Die Zeit - 22.08.2019

(Nora) #1

8 POLITIK 22. August 2019 DIE ZEIT No 35


A


lex Weicht kann sich noch gut
erinnern, wie das war, damals,
vor bald drei Jahren, als er sich
in Pennsylvania in sein Auto
setzte und in das Örtchen
Bushkill fuhr, um im Feuer-
wehrhaus, wo das Wahllokal
untergebracht war, für Donald trump zu stimmen.
gerade hatte er seiner Mutter eine Pumpgun ge-
kauft. Das Laden der halb automatischen Waffe
mache ein so lautes, unverkennbares geräusch,
hatte er sich überlegt, dass sie damit jeden Einbre-
cher im waldigen Pennsylvania abschrecken könne.
Alex Weicht ist 53 Jahre alt und unverheiratet.
Auf den ersten Blick scheint es nicht überraschend,
dass er für trump gestimmt hat. Weicht mag Waf-
fen, er besitzt so einige, auch ein paar alte aus dem
Zweiten Weltkrieg. Die Highschool hat er nie be-
endet, und auch gelächelt hatte er damals im Feu-
erwehrhaus schon lange nicht mehr. Die Drogen
haben ihm als teenager die Zähne zerstört, dann
ist ihm beim Eishockeyspielen ein Puck ins gesicht
geflogen und hat den Rest erledigt.
Doch Weicht ist Demokrat, und das seit 30
Jahren, seit er in die gewerkschaft eingetreten ist.
Bis zu einem Arbeitsunfall hat er als Metallarbeiter
in New York sein geld verdient. Zweimal hat er
für Barack Obama gestimmt. Jetzt sitzt Weicht mit
einem brandneuen satz Zähnen im Mund auf der
Veranda seines Bungalows in Pennsylvania und
schüttelt den Kopf: »Dass trump so ein Arschloch
sein würde, habe ich nicht gedacht.«
Dieser satz allein ist noch keine Überraschung,
denn glaubt man den vielen Berichten aus dem
Weißen Haus, denkt mindestens die Hälfte von
trumps Mitarbeitern ähnlich über den Präsidenten.
Dass aber Alex Weicht so denkt, hat gewicht. Denn
trump ist auf Wähler wie Weicht angewiesen, will
er im nächsten Jahr wieder gewinnen.
Es waren Leute wie Alex Weicht, weiße Demo-
kraten aus der Arbeiter- und Mittelschicht, die
trump zum Präsidenten gemacht haben. sie
konnten die Demokratin Hillary Clinton einfach
nicht leiden. Clinton schien auf Leute herabzu-
schauen, die nicht in einem start-up arbeiteten
oder in keiner Bürgerrechtsinitiative engagiert wa-
ren. und so haben abtrünnige Demokraten wie
Weicht dem Republikaner trump zur Mehrheit in
Pennsylvania und drei weiteren wichtigen swing-
states verholfen, die mal für die Republikaner, mal
für die Demokraten stimmen und so über den
Ausgang der us-Wahl entscheiden.
Nun müsste man annehmen, dass die Demokra-
ten bei der nächsten Wahl alles daransetzen werden,
um die stimme von Alex Weicht zurückzugewinnen.
Doch sie sind unentschlossen. Denn die Demokra-
tische Partei befindet sich in einem Richtungsstreit,
der sie immer weiter nach links zieht.
um diesen streit und seine tragweite zu ver-
stehen, muss man ein wenig ausholen. schaut man
sich das Amerika der letzten 100 Jahre an, kann
man zwei große politische Epochen ausmachen.
Die erste begann 1932 mit Franklin D. Roosevelt
und der sogenannten New-Deal-Koalition. sie
brachte die Demokraten für lange Zeit an die
Macht; ihre liberalen Werte und ein ausgebauter
sozialstaat prägten Amerika. Die zweite Epoche
begann 1980 mit der Wahl von Ronald Reagan, sie
bescherte den Republikanern eine lang anhaltende
Dominanz. Ihre konservativen Werte und eine de-
regulierte Wirtschaft definieren die usA bis heute.
Weder Bill Clinton noch Barack Obama haben das
geändert. Clinton zog die Demokraten nach
rechts; Obama regierte als technokrat nahe der
Mitte. sie haben das Haus, das Reagan errichtet
hat, umgebaut, aber nicht eingerissen. Nun gibt es
Anzeichen dafür, dass möglicherweise gerade eine
dritte Epoche anbricht. Jedenfalls sind ähnliche
Entwicklungen zu beobachten wie am Ende der
New-Deal-Epoche Ende der siebzigerjahre.
Damals herrschte Angst vor studentenunruhen,
vor Attentaten von Linksextremisten und der Mili-
tanz der Black Panther. Heute fürchtet man den
rechten terror im Land. Allein im letzten Monat
wurden 22 Menschen in El Paso ermordet, drei bei
einem Volksfest in Kalifornien, ein weiteres Opfer
starb bei einem Anschlag auf eine synagoge. In allen
drei Fällen waren die täter durch eine rassistische und
antisemitische Weltsicht motiviert.
Eine ganze Idee des Regierens hatte sich am Ende
der letzten Epoche der Vorherrschaft der Demokraten
totgelaufen. Besonders gut konnte man das in den
1970er-Jahren in New York beobachten. Die stadt
besaß zwar einen gigantischen Verwaltungsapparat,
aber der Müll stapelte sich in den straßen. Die Par-
teibosse hatten sich und ihren Freunden die staatli-
chen gelder zugeschoben, die Hilfe kam nicht mehr
im Volk an. Heute hat sich der Lobbyismus großer
teile der Politik bemächtigt, das Vertrauen in die
demokratischen Institutionen schwindet, und die


