Die Zeit - 22.08.2019

(Nora) #1

4 POLITIK 22. August 2019 DIE ZEIT No 35


Partei der Angst


Die traumata ihrer Helden verfolgen die sPD bis in die Kandidatenauswahl heute VON BERND ULRICH


H


at es so etwas schon mal gege-
ben? Eine große, stolze Partei
kollabiert und findet für den
drohenden untergang nicht
einmal eine sprache; vor aller
Augen spielt sich ein bestür-
zender Vorgang ab, allerdings
im gewande der Bürokratie: Dreiundzwanzig Ver-
anstaltungen, ein fünfmonatiger, sechsstufiger
Prozess der Vorsitzenden-Findung, und die ver-
bliebenen Führungsleute taktieren um eine Macht,
die in hohem tempo durchs stundenglas rinnt,
oder nehmen gleich Reißaus vor einer politischen
Verantwortung, die ihnen als persönliche Zumu-
tung erscheint. selbst als mit Olaf scholz in der
vergangenen Woche endlich, endlich der erste
Kandidat aus der ersten Reihe antrat, geschah das
mit einem seufzer; der Vizekanzler gibt sich keines-
wegs den Anschein, als habe er Lust auf den Vorsitz
oder eine zündende Idee, sondern als hätte er beim
Losen mit Hubertus Heil und Heiko Maas einfach
das kürzere streichholz gezogen. Man sollte dieses
abgebrochene streichholz im sPD-Museum aus-
stellen, direkt neben Bebels uhr.
Das seufzen beruht nebenbei gesagt auf
gegenseitigkeit, denn aus sicht der Partei steht
Olaf scholz für das unverfälschte Weiter-so, wei-
ter-soer als scholz geht gar nicht. und das bei –
demoskopisch – derzeit 14 Prozent Belohnung für
den Kurs der schieren sachlichkeit.
Die sPD geht also vielleicht kaputt – und kei-
ner schreit und keiner weint und keiner riskiert
sein politisches Leben, die absolute Aus nahme-
situa tion als fingierter Normalvollzug, eine Partei
in Angst, aber ohne die Kraft, auch nur zu zittern.
Hat es so etwas schon mal gegeben?
Wohl kaum. Wer diesen Prototyp der deutschen
Parteiengeschichte verstehen will, kann beim Verfall
der Arbeitermilieus und bei der groko- gefan gen-
schaft nicht stehen bleiben, sondern muss tief in die
seelengeschichte der Partei einsteigen, dahin, wo die
urangst der sPD sitzt; der wird dann auch bei Hel-
mut schmidt und Herbert Wehner landen, aber
vorher noch einen umweg über die grünen nehmen
müssen. Doch die Reise lohnt sich, denn wenn es um
die sPD geht, geht es nie nur um die sPD, sondern
um die Republik.
Vielleicht hilft es also für das bessere Verständ-
nis der existenziellen sPD-Krise, erst einmal einen
Blick auf die grünen zu werfen. Denn dort finden
sich Phänomene oft in handlicherer, leichterer
Form, die bei der sPD wegen ihrer Übergröße und
Überschwere nur schwer zu erkennen sind.
Zum Beispiel die Verwechslung der geschichte
einer bestimmten generation mit der geschichte der
Partei. Die grünen sind seit ihrer gründung vor vier


