Spektrum der Wissenschaft - 05.2019

(Sean Pound) #1

eindimensionalen Fall, um die senkrecht zueinander stehen-
den Ladungspumpen zu realisieren. Anschließend ver-
kippten wir das lange Gitter in y-Richtung um einen kleinen
Winkel, so dass es unter einem anderen Winkel auf die
Atomwolke trifft als das kurze.
Dazu führten wir den betreffenden Laserstrahl durch
einen 25 Millimeter dicken Glasblock und fokussierten ihn
mit einer Linse auf die Atomwolke. Dreht man den Block
leicht, wird das Licht an beiden Grenzflächen gebrochen.
Dadurch tritt es etwas parallel versetzt aus dem Block aus
und trifft nicht mehr zentral auf die Linse. Die Photonen
durchqueren zwar nach wie vor die Atomwolke, allerdings
unter einem anderen Winkel als zuvor.
Als wir anschließend das lange Gitter in x-Richtung
verschoben, um den Pumpzyklus in Gang zu setzen, tunnel-
ten die Atome wie bei der eindimensionalen Ladungspum-
pe in benachbarte Senken in x-Richtung. Um den vierdi-
mensionalen Quanten-Hall-Effekt nachzuweisen, mussten
sich aber auch Teilchen in y-Richtung bewegen, was einem
zweiten quantisierten Hall-Strom gleichkäme. Zunächst
schien nichts zu passieren. Nach mehreren Pumpzyklen
konnten wir jedoch eine winzige Ablenkung der Atome
beobachten – der erste Hinweis auf die Existenz eines
vierdimensionalen Quanten-Hall-Effekts. Die Ablenkung
war allerdings so klein, dass wir sie nicht direkt quantifizie-
ren konnten. Wir mussten also einen anderen Weg finden,
um sie exakt zu messen. Deshalb bedienten wir uns eines
Tricks.


Vermessen eines kaum wahrnehmbaren
Teilchenstroms
Das optische Gitter besteht in beiden Richtungen aus ein-
dimensionalen Doppeltöpfen. Daher sind in der »Einheits-
zelle« (der Grundbaustein, aus dem sich das gesamte Gitter
zusammensetzt) vier quadratisch angeordnete Minima.
Wir haben unser Experiment so justiert, dass sich in jeder
Einheitszelle nur ein Atom befindet. Seine Wellenfunktion
bestimmt, mit welcher Wahrscheinlichkeit wir es bei einer
Messung in der jeweiligen Senke finden.
Durch die Ablenkung der Atome in y-Richtung ändert
sich die Wahrscheinlichkeitsverteilung. Doch auch dieser
Effekt ist so klein, dass wir ihn nicht direkt beobachten
konnten. Was tun Wissenschaftler, wenn die Größe, die sie
beobachten möchten, zu klein ist? Sie sammeln mehr
Daten, um eine bessere Statistik zu erhalten. Deshalb
bestimmten wir nicht die Änderung der Wellenfunktion
eines einzigen Atoms, sondern mittelten über alle Teilchen
und mehrere Versuche.
Dazu schalteten wir alle Laser in unserem Aufbau gezielt
aus, wodurch sich die Atome frei im Raum ausbreiteten.
Aus der speziellen Ausschaltprozedur konnten wir mittels
der Geschwindigkeit und Bewegungsrichtung der Teilchen
berechnen, in welcher Senke sie sich zuvor befanden. Und
tatsächlich konnten wir aus den Ergebnissen ablesen, dass
sich die ultrakalten Atome während der Pumpzyklen ent-
lang der y-Richtung verschoben hatten. Zudem ergaben
unsere Messungen, dass diese Bewegung quantisiert ist,
genau wie es für den vierdimensionalen Quanten-Hall-
Effekt vorhergesagt wurde.


Um auszuschließen, dass es sich dabei um eine zufällige
Beobachtung handelte, haben wir den Kippwinkel des
langen Gitters – also die Stärke des Magnetfelds in der
xw-Ebene – verändert. Theoretischen Berechnungen zufolge
ist der Teilchenfluss in y-Richtung proportional zum Kipp-
winkel. Und genau diesen linearen Zusammenhang sahen
wir in unseren Experimenten. Insbesondere bewegten sich
die Atome in umgekehrter Richtung, wenn wir das Vor-
zeichen des Winkels wechselten.
Damit haben wir den vierdimensionalen Quanten-Hall-
Effekt in einem dreidimensionalen Labor nachgewiesen.
Unsere Arbeit liefert zusammen mit den Ergebnissen von
Rechtsman und seinen Kollegen einen ersten Einblick in
die faszinierende Welt der hochdimensionalen topologischen
Physik.
Sowohl aus theoretischer als auch aus experimenteller
Sicht bergen diese Zustände noch viele Geheimnisse. Eines
der spannendsten unter ihnen ist die Frage, wie sich ein
vierdimensionales Quanten-Hall-System verändert, wenn
Elektronen miteinander wechselwirken. In unseren Experi-
menten verhielten sich die Atome wie Elektronen, die sich
weder anziehen noch abstoßen.
In echten Festkörpern ist das in der Regel anders. In
diesen Fällen nimmt die quantisierte Spannung nicht nur
ganzzahlige, sondern auch gebrochenzahlige Werte an.
Dieses Phänomen ist seit seiner Entdeckung vor mehr als
30 Jahren als fraktionaler Quanten-Hall-Effekt bekannt
(siehe Spektrum Juni 1999, S. 74), denn die Teilchen in solchen
Systemen verhalten sich wie ein Bruchteil eines Elektrons.
Physiker hoffen ihre eigentümlichen Eigenschaften bei der
künftigen Entwicklung neuartiger Quantencomputer nutzen
zu können.
Ähnlich exotische Phänomene wurden genauso für
vierdimensionale wechselwirkende Quanten-Hall-Systeme
vorhergesagt. Wie man diese experimentell beobachten
könnte, wissen wir aber noch nicht. Unsere Methoden
lassen sich nicht ohne Weiteres auf wechselwirkende Syste-
me übertragen; dafür bräuchten wir einen völlig neuen
Ansatz.
Neben offenen Fragen der Grundlagenphysik könnten
unsere Experimente außerdem für technische Anwendun-
gen interessant sein. Besonders vielversprechend erscheint
die Möglichkeit, einen neuen Standard für die SI-Einheit
Ampère durch topologische Ladungspumpen zu definieren.
Eine solche Ladungspumpe für Elektronen würde einen
quantisierten und äußerst stabilen Stromfluss erzeugen, der
direkt von der Elementarladung abhängt. Damit könnte die
topologische Ladungspumpe in die Fußstapfen ihres großen
Bruders, des Quanten-Hall-Effekts, treten, der bereits zur
Definition des elektrischen Widerstands dient. 

QUELLEN
Lohse, M. et al.: Exploring 4D quantum Hall physics with a 2D
topological charge pump. Nature 553, 2018
Thouless, D. J.: Quantization of particle transport. Physical
Review B 27, 1983
Zilberberg, O. et al.: Photonic topological boundary pumping as
a probe of 4D quantum Hall physics. Nature 553, 2018
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