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NZZamSonntag8. September 2019
InternationalGrossbritannien
Es ist nochoffen, wohin die politische Reisedes britischen Premierministers führt: Boris Johnson auf einem F
NZZ am Sonntag:BorisJohnson hat dieTory-
Partei innertKürze zur Brexit-Partei geformt,
die um jedenPreis aus der EU austreten will.
Diestut er ohneRücksicht auf dieTradition
und wichtigepolitische Grössen in derPartei.
Weshalb machter das?
Herfried Münkler:Boris Johnson hat den
Mund sehrweitauf gemacht, als erver-
sprach, am 31. Oktober aus der EU auszutre-
ten,do or die. Er behauptete, er sei der Aller-
grösste undkönne die Szene beherrschen.
Nun muss er aberfeststellen, dass er poli-
tisch in einer ähnlichenKonstellation steckt
wie seineVorgängerin Theresa May. Er steht
vor einem Parlament, das nicht tut, was er
will. AberJohnson ist ein ganz anderer Cha-
rakter als May. Er hat stark egomanische
Züge, und er hatkeinen grossenRespektvor
Traditionen undRegeln. Und nun schlägt er
wild um sich, weil er in dieEcke gedrängt ist.
Geht es ihmvor allem um deneigenenMacht-
erhalt, odergeht es ihm nicht auch darum,
etwas ganz Neueszu schaffen. Einegesäuberte
Tory-Partei, dieendlich klarStellungbezieht
zur wichtigsten Frage imganzen Land.
Boris Johnson hatte innerhalb seiner
Partei über lange Zeit bloss den Status eines
Polit-Clowns. Dass sie sich auf ihn eingelas-
sen und sich an ihngebunden haben,zeigt,
in welch katastrophaler Situation dieKonser-
vati ven in Grossbritannien sind.
Wegen des Brexit.
Genau.Der früherePremierminister David
Cameron hat dasRefere ndum lanciert,
obwohl seine Partei in der Europafrage stets
gespalten war. Diese uneinheitliche Haltung
hat denTories bei den Europawahlen zuletzt
eine schwere Niederlage beschert. Die Bre-
xit-Befürworter liefen damals zu Nigel
Farages neugeschaffener Brexit-Partei über.
Und auch die Brexit-Gegner stimmten nicht
für dieTories, sondern die Liberaldemokra-
ten. Das erklärt,weshalb dieTory-Partei
umgepflügtwird und Johnson die Abgeord-
neten ausschliesst, die im Unterhausgegen
ihn gestimmt haben. Dabei hatBoris Johnson
selbst zweimalgegen Theresa Maygestimmt
im Unterhaus, als sie ihren EU-Scheidungs-
vertrag umsetzenwollte. Er schmeisst also
Leute aus der Partei fürTaten, die er selbst
zu einer anderen Zeit auch begangen hat.
Letztlich willer mit der Säuberung javor
allemWahlengewinnen.
Ja, Johnsongeht aber noch einenSchritt
weit er, weil er sich für die radikalsteVariante
eines Brexit ausspricht, den ungeordneten
EU-Austritt. Einige derRebellen, die nun aus
der Partei ausgeschlossenwurden, darunter
der Enkelvon Winston Churchill, Sir Nicho-
las Saomes, sind jakeineswegsgegen den
Brexit , abergegen einen «NoDeal»-Brexit.
Dass derVertragvon May im Parlamentkeine
Mehrheitfand, zeigt vor allem,wie wenig die
Briten sich imVorfeld desRefere ndums über
die Frage einer EU-Aussengrenze zwischen
der Republik Irland und dem britischen
NordirlandGedankengemacht haben. Dabei
war doch klar, dass bei einemAustritt die
Grenze dortverlaufenwird.
Theresa May versuchte die unterschiedlichen
Positionen innerhalb derPartei zukonsolidie-
ren. Johnson macht dasGegenteil, er vertritt
dieradikale Positioneiner GruppeKonservati-
ver undeliminiert alle anderen Positionen. Ist
diesesVorgehen nicht auchpolitischeAvant-
garde? Das wäre ja, alswürde jemand aus der
CDUeine AfD machen.
Ich würde das nichtAvantgarde nennen.
