Der Stern - 12.09.2019

(Sean Pound) #1


Jan Boris Wintzenburg hat schon
2009 für den stern über die letzte große
Rezession geschrieben, die von den
Finanzmärkten ausging. Andreas
Hoidn-Borchers, Ruben Rehage, Hendrik Stamm
und Isabel Stettin recherchierten mit FOTO: MARCUS WINDUS/STERN

Windenergie
Steelwind, Nordenham

Dass in den nächsten Jahren der Ausbau
der Offshore-Windenergie in Deutschland
nicht vorankommt, frustriert Geschäfts-
führer Ralf Hubo: „Hierzulande werden
zu wenige Windparks gebaut. Andere
Länder überholen uns.“ Wegen einer
Auftragsflaute lief die Produktion acht
Monate lang in Kurzarbeit. Für Mitarbeiter
Kay Lebenhagen (r.) bedeutete das
Unsicherheit: „Kurzarbeit ist Mist, man
weiß nie, wie lange das geht. Da kommen
Existenzängste hoch. Ich bin jetzt 58, muss
noch neun Jahre Geld verdienen.“

Man kann sich auf


Deutschland


nicht verlassen“


Bestimmt nicht einfach, aber unter dem
Druck der sich verschlechternden Daten
vielleicht doch möglich – falls die SPD
überhaupt noch weiter mit der Union
regieren will. „Wenn wir unseren Wohl-
stand verteidigen wollen, müssen wir uns
jetzt den Dingen widmen, die nachhaltig
wirken“, sagt er. Ein bisschen Agenda 2030.
Erzwungenermaßen. „Der Wohlstand
hat uns satt gemacht“, resümiert Carsten
Linnemann.
Aber welchen Einfluss haben Politiker
überhaupt auf die Konjunktur? Kurzfristi-
ge Investitionsprogramme treffen nur auf
eine überhitzte Bauindustrie und dürften
verpuffen. Und langfristige Planungen ver-
ursachen oft erst den Schaden. Das erlebt
gerade Ralf Hubo. Er ist der Geschäftsfüh-
rer von Steelwind in Nordenham, speziali-
siert auf den Bau von Stahlfundamenten für
Offshore-Windkraftanlagen.
Die Nachfrage stockt – trotz Energie-
wende und CO 2 -Debatte. Gerade musste
das Unternehmen acht Monate Kurzarbeit
durchstehen. Der Grund: Der Ausbau der
Offshore-Windenergie wurde aus politi-
schen Gründen gedeckelt, unter anderem,
weil weiter Kohle verstromt werden soll.
„Es werden in Deutschland derzeit einfach
zu wenige Offshore-Windparks gebaut“,
sagt Hubo. „Eine vielversprechende Ent-
wicklung wird politisch gebremst. Das
kann man in einer Industrienation wie
Deutschland eigentlich nicht machen. An-
dere Länder überholen uns gnadenlos.“
Jetzt rettet sich Steelwind mit einem
Auftrag aus Taiwan und lässt seine Spe-
zial-Fundamente um den halben Globus
schippern. „Wir haben Glück, dass wir auf
andere Märkte gesetzt haben“, sagt Hubo.
„Man kann sich auf Deutschland nicht
verlassen.“

D


ie Kieler Wirtschaftsforscher se-
hen das ähnlich: „Viele Konjunk-
turmaßnahmen dauern zu lange,
bis sie wirken, oder sie wirken an
der falschen Stelle“, erklärt Stefan
Kooths. Er setzt auf sogenannte
„automatische Stabilisatoren“, Einrichtun-
gen und Gesetze, die immer da sind und
einen Absturz bremsen.
„Glücklicherweise haben wir die in
Deutschland und müssen daher nicht in
jedem Abschwung das konjunkturpoliti-
sche Instrumentarium neu erfinden“, sagt
Kooths und zählt auf: „Eine funktionie-

rende Arbeitslosenversicherung, Arbeits-
zeitkonten und Kurzarbeit, um Entlas-
sungen zu vermeiden, ein progressives
Steuersystem.“ Außerdem seien die Un-
ternehmen gerade relativ finanzstark und
angesichts der alternden Gesellschaft und
des Fachkräftemangels die Neigung zu
Entlassungen in Deutschland nicht be-
sonders groß. Die Firmen wüssten, dass
sie im folgenden Aufschwung dann
keine neuen Mitarbeiter mehr finden
würden. Und schließlich sind auch die
Arbeitszeitkonten vieler Arbeitnehmer
randvoll mit Überstunden, die nun erst
mal abgebummelt werden können. Ge-
rade der Arbeitsmarkt wird im bevorste-
henden Abschwung wohl eher langsam
reagieren.
In ihrer Prognose, die am Mittwoch
dieser Woche veröffentlicht wurde, geben
die Kieler Experten einen moderaten Aus-
blick auf Deutschlands wirtschaftliche
Zukunft: Auch im dritten Quartal gehe die
Wirtschaftsleistung zurück, aber nur um
0,3 Prozent. „Deutschland im wirtschaft-
lichen Abwärtssog“ steht über der Progno-
se. „Das ist aber kein Absturz“, beeilt sich
Stefan Kooths hinzuzufügen. Ihm ist wich-
tig, keine Ängste zu schüren und so selber
zum Krisenverstärker zu werden. Wichtig
sei der differenzierte Blick: „Die Industrie
geht in die Rezession, aber sie macht nur
etwa 30 Prozent der Wirtschaftskraft aus.“
70 Prozent der Wirtschaft sind Dienstleis-
tungen, und die blieben auch in rezessiven
Phasen recht stabil.
Was bleibt, sind die internationalen
Risiken, etwa Trumps Getwittere oder die
Entwicklung in Asien, von der auch hier-
zulande vieles abhängt. „Man muss sich
nicht vor China sorgen, sondern um Chi-
na“, sagt Klaus-Jürgen Gern. Solche Ein-
schätzungen lassen sich in den Prognosen
aber gar nicht abbilden. Denn am Ende
steht eine schlichte Zahl mit einem Vor-
zeichen: Plus ist gut, Minus ist schlecht.
Und auf wie viel Minus müssen wir uns
einstellen? „Es wird nicht dramatisch“, sagt
Kooths. „Und wir glauben an eine Erho-
lungsphase ab Ende 2020.“ 2

5,1 %


betrug die Arbeitslosen quote
in Deutschland im August –
ein leichter Anstieg

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