Die Zeit - 22.08.2019

(Nora) #1

ENTDECKEN


A


m Anfang des Tages setzen wir uns in
den Seminarraum, trinken Kaffee, und
die Teilnehmer sagen mir, warum sie
mitmachen. Oft wollen sie wissen: Bin
ich noch fit genug für den Straßenverkehr? Bin
ich noch keine Gefahr für mich oder andere? Das
Wort »noch« fällt bei Senioren oft. Der älteste
Teilnehmer beim letzten Training war 90, er hat
seit 72 Jahren seinen Führerschein. Einige ma­
chen das Training auch, um den Kindern zu be­
weisen, dass sie noch fahren können.
Dann geht es raus auf den Platz. Bevor die
Übungen beginnen, korrigiere ich die Sitzposition,
da haben sich viele Marotten eingeschlichen. Fast
alle sitzen zu weit von den Pedalen weg, die Lehne
ist zu flach eingestellt, die Kopfstütze zu niedrig.
Ganz unkonventionell wird es bei der Lenkrad­
haltung: Da ist alles dabei vom Tellerwäscher
(kreisende Abwaschbewegungen) bis zum soge­
nannten Melker (Hände auf fünf vor halb und fünf
nach halb, wie an einem Euter). Sehr oft haben die
Teilnehmer auch eine Hand am Schaltknüppel,
obwohl sie seit zehn Jahren Automatik fahren. Ab
einem gewissen Alter ist es sehr schwer, sich noch
mal umzugewöhnen.
Auf dem Platz gibt es zwei typische Fahrübun­
gen: die Vollbremsung und einen Slalomparcours.
Ich bin mit den Senioren die ganze Zeit über Funk
verbunden und gebe ihnen Anweisungen. Wenn
Übungen nicht gut laufen, gibt es sofort Feedback
unter vier Augen: Fällt dir auf, dass du andauernd
Hütchen umfährst? Dass du im Parcours bei zehn
Versuchen fünfmal falsch gefahren bist? Die Re­
aktionen bewegen sich zwischen Einsicht und Ver­
leugnung. Einsicht überwiegt aber.
Ich mache die Sicherheitsfahrtrainings für Se­
nioren seit mehr als 25 Jahren, dreimal im Jahr. Aus
all der Zeit kann ich mich nur an zwei Fälle er­
innern, in denen ich sagen musste: Tut mir leid, es
wäre das Beste, wenn du nicht mehr fährst. Ein
Herr hat es nach einem Schlaganfall noch mal ver­
sucht. Seine Enkelin hat ihn begleitet, wohl mehr
aus Wohlwollen denn aus Hoffnung. Es ging nicht
mehr. Und ein anderer Herr, der alleine zum Trai­
ning kam, konnte kaum noch seinen Namen auf
den Anmeldezettel schreiben und hatte Anweisun­
gen nach fünf Minuten vergessen – Anzeichen einer
beginnenden Demenz. Nach dem Training kam
seine Tochter, er sollte sie zum Flughafen fahren.
Als ich ihr sagte, sie solle lieber selbst fahren, war
sie total bestürzt. Die Defizite ihres Vaters waren
ihr bis dahin im Alltag nicht aufgefallen.
Aber das sind Extremfälle. Auch beim letzten
Kurs haben am Ende elf Teilnehmer sofort be­
standen, sogar der 90­Jährige – mit all der Erfah­
rung aus 72 Jahren Autofahren.

... mit Senioren


Autofahren zu üben


WIE ES WIRKLICH IST
Morgens auf dem Weg zur Arbeit – das Kind
noch schnell in der Kita vorbeigebracht –, jetzt
stehe ich in der Stadt an der roten Ampel.
Plötzlich klopft es an mein Wagenfenster. Es ist
die Fahrerin des Autos hinter mir. Sie reicht
mir meinen Kaffeebecher, den ich in der Hek­
tik offenbar auf dem Autodach stehen gelassen
habe. Er war nicht heruntergefallen!
Katharina Hirsch, Landau in der Pfalz

Schnellbahn verpasst – doch wie wunderbar,
nun am Bahnhof Hernals für zehn Minuten
Otto Wagners denkmalgeschützte Jugendstil­
architektur betrachten zu können!
Lisa Reck Burneo, Wien