Jahrzehnten stark geprägt von der generation Josch-
ka Fischer (Jahrgang 1948), Winfried Kretschmann
(ebenfalls 1948) oder Ralf Fücks (1951). sie alle
waren in ihrer Jugend politische Extremisten, Kom-
munisten oder militante Anarchisten. Ihre zentrale
biografische Bewegung ist die der Läuterung, der Ort
ihrer Heilung waren die grünen, das Mittel der
selbst- und Fremdrettung war die offensive Adaption
der bundesdeutschen gegebenheiten sowie ein um-
fassendes Radikalitätsverbot – auf eine Formel ge-
bracht: Erfolg durch Anpassung. Maßstab grüner
Politik war stets die maximale Entfernung zu den
ursprüngen jener Biografien. und, um auch dies zu
sagen: Das war für die grünen und die Republik
ziemlich lange eine gute geschichte, sie hat beide
seiten, die grünen wie das Land, unterm strich
besser gemacht.
In die Krise kam dieses Erfolgsrezept, als immer
offenkundiger wurde, dass die ökologischen Proble-
me allein mit den Bordmitteln der Bundesrepublik,
mit ihrer gradualistischen, kleinen Politik nicht zu
bewältigen sein würden. Der maximale Abstand zu
den ursprüngen der eigenen Biografie führte zu
einer wachsenden Entfernung von der materialen
Dringlichkeit des ökologischen Problems.
Aus diesem grund trat schließlich einer aus der
jüngeren generation ohne eigenes Extremismus-
trauma an. Robert Habeck widersetzte sich dem all-
gemeinen Radikalitätsverbot, allerdings wies er es nur
abstrakt zurück, ohne je dagegen zu verstoßen. Zu
Hilfe kam der Partei dann »Fridays for Future« mit
seiner realitätsadäquaten Radikalität und verschob
die Agenda der Republik, weswegen die grünen zur-
zeit wenig mehr tun müssen, als ihren Namen zu
tanzen, was sie freilich sehr anmutig tun.

S


olche Hilfe aus der Zivilgesellschaft
wurde der sPD bislang nicht zuteil. Was
auch daran liegen mag, dass bei ihr die
Verwechslung von generationen- und
Parteigeschichte viel tiefer geht. Anders
als bei den grünen führt die sache hier eben nicht
auf das in den sechziger- und siebzigerjahren
übliche Nachspielen der großen Dramen aus der
ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Anarchismus,
Kommunismus) zurück, sondern auf das Original.
Die für die deutsche so zial demo kra tie prägende
generation war und ist die von Helmut schmidt
(Jahrgang 1918), Herbert Wehner (1906) und
Willy Brandt (1913). schmidt und Wehner waren
in ihren jungen Jahren beide gewissermaßen zu
weit nach Osten geraten, in die Abgründe des Jahr-
hunderts, an Orte, wo man nicht unschuldig blei-
ben konnte. schmidt war 1941/42 als soldat in
einem verbrecherischen Krieg an der Ostfront,
Herbert Wehner geriet als exilierter Kommunist

von 1937 bis 1941 in die stalinistische schlangen-
grube der sowjetischen Hauptstadt. Wie weit die
beiden persönlich schuldig geworden sind, sei
dahingestellt, entscheidend ist hier nur, welche
Konsequenzen sie aus ihren eigenen Verstrickun-
gen und Verirrungen später zogen: Wehner und
schmidt wurden nicht bloß Feinde jedweder Ideo-
logie, die wieder in die Abgründe von Nationalso-
zialismus und Bolschewismus hätte führen können,
ihr trauma war so stark, dass sie bereits jedweden
Anflug von idealistischer oder visionärer Politik
massiv bekämpften und verächtlich machten.
Aus dieser Quelle speiste sich auch ihre Aver-
sion gegen Willy Brandt, der als Emigrant keine
vergleichbare schuldgeschichte zu tragen hatte
und viel freier war in seinem politischen Denken.
Wehner hätte wohl gesagt: liederlicher. seine
urteile über Brandt zielten genau darauf: »Der
Herr badet gerne lau«, sagte der Herr, der am liebs-
ten in stahl badete oder zumindest so tat.
Mit ihrem starken »Nie wieder«-Willen, mit ihrer
Abkehr von allem, was mehr als nur pragmatisch war,
mit ihren strafängsten (»sie werden mir die Haut
vom Leibe abziehen«, Wehner) gelang es schmidt
und Wehner, die sPD von allen sozialistischen und
allen sonstigen »Flausen« zumindest so weit abzubrin-
gen, dass die Partei Mitte der siebziger dauerhaft
regierungsfähig wurde. Die fast vollständige Anpas-
sung an die von den Alliierten und der union
geschaffenen gegebenheiten war der Preis dafür. und
auch hier gilt – wie bei den grünen – die Formel:
Erfolg durch Anpassung. und ebenfalls: Die sPD hat
damit über einen langen Zeitraum sich selbst und das
Land besser gemacht, denn natürlich brauchte das
CDu-Land Bundesrepublik dringend die sozial-
demokratische Ergänzung.
Dass eine Partei, die so stark von Ängsten und
von Anpassung geprägt war, für eine Mehrheit wähl-
bar war, verwundert zunächst, denn sonderlich at-
traktiv mutet politischer Puritanismus à la schmidt
und Wehner auf den ersten Blick ja kaum an. Doch
wirkte die sPD seinerzeit ganz anders, als sie war,
dies aus drei gründen: Zum einen konnte in Zeiten
des Kalten Krieges jederzeit genügend Distanz zum
politischen gegner hergestellt werden – zumindest
verbal. schmidt und Wehner waren absolute Meis-
ter in dieser Disziplin. Zum Zweiten entstand per-
manent eine Reibung zur eigenen Partei, weswegen
die Anführer der Anpassung wie Rebellen wider den
eigenen Laden wirkten. Nicht zuletzt waren schmidt
und Wehner aus sich heraus tiefe, starke, verletzte
und verletzende Persönlichkeiten, sie waren sozusa-
gen Charismatiker, die eine anticharismatische
Politik betrieben. Zu ihrer Zeit konnten sich Mil-
lionen Menschen mit ihrem öffentlichen Wirken,
mit ihrem Ringen und ihrem Rigorismus, mit dem

