Die Zeit - 22.08.2019

(Nora) #1
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  1. August 2019 DIE ZEIT No 35


igentlich hat man den schnabel ja gestrichen
voll von dem Federvieh. Jonathan Franzen
labert uns seit Menschengedenken mit sei-
nem Nerd-Hobby, der Vogelbeobachtung,
zu. Derweil sterben die Arten. ständig soll
man Vögel zählen. und seit Jahrhunderten
laden die Dichter ihren Projektionsmüll auf
den eierlegenden Dino sau rier nach fah ren ab.
Wie viele verunglückte Metaphern schleppt
die arme Nachtigall wohl auf ihrem grazilen
Kreuz tagtäglich mit sich?
Kurzum: gibt es denn keine anderen tie-
re, die man beobachten könnte? Asseln zum
Beispiel. Wo ist Michel Houellebecqs zoolo-
gische studie aus dem Kellerloch? Rainald
goetz’ Chat mit den schimpansen?
Aber die skandalös gute Nachricht ist: Auch
Brigitte Kronauer hat es getan. Hat die Vögel
ins spiel gebracht – und uns eine schriftstelle-
rin namens Charlotte nachgelassen. Der steigt
die Vogelpräsenz in Form von Büchern und
Bildern im Haus, das ihr von einem befreun-
deten, im Ausland auf safari befindlichen
Ornithologenpärchen als schreibklause über-
lassen wurde, so zu Kopf, dass ihr lauter kleine
Porträtkurzgeschichten von sozusagen vogel-
scharf geschnittenen Menschen daraus er-
wachsen. »glamouröse Handlungen« soll der
Roman heißen, den sie in der Abgeschieden-
heit in Angriff nimmt, gedacht als fröhlicher
Klaps ins gesicht der Literaturkritik, die ihr
Handlungsimpotenz vorwirft. Doch dann
übernehmen erst die Vögel die Herrschaft über
die Fantasie, bis die unverhoffte Rückkehr der
Hausbesitzer alle Pläne – und damit auch die
geschichten – durch ein an der bringt. Von
schönen, schäbigen, schwankenden, an Am-
seln oder sperber oder deren illustre Verwand-
te erinnernden Menschen soll erzählt werden.
Erstere abstürzend aus der großartigkeit, die
Mittleren dahinwelkend, Letztere einen Mo-
ment des glanzes erlebend, auf den der Abstieg
folgt. Doch welches der dreimal dreizehn Bio-
gramme in welche Kategorie gehört, muss der
Leser entscheiden. »Roman ge schich ten« lautet
die kreative genrebezeichnung auf dem Cover
von Brigitte Kronauers letztem Buch. Vor
knapp einem Monat ist sie verstorben. tatsäch-
lich ließe sich wohl aus fast jedem der Kurz-
porträts ein Roman entwickeln – und zwar
einer voller glamouröser Handlungen, der
selbst actionbedürftige Kritiker zufrieden-
stellen könnte. Kronauer und ihre Charlotte
verzichten darauf, liefern stattdessen eine
sammlung von konzentrierten Lebensbilan-
zen. Betörend, benebelnd, manchmal beißend


  • wie reine Duftessenzen.


D


a ist die kapriziöse Rosetta,
tochter des berühmten Malers
Fettke, die als »unumschränk-
te Herrscherin einer willfähri-
gen gesellschaft« ein biederes
Abendessen aufmischt und reine Erotik ver-
strömt. »Aber der Mund!«, seufzt die Erzäh-
lerin mehrmals. »Er stand als dunkelrote
Mohnblüte im hellen Feld ihres gesichts.«
Der text berauscht sich über eine ganze seite
geradezu an diesem pornösen Mund, voll-
zieht auf der literarischen Ebene das Begeh-
ren nach oder beschwört es vielmehr nach
allen Regeln der sprachkunst erst herauf.
solche Passagen sind Kronauers Kür, hier
kann sie das ganze Ausdrucksspektrum des
von ihr perfektionierten schachtelsatzes aus-
kosten. Er eignet sich für die präzise Beschrei-
bung, nicht weniger jedoch für vielschichtige

