Der Stern - 12.09.2019

(Sean Pound) #1
Ich erinnere mich an ein Mittagessen mit ihm, bei
dem es aus ihm herausbrach, wie erleichtert er sei, dass
dieses gerade erst veröffentlichte Buch hinter ihm lie-
ge: „Ich musste jeden Morgen um halb fünf aufstehen,
um das verdammte Ding zu schreiben.“ Johnson arbei-
tet tatsächlich sehr viel, würde dies aber nie öffentlich
zugeben und oder gar damit angeben – das widersprä-
che dem demonstrativen Müßiggang ehemaliger Eton-
Privatschüler. Sein Problem über Jahre war, dass er sein
Talent an zu vielen Fronten eingesetzt hat, aus dem
Antrieb, den auch Churchill kannte: so viel Geld wie
möglich zu verdienen.
Es könnte sein, dass Johnson sich für den Job des Pre-
mierministers das erste Mal in seinem Leben ganz auf
eine Sache konzentriert – abgesehen von seinem per-
sönlichen Ehrgeiz, der immer und auch jetzt heiß glüht.
In Downing Street wird er nun unterstützt von Domi-
nic Cummings. Der ist ebenfalls extrem zielstrebig, wenn
auch auf ganz andere Weise. Während Johnson – wie alle
geborenen Politiker – seinen Charme spielen lässt, um
Einfluss zu gewinnen, ist Cummings erbarmungslos ana-
lytisch. Und es schert ihn nicht im Geringsten, wen er da-
mit vor den Kopf stößt. Vor allem hat er eine tief sitzen-
de Verachtung für die sogenannte „politische Klasse“. Die,
so glaubt er, spielt selbstbezogene Spiele und wird mehr
durch persönliche Eitelkeit angetrieben als durch den
unbedingten Willen, soziale Probleme zu lösen.
Ich muss zugeben, ein Freund Cummings zu sein –
wenn auch kein enger. Dies führte zu einem amüsan-
ten und wahrscheinlich wichtigen Gespräch mit mei-
nem Vater, einst Schatzkanzler unter Margaret Thatcher,
als dieser ganz zu Beginn der Vorsitzende der Brexit-
Kampagne „Vote Leave“ war. Cummings hatte Vote Lea-
ve wie ein Internet-Start-up gegründet. Und befand, die
meisten konservativen Abgeordneten seien hoffnungs-
los unwissend über moderne politische Kampagnen.

M


ein Vater rief mich damals an und sagte: „Domi-
nic Cummings ist doch ein Freund von dir.“ Ja,
sagte ich. „Nun, er behandelt die Abgeordneten bei
Vote Leave mit Verachtung“, sagte mein Vater, der da-
mals kein Abgeordneter mehr war. Ich antwortete, dass
dies so sei, weil er sie tatsächlich verachte. „Nun, das mag
sein“, sagte mein Vater. „Aber er sollte es nicht so deut-
lich zeigen.“ Ich beschwor ihn, Cummings nicht zu feu-
ern – wie es viele Abgeordnete verlangten –, und erin-
nerte an eine Reihe außergewöhnlich erfolgreicher poli-
tischer Kampagnen. Darunter ein Sieg gegen Tony Blairs
Idee, eine eigene parlamentarische Vertretung im Nord-
osten Englands zu etablieren. Cummings selbst stammt
dorther, was deutlich zu hören ist, wenn er spricht.
Ich weiß nicht genau, was dann passierte. Außer dass
Cummings nicht gefeuert wurde und später den ein-
flussreichen Slogan „Take Back Control“ erfand. Aber
seine Verachtung für die Grandseigneurs der konser-
vativen Partei besteht weiter, gerade auch in der Rolle
des wichtigsten Beraters von Boris Johnson. Nicht über-
raschend wird er nun verantwortlich gemacht für die
Strategie, nach der jeder Tory-Abgeordnete ausgeschlos-
sen wurde, der in der vergangenen Woche mit der Op-
position für ein Gesetz stimmte, das Großbritanniens
Austritt aus der EU schon wieder vertagen wird, da-
runter zwei ehemalige Schatzkanzler.

Das war brutal, aber auch logisch – ein typischer
Cummings-Schritt. Und doch war es Johnson, der am
Ende absegnete, was einige nun eine Säuberungsaktion
nennen. Dabei verglich er sich mit Kaiser Octavian, der
in zwei Bürgerkriegen blutige Hinrichtungen anordne-
te. Und dann Frieden brachte ins Römische Reich.
Als Kenner der Antike hat Johnson stets postuliert,
dass nach dem unumgänglichen Brexit – in seinen Wor-
ten: „do or die“ – wieder Frieden einkehren werde in die
konservative Partei und, viel wichtiger, in die politische
Landschaft Großbritanniens. In Downing Street erzähl-
te er gerade einer Schülergruppe, der griechische Staats-
mann Perikles sei seine politische Inspiration.
Das mag absurd arrogant klingen, aber Johnson sieht
sich tatsächlich klassischen Helden ähnlich, die, wäh-
rend sie persönlichen Ruhm suchten, ihre Stadt vor
Feinden retteten, indem sie deren Ideale verteidigten.
Wie der Historiker Tom Holland in der vergangenen Wo-

che sagte: „Boris ist sehr anders als andere Politiker. Er
ist vor allem von Plutarchs Leben des Perikles und der
Geschichte Roms von Livius beeinflusst worden.“
Auch dies mag absurd und anachronistisch erschei-
nen. Aber Johnsons antik inspirierte Vorstellung, die
Seele des eigenen Landes zu verteidigen, indem er das
Königreich aus der EU führt – und so den Europäischen
Gerichtshof von britischer Gesetzgebung abkoppelt –,
korrespondiert mit der Sicht von Millionen Briten.
Diese Sicht, die außerordentlich emotional besetzt ist,
basiert auf dem tief sitzenden Glauben an die Einzig-
artigkeit der Briten. Sie ist es, die unzählige Bürger unse-
res Landes zweifeln lässt, Teil eines sich homogenisie-
renden europäischen Reiches sein zu wollen. Ganz egal,
wie gutartig dessen Ambitionen sein mögen. Fügt man
dann noch Johnsons englische Rhetorik dazu, die nie-
mals etwas ganz ernst nehmen zu können scheint, ist
er eine Figur, die eben nur in Großbritannien an die
Macht kommen konnte.
Ich kann verstehen, dass all dies für Johnsons Ver-
handlungspartner auf der höchsten politischen Ebene
der EU seltsam anmuten dürfte. Aber wenn er doch noch
erfolgreich sein sollte, müssen die politischen Runden
dort seine Witze nicht mehr lange ertragen. Ich vermu-
te, dass sie seine Gesellschaft mehr missen werden als
die der schrecklich langweiligen und pflichtbewussten
Theresa May. Sollte dies so sein, werden sie verstehen,
wie weite Teile Großbritanniens momentan fühlen. 2

Vergangene
Woche beschimpfte
und umgarnte
Boris Johnson
das Parlament
abwechselnd.
Ohne Erfolg.
Er erlitt drei
Niederlagen

1 2.9. 20 19 37
Free download pdf