Deregulierung hat eine historisch beispiellose un-
gleichheit zwischen Arm und Reich erzeugt.
Das dritte Merkmal, das an die letzte Epochen-
wende erinnert, sind politisch-demografische um-
brüche. In den 1960er-Jahren hatten die Demokraten
viele stimmen im weißen süden durch die Einfüh-
rung des Civil Rights Act verloren, der schwarzen
Amerikanern mehr Rechte zugestand. Heute wachsen
die Bevölkerungsgruppen, die die Wähler der Demo-
kraten ausmachen – Minderheiten und gut ausgebil-
dete städter –, schneller als jede andere gruppe.
Einige Demokraten glauben daher, dass mit
trump das Ende der konservativen Reagan-Epoche
gekommen ist und die Zeit reif sei für eine kompro-
misslose, radikal linke Politik: für eine umfassende
staatliche Krankenversicherung, eine Reichensteuer
und eine weitreichende ökologische Wende. Eine

Politik, die aber auch bedeutet, den Bedürfnissen
von Minderheiten und Migranten mehr Aufmerk-
samkeit zu schenken als den Interessen der weißen
Arbeiter. In dieser Partei spielt Alex Weicht eine
immer geringere Rolle. treibende Kraft dieses Lagers
sind die vor allem bei jungen Wählern enorm belieb-
ten Abgeordneten um Alexandria Ocasio-Cortez.
Alle progressiven Kandidaten, sogar diejenigen wie
Bernie sanders und Elisabeth Warren, die im Wahl-
kampf bewusst auf ökonomische Fragen setzen
wollen, nicht auf Identitätspolitik, haben sich dieser
Position angenähert.
Andere Demokraten sind vorsichtiger. sie hal-
ten es für möglich, dass trumps Präsidentschaft
eine ganz andere Zäsur markiert. schon in den
Obama-Jahren hatten sich die Republikaner, um
ihre Macht über den Kongress und eine wachsen-

de Zahl von Wahlbezirken zu halten, immer rück-
sichtsloser gegenüber den demokratischen Institu-
tionen gezeigt. Wahlkreise wurden zu ihrem Vor-
teil neu zugeschnitten, das Wählen für Minderhei-
ten erschwert; die Republikaner verhinderten,
dass Obama einen neuen Richter für das oberste
gericht berufen konnte. Nun hat trump den su-
preme Court sowie das Justizministerium mit Ju-
risten besetzt, die überzeugt sind, dass nur ein Prä-
sident mit nahezu absoluter Macht eine effiziente
Regierung garantieren kann.
Diese vorsichtigeren Demokraten fragen sich
nicht, ob trump am Ende einer konservativen Epo-
che steht. sie fürchten, dass er das Ende der Demo-
kratie ist. um das zu verhindern, glauben sie, müsse
ihre Partei einen weniger »linken«, weniger radikalen
Weg einschlagen. Einen, über den auch Alex Weicht

