Spektrum der Wissenschaft - 05.2019

(Sean Pound) #1

Spektrum der Wissenschaft 5.19 39


mer Werte rechtfertigen (etwa: »Ich konnte meinen Pflich-
ten nicht nachkommen, weil ich ein Kind retten musste«).
Auf diese Weise verinnerlichten die Menschen nicht nur
moralisches Handeln, sondern auch moralische Rechtferti-
gungen und schufen eine vernunftbasierte moralische
Identität.
In meinem Buch »Eine Naturgeschichte der menschli-
chen Moral« gehe ich von der Annahme aus, dass sich die
moralische Psyche des Menschen zum größten Teil evoluti-
onär durch natürliche Selektion erklären lässt. Der sprin-
gende Punkt: Die Selektion setzte dabei nicht an der physi-
schen, sondern an der sozialen Umwelt an. Während man-
che evolutionstheoretischen Ansätze sich auf das Prinzip
der Gegenseitigkeit und den eigenen Ruf in der Gemein-
schaft stützen, betone ich etwas anderes: Die Frühmen-
schen verstanden, dass sie durch moralische Normen
sowohl zum Richter als auch zum Gerichteten wurden. Für
jeden Einzelnen war es nicht wichtig, was »die« von mir
halten, sondern was »wir« einschließlich meiner selbst von
mir denken. Kernstück ist also eine psychologische Orien-
tierung nach dem Motto »Das Wir ist wichtiger als das Ich«.
Das verleiht moralischen Vorstellungen ihre außerordentli-
che Legitimität für die persönliche Entscheidungsfindung.
Für unsere heutige Welt ergibt sich eine besondere
Herausforderung aus der Erkenntnis, dass die Anpassungen
des Menschen an Kooperation und Moral vorwiegend auf
das Leben in kleinen oder innerlich homogenen kulturel-
len Gruppen abgestimmt waren – Fremde blieben außen

vor. Seit dem Aufkommen der Landwirtschaft vor etwa
10 0 00 Jahren bestehen menschliche Gesellschaften jedoch
aus Personen mit unterschiedlichem politischen, ethnischen
und religiösen Hintergrund.
Deshalb ist nicht mehr ganz so klar, wer zum »Wir«
gehört und wer nicht. Daraus erwächst ein Konfliktpoten-
zial mit zwischenmenschlichen Spannungen innerhalb einer
Gesellschaft als auch auf internationaler Ebene – Kriege
gelten als Musterbeispiel für Auseinandersetzungen zwi-
schen Eigen- und Fremdgruppe (siehe Teil 6 der Serie im
Juniheft). Aber wenn wir als Spezies den größten Heraus-
forderungen begegnen wollen, die alle Gesellschaften der
Erde gleichermaßen bedrohen, sollten wir bereit sein, die
ganze Menschheit zum »Wir« zu zählen. 

QUELLEN
Schmidt, M. F. H., Tomasello, M.: Young children enforce social
norms. Current Directions in Psychological Science 21, 2012
Stiner, M. C. et al.: Cooperative hunting and meat sharing
400–200 kya at Qesem Cave, Israel. PNAS 106, 2009
Tomasello, M.: Warum wir kooperieren. Suhrkamp 2010

LITERATURTIPP
Tomasello, M.: Eine Naturgeschichte der menschlichen Moral.
Suhrkamp, 2016
Michael Tomasello rekonstruiert die Entstehung des einzigartigen
menschlichen Sinns für Werte und Normen.

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