Ausgesprochenen und unausgesprochenen zu deut-
schen schuldfragen identifizieren. In den Wieder-
holungsschleifen dann jedoch immer weniger.

A


npassung im gewande der Rebellion,
Charisma im Einsatz für eine anticha-
rismatische Politik, Ängstlichkeit in
gestalt der Kodderschnauze – dies
blieb gleichwohl der sozialdemokrati-
sche Dreiklang auch in der Zeit nach schmidt und
Wehner. tatsächlich kehrte die Figur des Zucht-
meisters (Wehner) ebenso immer wieder (Hans-
Jochen Vogel, Franz Müntefering) wie auch die von
Helmut schmidt (gerhard schröder, sigmar
gabriel) – allerdings in von Jahrzehnt zu Jahrzehnt
abgeschwächter und entkräfteter Form. Nur die
Rolle von Willy Brandt blieb nach dessen Rücktritt
als Parteivorsitzender verwaist, allenfalls in Oskar
La fon taine flammte das numinose Mehr, diese
visionäre Furchtlosigkeit noch mal auf, um dann
endgültig zu verschwinden. Willy Brandt, der ist
nun ein übergroßes Denkmal in der Parteizentrale,
oder eigentlich ein Mahnmal, das sagt: Nach ihm
darfst du dich sehnen, genosse, aber niemals seine
Politik zu betreiben versuchen.
seit etwa zwei Jahrzehnten verwandelt sich nun
das alte sozialdemokratische Erfolgsmodell in ein
Misserfolgsmodell. Ähnlich wie bei den grünen und
der Ökologie verschärften sich für die sPD durch die
globalisierung und den siegeszug des Neoliberalis-
mus die sozialen Widersprüche. seit Beginn der
2000er-Jahre war es mit einer sanften Ergänzung des
herrschenden wirtschaftlichen Modells nicht mehr
getan, worauf die schröder-sPD selbstverständlich
nicht mit einer Verschärfung ihrer sozialen Forderun-
gen reagierte, sondern mit verschärfter Anpassung an
ebendiese Verhältnisse. Das ist ein typischer Reflex
der sPD, der sich bis heute hält: Wenn Anpassung
nicht mit Erfolg gekrönt wird, muss die Anpassungs-
leistung eben gesteigert werden. Die Partei der Angst
gebiert immer wieder eine Politik der Bravheit. Inso-
fern ist die Kandidatur von Olaf scholz konsequent
und erfreulich, weil nun diese Art von Politik in
Reinform zur Abstimmung steht.
Erschwerend kommt hinzu, dass die sozial-
demokratische Politik der Anpassung nicht mehr
durch ihre charismatisch-rebellische Inszenie-
rung überdeckt werden kann. sigmar gabriel,
dem letzten legitimen Erben dieser traditionsli-
nie, fehlte dazu die skrupellosigkeit eines ger-
hard schröder, vor allem aber war er zu lange in
einer großen Koa li tion eingesperrt, weswegen
sich sein Rebellentum auf Dauer nur mehr gegen
die eigene Partei (und gegen sich selbst) richten
konnte und nicht gegen den politischen gegner,
der gemeinerweise auch noch von einer Angela

