Spektrum der Wissenschaft - 05.2019

(Sean Pound) #1

Die Evolution der menschlichen Moral


Tiere kooperieren häufig mit Artgenossen; Menschen ebenso, aber anders. Die menschliche
Form der Kooperation – Moral genannt – besteht aus zwei zusammenhängenden Aspekten: Ein
Individuum vermag einem anderen aus selbstlosen Motiven wie Mitgefühl, Sorge oder Wohlwol-
len zu helfen. Zusätzlich streben die Mitglieder einer Gruppe danach, dass alle profitieren, und
schaffen hierfür Normen für Fairness, Gleichberechtigung und Gerechtigkeit. Diese Fähigkeiten
entwickelten sich im Lauf etlicher hunderttausend Jahre, als Menschen zu-
nächst wegen schierer Überlebensnot begannen zusammenzuarbeiten. Die
kognitiven und sozialen Aspekte dieses Prozesses kann man mit dem
philosophischen Begriff der Intentionalität beschreiben. Er besagt,
wie Personen die Welt interpretieren und ihre Ziele verfolgen.


Individuelle Intentionalität


Charakteristisch für die individuelle Intentionalität ist die Fähig-
keit, das Verhalten flexibel zu ändern und so ein Ziel zu errei-
chen – meist in Konkurrenz zu anderen. Diese Perspektive des
Eigeninteresses ist die Haupttriebkraft von Schimpansen. Sie galt
auch für den gemeinsamen Vorfahren von Schimpanse und
Mensch und vermutlich für die ersten Homininen. Ein Beispiel sind
Schimpansen auf Futtersuche: Eine kleine Gruppe sucht ge-
meinsam; aber sobald die Tiere Früchte finden, sammelt jeder
für sich und frisst seinen Teil, ohne mit anderen Gruppenmitglie-
dern zu kooperieren. Ähnlich egozentrisch handeln die Affen bei
der Jagd.


Gemeinsame Intentionalität


Vor rund 400 0 00 Jahren erschloss sich Homo heidelbergensis
bessere Nahrungsquellen. Im Gegensatz zur Kleintierjagd erfor-
derte das Erlegen von Auerochsen und anderem Großwild ver-
stärkte Kooperation – eine gemeinsame Intentionalität, die sich
auf übereinstimmende Ziele konzentrierte. Diese Form der Team-
arbeit unterscheidet sich drastisch vom Durcheinander jagender
Schimpansen, bei denen das Prinzip »jeder für sich« herrscht. Die
steinzeitlichen Jäger und Sammler konnten nur dann überleben,
wenn ihre Praktiken der Nahrungssuche verpflichtend wurden
und nicht mehr eine Frage der Beliebigkeit waren. Als Jagdpart-
ner bevorzugte man Individuen, die unausgesprochen die
Notwendigkeit der Kooperation verstanden und die Beute nicht
rücksichtslos an sich rissen. Eine »zweitpersonale Moral«
entstand: Die Menschen begriffen, dass sie das Ich dem Wir
unterordnen mussten.


Kollektive Intentionalität


Vor rund 150 0 00 Jahren vergrößerten sich die Gruppen: Kleinere
Horden bildeten einen Stamm mit gemeinsamen Praktiken und
legten damit den Keim der menschlichen Kultur. Ein System aus
Normen, Konventionen und Institutionen wuchs heran und defi-
nierte sowohl die Gruppenziele als auch die Arbeitsteilung, die den
Mitgliedern ihre Rollen zuwies – diese kollektive Intentionalität zeich-
nete den jeweiligen Stamm aus. Jedes Mitglied verinnerlichte die Ziele
als »objektive Moral«, die festlegte, was richtig und was falsch ist.


»wir«
statt
»ich«

Moral
von richtig
und falsch

Eigen-
interesse

vor zirka sechs
Millionen Jahren

vor 400 000
Jahren

vor 100 000
Jahren

gemeinsame
Nahrungs-
suche

forcierte
kulturelle
Organisation

PORTIA SLOAN ROLLINGS / SCIENTIFIC AMERICAN SEPTEMBER 2018;

BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
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