gehen könnte. Joe Biden, Kandidat im Vorwahl-
kampf der Demokraten und Ex-Vizepräsident von
Barack Obama, versucht das.
Weicht ist kein sonderlich politischer Mensch.
Er denkt nicht in Epochen. Aber er spürt, wenn
etwas nicht mehr rundläuft, und dann neigt er zu
drastischen Reaktionen. Als die Drogen ihm das
gebiss aufgeweicht hatten, ließ er sich alle Zähne
ziehen. Als er die Ordnung der Dinge und die
sprache seiner eigenen Partei nicht mehr verstand,
wählte er trump. Clinton sprach zu Akademikern;
trump sprach zu ihm.
Weicht geht es nicht schlecht. Er hat früher 90
Dollar die stunde verdient, er besitzt ein Haus, ein
Auto, ein kleines Motorboot. seit er 2005 bei der
Renovierung einer Bücherei in New York von einer
Leiter fiel, bezieht er eine gute Rente. Er würde
sich allerdings wünschen, dass seine staatliche
Krankenversicherung nicht nur einen teil seiner
Behandlungskosten trägt. Drogen und Alkohol
hat Weicht schon lange nicht mehr angefasst. Er
glaubt an den Klimawandel und sagt, er hätte kei-
ne Probleme damit, wenn er auf seine nächste
Waffe 30 tage warten müsste, weil der staat erst
eine umfassende Prüfung durchführt. Das Recht,
Waffen zu besitzen, will er aber geschützt sehen.
steuern und sozialhilfe hält Weicht für eine gute
sache. seine schwester habe nach einer ungeplan-
ten schwangerschaft einmal zehn Monate sozial-
hilfe bezogen, das habe ihr sehr geholfen, um wie-
der auf die Füße zu kommen. Die linke Idee von
Reparationszahlungen an schwarze für das un-
recht, das ihren Vorfahren während der sklaverei
angetan wurde, findet er allerdings absurd. Das
ganze, sagt er, sei doch schon ziemlich lange her.
Er wünscht sich, dass Einwanderung wieder kon-
trollierter und geregelter abläuft, aber die Brutali-
tät, mit der trump vorgeht, gefällt ihm nicht. Er
wünscht sich einen Präsidenten, den er versteht,
aber er möchte sich auch nicht für ihn schämen
müssen. Die sache mit den Frauen, die vielen
tweets – trump ist Weicht vor allem peinlich. Es
gäbe also einige Anknüpfungspunkte für die De-
mokraten, um Weicht zurückzugewinnen. Aber
auch trump hat den Kampf um seine stimme
längst aufgenommen.
15 Millionen Dollar hat trump bereits in Online-
Werbung investiert. Ziel ist es, wie schon 2016, bei
potenziellen Wählern stimmung gegen die Demo-
kraten zu machen. 2016 hatte die Firma, die für
trumps Kampagne zuständig war, den Begriff
»crooked Hillary« erfunden, »verlogene Hillary«.
Dieses Jahr lässt trump Begriffe wie »sleepy Joe«, »ver-
pennter Joe«, für Biden testen. Außerdem behauptet
trump, dass Elizabeth Warren, eine andere demokra-
tische Kandidatin, den Amerikanern die Waffen weg-
nehmen wolle und die Demokraten sich nicht um
die sicherheit an der grenze kümmerten. Während
die Demokraten noch streiten, lässt trump schon
jetzt keinen Zweifel daran, dass er um Wähler wie
Alex Weicht kämpfen wird. Er braucht seine stimme.
2016 hat er nur mit hauchdünnem Vorsprung in
Pennsylvania gewonnen.
Die erste Fernsehdebatte der demokratischen Prä-
sidentschaftskandidaten im Juni hat Weicht verpasst.
20 Bewerber traten da auf, die wenigsten davon kennt
er. Bei der zweiten Debatte im Juli fiel bei ihm am
ersten tag der strom für eine stunde aus; am zweiten
tag – weil es so viele Kandidaten sind, müssen die
Debatten auf zwei tage aufgeteilt werden – verpasste
Weicht den Anfang. Er war noch angeln.
Welche der demokratischen Bewerber mag er
nun und welche nicht? Über den demokratischen
sozialisten Bernie sanders, einen der linken Kan-
didaten im Feld, spricht Weicht mit sympathie:
»Er ist schlau.« Aber er mag auch den ruhigen,
moderaten Joe Biden. Dieser gebe ihm das ge-
fühl, dass die Begriffe Amerika und Würde wieder
zusammenfänden. Andererseits findet Weicht
auch Elizabeth Warren, die linke senatorin aus
Massachusetts gut, weil sie so klar spreche. Be-
sonders überzeugt hat ihn der junge, schwule Ex-
soldat Pete Buttigieg: »Der ist einfach ein Demo-
krat, nicht links oder rechts.« Die ehemalige
staatsanwältin Kamala Harris aus Kalifornien hin-
gegen mag er nicht: »sie spricht irgendwie von
oben herab.« Auch der ehemalige Abgeordnete aus
texas, Beto O’Rourke, fällt bei Weicht durch:
»Den verstehe ich einfach nicht.«
Während sich die Demokraten also darüber
zerfleischen, ob sie eher mit radikalen oder mit
versöhnenden themen gewinnen können, sucht
Weicht einen Kandidaten oder eine Kandidatin,
die ihm sympathisch sind und deren sprache er
versteht. Die ihn als Amerikaner ansprechen und
nicht nur als Vertreter einer von vielen Identitäten.
Die ihm eine geschichte von Amerika erzählen, in
der er vorkommt.