Merkel verkörpert wurde, einer schlichtweg
unanbellbaren Person.
seit gabriels sturz widerfährt der sPD etwas noch
Furchtbareres als dessen leerlaufendes Charisma: Nun
sind und wirken die führenden genossen exakt so
ängstlich und angepasst, wie es die Politik der sPD
seit der Wende von Bad godesberg fast immer war.
Personal und Politik passen fatalerweise perfekt
zusammen: ostentativ uncharismatische Charaktere,
die eine bewusst anticharismatische Politik betreiben.
Olaf scholz, Hubertus Heil, Heiko Maas oder Ma-
nuela schwesig sind erkennbar darum bemüht, nichts
Falsches zu sagen, sie sind durchdrungen von der
Furcht vor dem politischen »gegner« und der Öffent-
lichkeit und beseelt von der Idee, dass Vernünftigkeit
und Regierungsfleiß doch noch irgendwann belohnt
werden. Der Preis für dieses Bemühen ist indes recht
hoch: Egal, was die vier (und die meisten anderen
sozialdemokraten) sagen, es gelingt ihnen kaum
noch, zu den Leuten durchzudringen, es fehlt einfach
die politische Mindestreibung, es mangelt an sprach-
Mut. Wer nicht wagt, gewinnt nicht nur nicht, er
wird irgendwann schlicht nicht mehr wirklich gehört.
Der Einzige, der aus diesem schema ausbricht, ist
Kevin Kühnert, weswegen gegen ihn auch sofort das
ganze ideologiekritische Arsenal des vergangenen
Jahrhunderts aufgefahren wird; allen Ernstes wirft
man diesem jungen Mann vor, zum totalitarismus
zurückzuwollen, also gewissermaßen zum jungen
Wehner, nur weil er mal »sozialismus« gesagt hat. Das
Problem an Kühnert ist jedoch nicht, dass er solche
Worte sagt, sondern dass er zu jung und innerhalb
der Partei zu einsam ist, um jetzt die sPD zu führen.
Eine de facto sprachelose Führung, die Kandidatur
von Olaf scholz und ein zu junger Mann – so also
sieht eine vergehende Volkspartei aus.
Oft wird gesagt, die sPD könne in dieser Lage
nicht einfach nach links schwenken. Mag sein. Aber
geht es darum? Der Vorwurf der Linksabweichung
(oder des Paktierens mit den sED-Nachfolgern oder
des Nicht-mit-geld-umgehen-Könnens), der mecha-
nisch von innen und außen gegen die Partei vorge-
bracht wird, hat schließlich dazu geführt, dass jedwe-
de Abweichung vom Main stream und vom Vorgege-
benen als brandgefährliches unterfangen erscheint.
Nur, wenn die Probleme der Republik oft nicht mehr
mit den gängigen Mitteln und Denkmustern gelöst
werden können, wenn die Partei und das system, an
die man sich so erfolgreich angepasst hatte, selber ins
Wanken geraten, dann braucht die sPD vor allem die
innere Freiheit, neu zu denken, sie muss ihre Angst
und die Verwechslung der Lebensgeschichte einer
generation mit Parteigeschichte überwinden.
Der sPD wird, wenn sie sich von ihren Ketten
löst, eben nicht die Haut vom Leib gezogen, ihr
können vielmehr neue Kräfte zuwachsen.

Helmut Schmidt, Willy Brandt und Herbert Wehner im Jahr 1975

QUAL UND WAHL


Foto: J.H. Darchinger
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