Ironie. Eine zart parodistisch anmutende
Hommage an die Epoche der bürgerlichen
Hochliteratur scheint immer hindurch, ge-
nauso aber der moderne Hinweis auf die
zwangsläufige Künstlichkeit des Erzählten. Es
ist ein anspruchsvoller, aber gut lesbarer stil,
denn die sätze sind mit Musikalität gefügt

und die Einschübe so gewählt, dass eine se-
mantische Binnenspannung entsteht, man
beim Lesen stets aufmerksam bleibt: »Was
uns an ihr behexte? Vielleicht das ungeheuer
Erwartungsvolle, das mit ihr den Raum be-
treten hatte, eine Erwartung an jedermann,
das Aufsaugende, als wäre sie ein feuchter,
trotz ihrer Blondheit dunkler trichter, der
alles für sich verlangte, von jedem und von
jeder sekunde, um als gegengeschenk eine
schrankenlose Hingabe zu gewähren.« Man
ahnt, mit einem solchen Paradiesvogel kann
es kein gutes Ende nehmen. Rosettas ist denn
auch gänzlich grotesk.
Jedes der Porträts endet mit einer mal kra-
chenden, mal matt leuchtenden Pointe, die in
den gelungensten Fällen ebenso viel offenbart
wie ins funkelnde geheimnis transzendiert. Die
Literaturkritikerin Veronika, genannt »Mitsou«,
französisch elegant, sexy und mit einem messer-
scharfen Verstand gesegnet, ist im Liebes- und

Berufsleben gleichermaßen abgebrüht: »Ve-
ronika musste niemand beibringen, dass zwei-,
dreimal pro saison eine aufwühlende Erschüt-
terung bei der Lektüre erwünscht war, ebenso
aber gehörte zum styling die schnoddrige
grazie der Hochstapelei.« sie verliert schließ-
lich ihren Zauber, als ihr Lieblingsliebhaber sie

sitzen und sich das Alter nicht mehr aufhalten
lässt. »Der Perlmuttschimmer ihres Prachtgefie-
ders ergraute.«
Nicht nur von fatalen Frauen wird gezwit-
schert. Ein offensichtlich geistig behinderter,
vom Alkohol gezeichneter, unbeholfen auf-
dringlicher sohn eines unternehmers sucht
verzweifelt Anschluss in der Art eines stal-
kers. Ein junger Friseurlehrling, vom Leben
buchstäblich mit einer monströsen Narbe
quer über die Brust gezeichnet, ist tief ent-
täuscht von seiner stadt, als ihm sein Lieb-
lingsort im Park genommen wird. Woraufhin
er mit seinem Freund nach Kanada auswan-
dert, zu seinem Onkel und den »Kolibris«.
Der ton, in dem diese Existenzen geschil-
dert werden, ist mal einfühlsam, mal liebe-
voll spöttisch, zuweilen brutal. Natürlich
werden die »schönen« durchaus genussvoll
denunziert. Aber der Anflug von schonungs-
losigkeit gilt dabei auch dem literarischen

schreiben selbst, von dem das Buch in jedem
Moment handelt: Immer wieder schwingt
die Literatur sich auf, die Wirklichkeit zur
Wahrhaftigkeit zu bringen, und verflattert
sich doch so oft im Wortgeklingel oder knallt
gegen die gläserne Wand der ihr an sinnlich-
keit überlegenen Phänomene, stürzt ab ins
schweigen.
Das Kaleidoskop der komischen und tragi-
schen Vögel bildet das Herzstück des Buches,
auch sein innerhalb der Rahmenhandlung um
die Autorin im Ornithologenhaushalt ent-
wickelter Arbeitstitel, Das Schöne, Schäbige,
Schwankende, ist mit dem gesamttitel iden-
tisch. Doch es folgen drei weitere Kapitel, die
längere, für sich stehende geschichten ent-
falten. Zunächst über Figuren, dann über
Motive und themen sind sie zwar mit der
Porträtwunderkammer in der ersten Hälfte
verknüpft, entfernen sich aber immer weiter
von ihr. Die Bezüge verschwinden zwar
nicht, werden aber subtiler und abstrakter.

