Spektrum der Wissenschaft - 05.2019

(Sean Pound) #1

In einer vierdimensionalen Probe sollte es den Wissen-
schaftlern zufolge nicht nur eine, sondern zwei quantisierte
Hall-Spannungen geben. Im gewöhnlichen Quanten-Hall-
Effekt erscheint diese Spannung senkrecht zur Bewegungs-
richtung der Elektronen und zum äußeren Magnetfeld. Im
vierdimensionalen Fall gibt es jedoch eine weitere Raum-
richtung, die senkrecht zu den übrigen steht. Entlang dieser,
das ergaben die Überlegungen der Physiker, würde unter
bestimmten Umständen eine zweite quantisierte Spannung
verlaufen.
Auf den ersten Blick erscheint der vierdimensionale
Quanten-Hall-Effekt wie eine mathematische Kuriosität
ohne wirkliche Relevanz. Allerdings hatte die Erkenntnis
weit reichende Folgen. Durch sie begannen Wissenschaft-
ler topologische Phänomene besser zu verstehen. Als 2007
die »topologischen Isolatoren« entdeckt wurden, begann
ein regelrechter Boom, der neun Jahre später mit der
Vergabe des Nobelpreises für Physik unter anderem an
David Thouless seinen vorläufigen Höhepunkt fand und bis
heute andauert.
Topologische Materialien sind ein junges Forschungs-
feld, das noch viele Geheimnisse birgt. Elektronen verhalten
sich in einigen dieser Festkörpern so seltsam, dass sie
keinen bisher bekannten Teilchen ähneln. In manchen
Systemen wirken die beweglichen Ladungen beispielswei-
se wie Bruchstücke eines Elektrons. Diese Zustände gelten
als Hoffnungsträger für eine neue Art von Quantencom-
puter, der stabiler sein könnte als die aktuellen Varianten.
Abgesehen von der rasanten Entwicklung im Bereich der
Festkörperphysik faszinierte der vierdimensionale Quanten-
Hall-Effekt weiterhin die Wissenschaftler. Sie fragten sich,
ob es wirklich zwei quantisierte Spannungen geben könnte.
Das wäre ein vollkommen neues topologisches Phänomen,


das noch niemand nachgewiesen hat. Wie sollte man auch
einen vierdimensionalen Effekt in einer dreidimensionalen
Welt untersuchen?
Tatsächlich ist es unserer Arbeitsgruppe an der Universi-
tät München zeitgleich mit einem Team um Mikael Rechts-
man von der Pennsylvania State University 2018 gelungen,
das vierdimensionale Phänomen im Labor zu studieren. In
Zusammenarbeit mit den theoretischen Physikern Hannah
Price und Oded Zilberberg haben meine Kollegen und ich mit
Hilfe von ultrakalten Atomen zwei quantisierte Hall-Ströme
gemessen, während sich Rechtsman und seine Gruppe auf
ein anderes charakteristisches Merkmal topologischer
Systeme konzentrierten: Sie wiesen mit Photonen nach, dass
die Oberfläche eines vierdimensionalen Quanten-Hall-Sys-
tems leitend ist, während sein Inneres isoliert (siehe »Herum-
hüpfende Photonen«, S. 60).
Die entscheidende Idee für unseren Versuch hatte Zilber-
berg zusammen mit zwei Kollegen im Jahr 2013. Dabei
griffen sie ein 30 Jahre altes Modell von David Thouless auf,
die »topologische Ladungspumpe«. Der britische Physiker
hatte damals gezeigt, dass die periodische Veränderung
eines Systems zu einem Teilchenfluss führen kann, der eng
mit dem Quanten-Hall-Effekt zusammenhängt. Im Prinzip
beschrieb er die quantenmechanische Version einer Archi-
medes-Pumpe, die über eine Schraube in einem Rohr Was-
ser transportiert (siehe Bild, S. 57). Dreht man die Schraube –
was einer periodischen Veränderung entspricht –, wird
Wasser aus einem tiefer liegenden Becken in ein höheres
gepumpt.
Das Besondere an dieser Pumpe ist, dass kein Potenzial-
unterschied durch eine elektrische Spannung oder die
Schwerkraft nötig ist, um die Teilchen oder das Wasser zu
bewegen. Stattdessen führt die zyklische Veränderung zu

Legt man eine Spannung an ein MOSFET in einem starken Magnet-
feld an (links), entsteht ein Hall-Strom, der wegen der Lorentzkraft
senkrecht zur Spannung (pink) und zum Magnetfeld (gelb) verläuft.
Tatsächlich entspricht das zweidimensionale Quantensystem einer
eindimensionalen topologischen Ladungspumpe (rechts). Das
optische Übergitter (schwarz), das sich aus der Überlagerung eines
kurzen (blau) und langen (grün) Gitters ergibt, wird zeitlich verändert,
wodurch Atome (rot) in benachbarte Senken tunneln können.

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / MANON BISCHOFF

2-D-Quanten-
Hall-Effekt

1-D-topologische-
Ladungspumpe

angelegte
Spannung

Verschieben des
langen Gitters

Magnetfeld Verhältnis von kurzer zu langer Gitterperiode

Hall-Strom gepumpte Atome

2D Quanten-Hall-Eekt 1D Ladungspumpe
2-D-Quanten-Hall-Effekt 1-D-topologische-Ladungspumpe

2D Quanten-Hall-Eekt 1D Ladungspumpe


Magnetfeld

angelegte
Spannung

Hall-Strom

MOSFET Bewegung des langen Gitters

Zeit
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