Aber derVorgang ist in seiner Radikalität
ausserordentlich. Grossbritannien ist in einer
höchstverkeilten Situation aufgrund eines
Entscheides, den dasVolk getroffen hat und
der nun im Parlament so leicht nichtrück-
gängiggemachtwerden kann. Grossbritan-
nienkommt da nicht raus. Theresa May hatte
nochversucht,Kompromisse innerhalb der
Tories zu schmieden und hat dabei alles
Mögliche eingebunden, um durchzukom-
men. Das hatte imRückblick etwasDepri-
mierendes.Aus dieser Sicht ist es nicht über-
raschend, dass jetzt einProzess der Radikali-
sierung eintritt.
Ist dieRadikalität dieeinzige Lösungfür
Grossbritannien, dieBlockadezu lösen?
Einige Briten machen sich auch für ein
HerfriedMünkler
Der 68-Jährige ist
Politikwissenschaf-
ter und lehrt politi-
sche Theorie und
Ideengeschichte an
der Humboldt-Uni-
versität zuBerlin.
Bekannt wurde er
durchseine For-
schung zu Machia-
velli. 2017 erschien
«Der Dreissigjährige
Krieg. Europäische
Katastrophe,
deutsches Trauma
1618–1648».
zweites Refere ndum stark. Es wäre sicherlich
vernünftig, einen mit der EU ausgehandelten
Vertrag nochmals zur Abstimmung zu brin-
gen. Dann wären dieKosten, dieVor- und
Nachteile, die damitverbunden sind,viel
klarer. Eine solche nochmalige Abstimmung
hat Frau May innerhalb derkonservativen
Partei aber nicht durchbekommen.
Gespalten sind nicht nur dieTories.
Nein, auch dieLabour-Partei ist in dieser
Frage zutiefstzerstritten. Kommt hinzu, dass
die Westminster-Demokratiekeine ist, die
auf Kompromisse ausgelegt ist. Die britische
Politik ist eine der unmittelbarenKonfronta-
tion. Es gilt dasModell:TheWinnertakes it
all.Und nunzeigt sich: Es gibtFragen, bei
denen ist daskein günstigesModell. Gross-
britannien ist jetzt eingespaltenesLand.
Und auch aus EU-Sicht kann man gar nicht
sagen, was einem lieber wäre: dass die Briten
endlichgehen, damit sich die EU auf ihre
eigenenProblemekonzentrieren kann, oder
dass sie bleiben. Ein bleibendes Grossbritan-
nien wäre einextrem schwieriger Partner.
Weshalb?
Die britischePräferenz wäre: EU-Erweit e-
rung ja, aber nichtVertiefung.Rückbau der
Union zu einemgemeinsamen Markt, also
Rückverlagerungvon Kompetenzen auf die
Regierungen der Mitgliedsländer. DasPro-
blem dabei ist, dass eine solche EU den Ein-
flussnahmen derRussen, Chinesen und auch
Trumps hilflos ausgeliefert wäre.
Ist JohnsonsVorgehen einzigartig?Oder sehen
wir etwain Italien mitMatteo Salviniein ähnli-
ches Phänomen? Er hat aus der Separatisten-
partei Lega Nord dieLega gemacht unddas
Programm auf das Thema Migrationzugespitzt.
Der Vergleich ist naheliegend. Die Par-
teienlandschaft,wie sie im 20.Jahrhundert
entstanden ist und unsere Zeitgeprägt hat,
ist im Umbruch. InItalien sind die traditio-
nell starken Parteien bereitszerfallen, in
Frankreich ebenfalls, inDeutschland ist die
grosseKoalition nur noch ein Name für
etwas, dasgerade noch so eine handlungs-
fähigeKoalition darstellt.
Heisst dieZukunft: Brexit-Tories, Lega,AfD?
Diese Parteien funktionieren nach dem-
selbenMuster: Sie bedienen ausschliesslich
ein Thema. Dasfedern sie ab, indem sie in
hohem Masse sozialeWohltaten an ihre
Klientel verteilen. Das sieht man beiSalvini,
der weit er eineVerschuldungspolitik betrei-
ben wollte. Aber auchBoris Johnsonver-
sprach allesMögliche, was mit denwegfal-
lenden EU-Zahlungen gemachtwerden
könnte. Manfokussiert auf ein Thema, und
dannregnet esGeld.