F


ranziska, die im ersten teil von ei-
nem kriminellen Jüngling in Rom
nicht nur ihrer Handtasche, son-
dern auch der letzten Hoffnung
auf weitere erotische Abenteuer
beraubt wurde, ist mittlerweile eine buddhis-
tische Matrone. Regelmäßig bekommt sie Be-
such von Charlotte, deren »glamouröser«
Roman noch immer nicht vorankommt und
die angesichts ihrer munter palavernden Be-
kannten grübelt: »War nicht letzten Endes
jedes unscheinbare Vögelchen in der Fülle
von gestalt und Organismus staunenswerter
als jede Zeile und geschichte?« Franziskas
beifallheischende schwänke aus ihrem Leben
nimmt sie dabei als fratzenhafte Karikatur des
literarischen Erzählens wahr.
Der narrative Atem wird länger im letzten
Drittel des Buches. Die Ich-Erzählerin be-
richtet aus ihrer Kindheit, von Onkel Emil,
den sie nach seinem Aussehen »das Lama«
nennt, und dessen tochter Katja. Die tonali-
tät verschiebt sich ins Elegische. Nun wird
nicht mehr mit dem schreiben gehadert,
sondern schnörkellos erzählt. und doch geht
es in aller Bescheidenheit ums ganze: das
Aufflackern und Vergehen eines Menschen in
der sprache aufzuheben.
Wenn im fünften Kapitel schließlich ein
neunzigjähriger Literaturprofessor zu fassen
versucht, was ihm beziehungsweise für sein
Leben der Isenheimer Altar von Matthias
grünewald bedeutet, scheint die Literatur in
der Bildbetrachtung zu sich selbst, zu ihrem
Archetypus gefunden zu haben. sie wirkt aber,
weil sie mit der stimme eines alten, gelehrten
Mannes spricht, auch vergeistigt, ephemer, als
wäre sie im Verschwinden begriffen und fast
schon nicht mehr von dieser Welt.
»Dem berüchtigten weißen Blatt«, erklärt
Charlotte einmal, »aus dem man gerne eine
Legende macht, sitzt man ja nicht tatsächlich
gegenüber. Man ist selbst das leere Blatt! Man
schreibt auf der eigenen Leere Figuren, die man
aus der spurlosen Weiße in sich selbst hervor-
presst.« Weiß ist aber auch die summe aller
Farben. schickt man das Licht durch ein Pris-
ma, zeigt es sich bunt wie die gefieder der
mannigfaltigen Vögel. Die schwierigkeit für
eine schriftstellerin besteht darin, immer wie-
der dieses Prisma zu werden, geschliffen und
klar. Brigitte Kronauer ist es, das beweisen die
Schönen, Schäbigen, Schwankenden, ein letztes
Mal gelungen.

Was uns an ihr behexte


Die im Juli verstorbene schriftstellerin Brigitte Kronauer hat ein fantastisches letztes Buch hinterlassen:


»Das schöne, schäbige, schwankende« zeigt schonungslos die Facetten der menschlichen Natur VON JULIANE LIEBERT


Brigitte Kronauer (1940–2019) war eine der bedeutendsten Autorinnen der
deutschen Gegenwartsliteratur. Sie erhielt 2005 den Büchner-Preis

E


Ve r s c hw e n d e


deine Jugend!


