenSchwiegersohn, den
idealen Enkel.Ruhig, höflich, adrett, die
Augenbrauengezupft.931000 Euro hat die
Fesch undjung mussder
Mann nur sein, dann
glaubt man ihm
alles.Psychologen
nennen daseinen
Zuordnungsirrtum.
Kaufhof-Witwe Heidi Goëss-Horten 2018 und
indiesemJahrandieÖVPgespendet,alsKurz
Kanzlerwar–mutmasslichausSympathiefür
einenSohn,densieniehatte.AuchChristiane
Hörbiger, eine der Grandes Dames der öster-
reichischenSchauspielkunstundmittlerweile
81 Jahre alt, schlägt sich unerwartet auf seine
Seite. «Ich hoffe sovon Herzen,Sebastian
Kurz,dassSietriumphalzurückkommenwer-
den», sagtHörbiger in einemVideo derÖVP.
Kurz punktet bei denJungen wie den Älte-
ren. EinWiener Journalist hat dafür noch zu
Haiders Zeiten denBegriff «Feschismus»ge-
prägt.Fesch und jung muss der Mann nur
sein,dannglaubtmanihmalles.Psychologen
nennen das einen Zuordnungsirrtum.Von
einer positiven Eigenschaftwerd e direktge-
schlossen,dassesauchanderepositive Eigen-
schaftengebe. MichaelSchmitz, ein inWien
arbeitenderCoachundVerhaltenspsychologe,
erklärtesso:«Jemand,deralssympathischer-
scheint, gut zuhören kann und glaubwürdig
ist, demwird ebenauch schnell zugeschrie-
ben, dass erkompetent ist, ohne dass irgend-
ein Nachweis für dieseKompetenz erbracht
werd en muss.Kurz hatgelernt, sich zu insze-
nieren.Sonst hat er ja nichtsgelernt.»
Seine Anhänger lassen das selbstverständ-
lichnichtgelten.«Ichbinsoaltwieer»,sagtein
Mann auf derFestwiese in Güssing, der ein
paar Meter weit von Kurz en tfernt steht und
fasziniert den endlosenReigen derSelfie-
KnipsermitdemEx- Kanzlerbeobachtet.Mi tt-
lerweile ist es dunkelgeworden, die Smart-
phone-Kamerasblitzen.«Ichführe400Perso-
nen in einem Unternehmen und höre die-
selbenFragen wie er: Kann man denn das in
diesem Alter?» Kann man natürlich, Raphael
KempterhatkeineZweifel.AlleseineFrageder
Führungskraft.Kempter ist Manager beiMer-
ced es in Graz.Politik braucheBewegung, und
Kurz bringe etwasvoran, sagt er. AlsBeispiel
führterdieFlexibilisierungderArbeitszeitan,
den12-Stunden-Tag,derwährendKurz’Kanz-
lerschaftGesetzwurde.GutfürdieAutomobil-
branche, dieHotels undRestaurants, fürviele
andere Unternehmen imLand. Aber sehr um-
stritten in der Arbeitnehmerschaft.
Kurz vermeidet dieses Thema beiWahl-
kampfauftritten wie in Güssing. Er hat ande-
res im Angebot. Einfach klingende Verspre-
chen,gege n die niemand etwas haben kann:
keine neuenSchulden machen, Pflegever-
sicherung einführen,konsequent bleiben bei
derAbwehrneuerFlüchtlingsströme,aberdas
Problem der Migration doch auch nachhaltig
lösen durch Hilfe in Afrika und Asien.Jeder
kann sich bei ihm etwas aussuchen.Für viele
ist er ein Spiegel, dieProjektion eigener
politischer Intere ssen. Einkonsistentes
Programm, eine politischeWertvorstellung
braucht er deshalb gar nicht.Kurz setzt The-
men,von denen er spürt, dass siegerade eine
Mehrheit in derGesellschaft finden.
Stilistder Macht
Das Unschöne streicht der Kanzlerkandidat
bei seinenAuftritten dagegen einfachweg.
Die Berichte über seine autoritären Eingriffe
indieRedaktionenderWienerZeitungen,den
Rechtsruck während seiner kurzen Amtszeit,
die völkischenKommentare seinesRegie-
rungspartners.DasabrupteEndeseinerKoali-
tionimMaistellterjetztalsBefreiungstatdar,
als ob ihm das Bündnis mit der FPÖ aufge-
zwungen word en wäre.Zwar sind die Umfra-
gensehrgut,dochderWahlkampfläuftdieses
Malnichtganzsorund,wiees Kurz,derStilist
und MechanikerderMacht,wohlgerneh ätte.
Mit dem Thema Klimawandel tut er sich
schwer, dieGrünensindfürdieWählerglaub-
würdiger. Vor allem aber mussKurz, derKon-
trollf reak, feststellen, dass er nicht alle Infor-
mationen zu steuernvermag. Die Datenbank
der ÖVP sei im grossen Stilgehacktword en,
gab die Partei dieseWoche bekannt. Und eine
erste autorisierte Biografie des jungen Ex-
Kanzlers, die in den nächstenTagen in den
Handelgehen soll,wird ihrer Lobhudelei und
ihres groschenromanhaften Stilswege n mit
viel Häme bedacht.
SeinegrosseAnhängerschaftwird das alles
nicht beeindrucken.Längst ist tiefschwarze
Nacht in Güssing.SebastianKurz dreht sich
mit einer Traubevon Menschen in Richtung
Parkplatz,immerwiederSelfiesaufnehmend.
Dann steigt er in seine Limousine und lässt
glücklicheGesichter zurück. «Er ist einfach
gut!»,entfährteseinemderBürgermeisteraus
der Umgebung, der seinVater seinkönnte.
Umstrittene
Koalition
526
So viele Tage
amtierte die Regie-
rungvon Bundes-
kanzler Sebastian
Kurz. Die Koalition
mit der FPÖzerbrach
am 22. Maiwegen des
Ibiza-Videos.
34 %
und mehr geben Um-
fragen derÖVP bei
der Wahl am 29. Sep-
tember. Das ist ein
Plusvon zwei Prozent-
punkten verglichen
mit der Wahl 20 17.
23 %
derWähler sind für
eine Neuauflage der
Koalition mit der
rechtsgerichteten
FPÖ. Alle anderen
Optionen finden noch
weniger Rückhalt.