Die Zeit - 22.08.2019

(Nora) #1
Genau dies bedauerten kurz vor dem Ende ihres langen
Lebens viele, beinahe alle Frauen: dass sie sich hatten
bremsen lassen. Wenn sie noch einmal von vorn anfangen
könnten, sagen sie, würden sie viel mehr Wert auf Schule,
Studium, Beruf legen. Die meisten Männer wiederum,
beinahe alle, bereuten, dass sie zu viel von ihrer Lebenszeit
mit Nebensächlichem, also dem Beruf, vergeudet und zu
wenig mit Wesentlichem, also der Familie und den Freun-
den, ausgefüllt hätten.
Ein Mann, den wir zunächst nur einmal befragten, dann
jedoch immer wieder, weil er schlau und lustig und neu,
nämlich stets anders als beim letzten Mal, über das Altern
denkt, redet und schreibt, lebt auf der Upper East Side
in New York City: Roger Angell, ein schmaler, gebeugter
Mann in einer Wohnung voller Bücher. Roger, inzwischen
98 Jahre alt, ist nun schon sehr lange alt; folglich ist es lange
her, dass er jung war. Das ist eine banale Erkenntnis, einer-
seits. Schockierend ist es aber dennoch. Wie schnell das alles
vergeht, wie schnell so vieles für alle Zeiten vorbei ist.
Roger erinnert sich ja noch exakt an das Kind, das er war, an
die Scheidung der Eltern auch; da war er acht Jahre alt, und

danach musste er bei seinem Vater bleiben, der Anwalt war
und keine Ahnung hatte, wie das eigentlich ging: Vater sein.
»Ewig her, so unendlich ewig und doch so nah«, sagt Roger
und berichtet von seinen elf Haustieren, von seiner Schwes-
ter Nancy, die längst tot ist, genau wie all die Haustiere und
leider auch all die anderen Menschen. Lang ist diese Liste
der Toten, und beinahe täglich verlängert sie sich.
Er schreibt Texte über das Altern, schreibt, wie er selbst
darüber staunt, dass wir unter dem Gewicht all der Abschie-
de nicht begraben werden. Unser Gehirn kann es schaffen,
den Schmerz über eigentlich nicht auszuhaltende Verluste
umzuwandeln in etwas Distanzierteres, etwas Leuchtendes.
Roger Angell stellt sich all seine Toten in einem großen
Kreis vor, Seite an Seite versammelt. Der Vater ist da, im
Smoking, eine Lucky Strike rauchend. Esther Mae aus der
vierten Klasse. Die wunderbare Cousine Jean und ihr spät
auftretender britischer Ehemann. Viele, viele Namen fallen
Roger ein. Die Tochter Callie ist wieder da, eilig am Tele-
fon, immer am Ende hebt sie die Stimme: »Da-ad?«
Er schreibt: Jeder, der über sechzig ist, kennt das; meine Liste
ist nur länger als ihre. Warum tun die Toten mir gut, warum
muntern sie mich auf, warum erinnern sie mich an das Leben?
Es gibt keinen Hundertjährigen, der das nicht kennen wür-
de: Verluste. Trauer. Es gehört, wenn man so alt wird, zum
Leben dazu, dass Geschwister, Freunde, oft sogar Kinder,
natürlich die Eltern, vorher sterben. Von Hundertjährigen
können wir lernen, wie das geht: trauern und weiterleben.
Roger sieht sich alte Fotos und Filme an. Die Schwester
Nancy ist wieder 17, raucht an Bord eines Schiffes eine
Zigarette mit lippenstiftrotem Filter. Die Mutter lacht und
duckt sich aus dem Bild, 35 Jahre alt ungefähr. Der kleine
Roger im Schneidersitz unter der Tischtennisplatte. Und
da ist Carol, die Frau seines Lebens.
Wie hält er diese Erinnerungen, diese Bilder aus? Wie
könnte er sie sich nicht ansehen?
Seit Carol tot ist, laden seine jüngeren Freunde Roger ins
Restaurant ein oder kochen für ihn. Einmal fand er, als er
nach Hause kam, ein frisch gegrilltes Hähnchen vor der
Tür und zwei Stunden später noch eines. Die Freunde
fahren ihn in die Oper, oder sie schauen zusammen die
Yankees. Einen Psychotherapeuten gibt es außerdem noch,
dem Roger neulich sagte: »Ich weiß nicht, wie ich das
durchstehen soll.« Die Verluste, den eigenen Verfall, das
Erblinden; wie soll ein Mann des Schreibens und Lesens
das durchstehen? »Weiß ich auch nicht«, sagte der Thera-
peut, »aber du wirst es durchstehen.«
Wie geht das nun aber: Wie wird man, trotz allem, so opti-
mistisch so alt? In seinen Texten denkt Angell darüber nach.
Da war mein wunderbarer Kollege Bob Bingham, der in
den späten Fünfzigern starb und von einem Freund vorher
gefragt wurde, was er anders machen würde, wenn er die
Chance bekäme. Bob dachte einen Augenblick lang nach
und sagte: »Mehr vögeln.«
Es ist ein heikles Thema, allemal wenn es von einem Witwer
wie Roger Angell vorgebracht wird. Carol und ich sahen kei-

Hilde Hefti, 98 Jahre alt, tanzt, von Mitternacht bis zwei
Uhr morgens, jede Nacht. Dass manche Leute
sie schräg finden, ist ihr egal. »Ich bin glücklich«, sagt sie

Foto


Mark Niedermann

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