Werden CDU und SPD untergehen, wenn sie
sich nicht auch klarer an den neuenKonflikt-
linien wie Migration ausrichten?
Wir haben in der Bundesrepublik eine
politischeKultur desKompromisses. Durch
das Wahlsystem, durch die Tradition der
Republik und die Art derRegierungsbildun-
gen. Dieverschiedenen Haltungen zu
Themenwie Migration und Integration
gehen mitten durch die traditionellen Par-
teien CDU und SPD und mitten durch die
politischenLager derrechten und linken
Mitte. Statt einem Entweder-oder sollte man
auch einSowohl-als-auch finden.
Beim Sowohl-als-auchweiss derWähler nicht,
woran er ist.
Ja, aber dieProbleme sind doch grösser,
als dass man sie auf ein Entweder-oder
zuspitzen darf.Wir haben inDeutschland
zumBeispiel einen Mangel an Facharbeits-
kräften.Viele dynamischeWirtschaftszweige
sind auf Zuwanderung angewiesen.Wer auf
scharfenAusschluss setzt, der hinterlässt
auch Spuren in der Ökonomie des eigenen
Landes. Die polnischen Handwerker, die in
Grossbritannien waren und sind,werden ein
Loch hinterlassen, das dramatisch ist,wenn
sie die Inselverlassen müssen.
Verstehen das dieWähler?
Ich glaube dasfest. Weil das letztlich eine
Voraussetzung unserer liberalen,rechtsstaat-
lich gebundenenDemokratie ist, die ja nicht
zu vergleichen ist mit der antikenDemokra-
tie, wo sich dasVolk inAthen auf demPnyx
versammelt und über einfache Entweder-
oder-Fragen abgestimmt hat. Dagegenkenn-
zeichnenVerhandlungen undKompromisse
den Typ von Demokratie, der im18. Jahrhun-
dert irgendwo zwischen England, denUSA
und Frankreich entstan den ist. Und diese
Demokratie ist letztlich darauf angewiesen,
dass man urteilsfähige Bürger hat.
Johnsonerinnert in seinerArt, aber auch
darin, wieer diePartei umpolt, an US-Präsi-
dentDonaldTrump. Sehen sieParallel en?
Ja, nicht nur ähneln sich die beidenvom
Typ her, auch ihre Hintermänner gleichen
sich.Bei Johnson ist diesDominic Cum-
mings, bei Trump war es SteveBannon. Und
jetzt sind es bei Trump andere, die die Strate-
gie der Eskalation entwickeln. Das hat auch
etwas Diktatorisches. Dass das langfristig in
einergefährlichen Spaltung desLandes
endet, intere ssiert sie nicht. Sie denkenvon
heute auf morgen, aber nicht in grösseren
Zeiträumen.
Wie war diese Entwicklung möglich?
Das hat damit zu tun, dass die klassische
liberaleDemokratie nicht mehr sofraglos als
das Modell der Zukunft erscheint. Illiberale,
gelenkte oder sogenannt autoritäreDemo-
kratienverbreiten sich zunehmend. Einige
«Wenner denMund aufmacht,kommt
BorisJohnsonsruchlose SäuberungderTory-Parteiseiausserordentli chradikal,sagtderPolitologe HerfriedMünkl
Philip Hammondist
seit 19 97 im Unter-
haus. ZwischenMai
2010 und Juli 2019
war er in der Regie-
rung. Er ist einBrex it-
Befürworter undko-
ordinierte das Vor-
gehen der21 konser-
vativen Rebellen, die
sich gegenBoris
Johnsons «No Deal»-
Plänestellten.
AusderPartei
geworfen
Kenneth Clarkeist
seit 19 70 im Unter-
haus und gehörte
den Regierungenvon
Margaret Thatcher,
John Major und David
Cameron an. Clarke
ist ein enthusiasti-
scher Befürworter
des Verbleibs Gross-
britanniens in der EU.
Nicholas Soamesist
der Enkel des legen-
dären Premierminis-
ters Winston Chur-
chill. Er sitztseit 1983
für die Konservativen
im Unterhaus und ge-
hört zu denjenigen,
die für einenBrex it
sind, aber nur für
einen geordneten.
ANDY RAI
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