»Blackbird« heißt der erste Roman
des schauspielers Matthias Brandt

A


ls kürzlich die Nachricht kam, der
Nachlass von J. D. salinger werde
totaldigitalisiert, also diesen unse-
ren Zeiten angepasst, befand die Süddeut-
sche Zeitung, sein berühmter Coming-of-
Age-Roman Fänger im Roggen habe mit den
Jahren doch stark gelitten. Wer interessiere
sich noch für einen Roman, in dem nur
»reiner existenzialistischer Pubertätshorror«
vorkomme? Da wird man doch hellhörig.
Als sei die Pubertät literarisch seither je aus
der Mode gekommen. Es vergeht keine
Buchsaison ohne einen Roman, der uns mit
sprachmimetischem Aufwand an die Orte
und Zeiten zwangszurückführt, in die tage,
da Mädchen noch Mädchen waren und
Jungs noch Jungs, die schätze noch im sil-
bersee lagen und die sätze ein wenig größer
gerieten als die gedanken.
Das jüngste Beispiel stammt vom schau-
spieler und schriftsteller Matthias Brandt,
Jahrgang 1961, der vor drei Jahren feine,
melancholische Kurzgeschichten vorgelegt
hat. sein Romandebüt Blackbird erzählt
nun von – und damit wäre man im Jargon
des jungen Ich-Erzählers Motte – den Voll-
horsten, Halbhorsten und Oberhorsten in
sackgesichthausen, vom unterschied zwi-
schen Kohlendioxidfürzen und Methanfür-
zen, von den ganzen Arschkrampen, Piss-
nelken, Behindis oder sack- und Kackfres-
sen und davon, wie man halbstark verwirrt
einen softsexfilm ansah oder ins Freibad
einbrach, die sportlehrernazis einen auf der
Aschebahn quälten, wie man Amselfelder
soff und wie es kribbelte, wenn Jacque line
auf dem Hollandrad vorbeifuhr. »Ohne
scheiß« (Motte), so war das ja, wenn das
Age langsam kam. und »ohne Quatsch«
(ebd.): schön war das alles nicht immer.
Man kann nicht unbedingt sagen, dass
Blackbird ein misslungener Roman wäre.
Er ist in seiner Anhäufung von schule,
von erstem Kotzen, ersten Zigaretten, ers-
ten Küssen, ersten scheidungen und ersten
umzügen sogar oft ganz sympathisch.
und zumindest legt er sein poetisches Ver-
fahren zu Beginn offen: »Wahrscheinlich
gibt’s für die wirklich wichtigen Dinge,
die man fühlt, keine Worte. Jedenfalls
nicht die richtigen. (...) Weil man sich alles
zurechtquatschen muss.«
Wer jetzt die durchtriebene Hoffnung
hegt, dass die anderen, der Jugend noch
nicht so arg enteilten Debütanten der sai -
son etwas mehr bieten, ein bisschen gegen
Moden revoltieren, vielleicht mit ein paar
dekantierten Hypotaxen, einem überra-
schend altväterlichen Perückenton, even-
tuell sogar etwas literarischer Kneippkur
für unser gealtertes gemüt ... nun, schla-
gen wir mal ein anderes Romandebüt auf:
»Mein Körper ist anders, weicher und
länger alles, und ich habe superviele seh -
nen überall, das kommt vom Joggen frü-
her.« Wer reicht uns jetzt eine Flasche
Amselfelder? DAVID HUGENDICK

Brigitte
Kronauer:
Das schöne,
schäbige,
schwankende.
Klett-Cotta,
stuttgart 2019;
596 s., 26,– €,
als E-Book
20,99 €

LITERATUR


FEUILLETON 37


Foto [M]: Anita Schiffer-Fuchs/SZ Photo/laif

Matthias Brandt:
Blackbird. Roman;
Kiepenheuer & Witsch,
Köln 2019; 288 s., 22,– €,
als E-Book 18,99 €
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