Beobachter - 13.09.2019

(nextflipdebug5) #1

G


edimmtes Licht, Kerzenschein und klas-
sische Musik. Seit fünf Stunden hat die
Frau im lauwarmen Wasser Wehen. Sie
kämpft, sie erholt sich, dann fängt sie an zu
pressen. Als der Kopf des Babys sichtbar wird,
denkt Fabienne Illi: «Unglaublich, was Frauen
vollbringen können.»
An die erste Geburt vor fünf Jahren erinnert
sich Hebamme Fabienne Illi genau. Damals war
sie nur Zuschauerin. Sie hatte Hühnerhaut und
war vor lauter Mitfiebern ins Schwitzen gekom-
men. Mehrmals versucht sie, für die damalige
Erfahrung die richtigen Worte zu finden: «Stau-
nen», sagt sie dann. «Einfach nur Staunen.»
Mittlerweile hat die 24-Jährige rund 150 Ge-
burten begleitet. Die längste dauerte 13 Stunden,
die kürzeste 5 Minuten. «Die Frau hatte schon im
Auto Pressdrang», erzählt Illi. «Hier im Geburts-
haus Terra Alta hat sie es knapp ins Zimmer
geschafft, da war das Kind schon da.» Und die
intensivste Geburt? Das sei keine Totgeburt
gewesen, wie man vielleicht erwarten würde. Ein
solcher Abschied sei zwar traurig und berüh-
rend, aber eine stille und ernsthafte Angelegen-
heit. «Die grösste Hilflosigkeit habe ich gefühlt,
als eine Frau mit Migrationshintergrund geboren
hat, die kein Deutsch sprach. Sie war komplett
weggetreten», erinnert sich Illi. «Ich war sicher,
dass bei ihr irgendein Film ablief, vermutlich
wegen traumatischer Geschichten aus ihrer
Vergangenheit.» Weil die Geburt eine Grenz-
erfahrung sei, könne sie manchmal Flashbacks
zu Gewalterfahrungen auslösen. Ohne gemein-
same Sprache konnte Illi aber nicht mit ihr
kommunizieren.
Überfordert fühlte sie sich zu Beginn häufiger,
unterdessen nur noch selten. Was am Anfang
Theorie in Lehrbüchern war, wurde mit jeder
weiteren Geburt lebendiger und bekam Farben,
Gesichter, Geschichten. Spannend war für Illi
zu erfahren, wie sich das Verhalten der Frauen
je nach Geburtsstadium verändert. Wie Frauen
in ihre eigene Welt entschwinden, wenn der
Muttermund endlich geöffnet ist und Endor-
phine ihren Körper fluten. Wie sich Schüttelfrost
und Hitzewallungen abwechseln, wenn sich
während der Presswehen das Baby auf den
Weg macht.

Kurz und klar erklärt. Fabienne Illi ist eine junge
Hebamme, oft jünger als die Frauen, die sie
begleitet. Argwohn spürt sie von den werdenden
Eltern selten, und wenn, dann eher von den
Vätern. Männer denken rationaler, sagt Illi, und
sind deshalb skeptischer.
Sie hat gelernt, mit kritischen Kommentaren
umzugehen. Und weiss, dass sie forsch sein

muss, wenn während der Geburt eine schwie rige
Situation eintritt. Etwa wenn die Herztöne des
Babys langsamer werden. Dann muss die Mutter
das Becken heben oder aufstehen, damit das
Baby am Schambein vorbeirutschen kann. Eine
Frau, die seit Stunden am Gebären ist, glaubt,
dass sie dafür keine Kraft mehr hat. «Doch sie
muss nicht bald aufstehen, sondern jetzt.
Deshalb muss ich kurz und klar sagen, was sie
machen muss.»

Manchmal gibts Tränen. Neben einer Prise
Strenge braucht Illi viel Feingefühl. Besonders
bei Müttern, die sich nach der Geburt nicht mit
ihrem Kind verbunden fühlen. Nach einem Kai-
serschnitt oder nach einer schweren Geburt.
Illi bietet ihnen an, die Geburt mit einem Ritual
nachzuholen: Sie badet das Baby und legt es,
nackt und noch nass, auf den Bauch der Mutter.
«Manche Frauen hatten sich die Geburt ganz
anders vorgestellt», erklärt Illi. «Mit einem sol-
chen Ritual können sie trauern und verarbeiten.»
Auch die Hebamme hat nach einer Geburt
manchmal Tränen in den Augen. Weil sie stolz
ist auf die Mütter, die so viel geleistet haben, und
auf die Väter, die ihren Frauen beigestanden
sind. Deshalb ist sie so gerne Hebamme: «Einen
intimen Moment so nah miterleben zu dürfen,
das ist und bleibt etwas ganz Spezielles.»
TEXT: JESSICA KING | FOTOS: JACQUELINE LIPP

«Kaum zu
glauben,
was Frauen
vollbringen
können.»
Fabienne Illi, Hebamme
im Geburtshaus
Terra Alta, Oberkirch LU

Beobachter 19/2019 87
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