Das Ehepaar von gegenüber, das jeden Morgen
Händchen haltend vor der Haustür steht, bis
der Ehemann vom Pflegedienst abgeholt wird.
Saskia Grabinat, Darmstadt

Im Erfurter Zoo sind Löwen geboren worden.
Im Löwenhaus läuft ein Video von der (ziem­
lich blutigen) Geburt. Beim Anschauen fragt
mich meine fünfjährige Tochter, ob das denn
wehtue, winkt aber, noch bevor ich antworten
kann, ab: »Ach, das weißt du ja nicht, du bist ja
ein Mann!«
René Lindenberg, Erfurt

Drei Jahre warteten wir darauf, dass der von uns
mit Limonenseitlings­Mycel geimpfte Eichen­
stamm Pilze liefert, dann gaben wir auf und ver­
sahen ihn von oben bis unten mit Bohrungen,
um ein Hotel für Wildbienen draus zu ma­
chen ... Zwei Wochen später plötzlich die erste
Ernte: ein Kilo wunderschöner Pilze!
Heidi Wallner, Haar, Bayern

Elternbesuch. Und plötzlich hängt der Hand­
feger, der bisher irgendwo im Schrank lag, an
einem eigens montierten Haken. Auch die
Küchenkräuter sind gestutzt – damit sie besser
gedeihen. Und ich dachte, mit 33 Jahren hätte
ich mein Leben im Griff ...
Simon Wallerius, München

Hummeln, die in den Blütenkörben unserer
Sonnenblumen übernachten.
Tanja Volkenborn-Brink, Ennepetal

Das Synchronfliegen der Stare, die – wie auf
ein geheimes Kommando – plötzlich alle zeit­
gleich die Richtung wechseln und dabei er­
staunliche Formationen entstehen lassen. Jedes
Mal, wenn ich ihnen zuschaue, frage ich mich,
wer ihnen dieses Kommando gibt.
Vera Brisch, Roßdorf, Hessen

Als Psychoonkologin unterstütze ich Krebspa­
tientinnen. Um diese Arbeit werde ich nicht
unbedingt beneidet, manchmal ist es sogar so,
dass sich meine Patienten Sorgen um mich (!)
machen. Nicht so die ältere Dame, an deren
Krankenbett ich jetzt sitze. »Sie haben einen
wunderbaren Job«, sagt sie. »Sie bringen Freude
und Hoffnung in jedes Zimmer.« Danke für
diese wunderschöne Stellenbeschreibung (auch
wenn sie leider nicht immer zutrifft)!
Kerstin Hermelink, München

Leben


Wa s mein


reicher macht


Lilo ist ein Alpaka, lebt in Maysville, Missouri, und liebt Küsse. Eigentlich hat sie auch Ohren. Beim Anblick der Kamera hat sie sie aber zurückgelegt. Fotografiert von Juj Winn

(Folge 167)


Du siehst


aus, wie ich


mich fühle


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Redaktion DIE ZEIT, »Z­Leserseite«, 20079 Hamburg

Aufgezeichnet von Bernhard Heckler

Vorher/Nachher: Catnap


Nachdem unser Kätzchen uns ab fünf Uhr auf Trab gehalten hat, legt es sich
schlafen, als wir gerade beginnen, unserem Tagwerk nachzugehen.
Einzige Regung: Um 8.03 Uhr schläft es sich noch besser nach links, um 8.54 Uhr
dann besser nach rechts ... Anke Gresbrand, Hennef

ZEITSPRUNG

»Zähren«


Beim Scrabbeln musste ich


die Buchstaben Z und Ä


unterbringen und kam auf


das Wort Zähren.


Protest auf der gegnerischen


Seite. Mein Hinweis auf die


Redewendung »bittere Zähren


vergießen«, also bitterlich


weinen, wurde nicht akzeptiert.


Zähren ist offenbar kein


Alltagswort mehr für Tränen –


aber mir gefällt dieser


altertümliche Ausdruck!


Katrin Theens,

Wattenbek, Schleswig­Holstein

MEIN WORTSCHATZ

Maria Brendel-Sperling, 48, ist Fahr sicherheits­
trainerin bei der Verkehrswacht Essen.

Illustration: Eva Revolver für DIE ZEIT


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