http://www.zeit.de/audio

Alex Weicht in
einem Diner in
seinem Heimatstaat
Pennsylvania

Sein Irrweg zurück


Der Metallarbeiter Alex Weicht hat 2016 Donald trump gewählt. Jetzt ist er bitter enttäuscht.


Aber können die Demokraten Männer wie ihn noch zurückgewinnen? VON KERSTIN KOHLENBERG


Das Handwerk des Protests


Hinter den ganzseitigen Anzeigen für die Hongkonger Bewegung steckt ein Netzwerk von unterstützern VON XIFAN YANG


G


eschäftsleute, Beamte, Bürger, die sich
nicht trauen, sich offen auf den De-
monstrationen zu zeigen – Zehntau-
sende Hongkonger spenden für den
Kampf um Autonomie: Bereits im Juni sammelte
die Protestbewegung online binnen neun stunden
knapp eine Million Euro ein. Mit dem geld schal-
teten Aktivisten vor dem g20-gipfel in Osaka
großflächige Anzeigen in 20 internationalen Zei-


tungen, darunter in der Financial Times, dem
Guardian und der Süddeutschen Zeitung. Darin
forderten sie die Regierungschefs der größten
Volkswirtschaften dazu auf, Druck auf Peking aus-
zuüben, um Hongkongs sonderrechte zu wahren.
Anfang dieser Woche legten die Aktivisten
nach: Am Montag schalteten sie Appelle in elf in-
ternationalen Medien, auch in der Frankfurter All-
gemeinen Zeitung. Hongkong fällt ist der ganzseitige

Beitrag betitelt, darunter fordern die Autoren:
»Wir brauchen Ihre Hilfe. Die uhr tickt.«
Hinter den Anzeigen steckt eine der vielen
Demonstrantengruppen ohne fixe strukturen,
die in diesen tagen Öffentlichkeitsarbeit betrei-
ben. In Windeseile entwerfen sie Motto-Bilder
fürs Internet, veröffentlichen Videos in den so-
zialen Medien und fertigen Protestposter an.
Pressesprecher vermitteln Interviews mit Aktivis-

ten an ausländische Journalisten. In den gruppen
engagieren sich professionelle Fotografen, Film-
schaffende, Übersetzer, Werbeleute und Pro-
grammierer. Auch viele andere Berufsgruppen
leisten unterstützung: Handwerker zeigen den
Protestierenden in Videoanleitungen, wie man
am schnellsten straßenblockaden und robuste
schutzschilde aus Pappkarton baut. Karatelehrer
trainieren Protestierende in selbstverteidigung.

sozialarbeiter und Psychologen sind zur stelle,
wenn Jungdemonstranten trost suchen.
Diesen Freitag ist die nächste Aktion geplant: Die
Demonstranten wollen zum 30. Jahrestag des »Bal-
tischen Wegs« eine 32 Kilometer lange Menschen-
kette durch die stadt bilden – 1989 schlossen sich
über eine Million Esten, Litauer und Letten auf 650
Kilometern zusammen, um für die unabhängigkeit
von der sowjetunion zu demonstrieren.

Anfang dieser Woche riefen Inserate auf Deutsch
zur Unterstützung der Demo-Aktivisten auf

Foto: Alex Trebus für DIE ZEIT; Abb. u.: Inserat (Quelle: FAZ)
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