Spektrum der Wissenschaft - 05.2019

(Sean Pound) #1

eine gewisse Form von Absicht enthält. Deshalb betrachte
ich solche Werke als Konzeptkunst. In dieser in den 1960er
Jahren entstandenen Kunstform ist die Idee hinter einer
Arbeit wichtiger als das Endergebnis. Mit meiner Meinung
stehe ich offenbar nicht allein da. »The Butcher’s Son«
wurde beispielsweise 2018 mit dem Lumen Prize ausge­
zeichnet, der digitaler Kunst gewidmet ist.
In all den Beispielen erzeugte zwar ein Algorithmus die
KI ­Kunstwerke, doch immer unter der Leitung eines Men­
schen. Der Künstler trifft eine Vorauswahl an Bildern, passt
das Programm bei Bedarf an und sucht am Ende die besten
Ergebnisse aus. Aber was wäre, wenn ein Computer Kunst
kreieren würde, ohne dass ihn ein Mensch beeinflusst?
Diesem Gedanken folgend haben wir AICAN (artificial
intelligence creative adversarial network) entwickelt, einen
Algorithmus, der als nahezu autonomer Künstler gelten
kann. Er lernt bestehende Stile sowie Definitionen von
Ästhetik und erzeugt eigenständig, also ohne äußeres
Zutun, innovative Bilder.
Um dem Programm unser ästhetisches Verständnis
beizubringen, orientierten wir uns an einer Theorie des
US ­amerikanischen Psychologen Colin Martindale (1943–
2008). Er hatte beobachtet, dass erfolgreiche Künstler
oftmals Formen, Themen und Stile ablehnen, an die sich
das Publikum bereits gewöhnt hat. Stattdessen ziehen sie
die Aufmerksamkeit eines Betrachters auf ihr Werk, indem
sie Neues kreieren.
Daher haben wir unseren Algorithmus zwei entgegenge­
setzten Einflüssen ausgesetzt. Auf der einen Seite versucht
er, die Ästhetik bestehender Kunstwerke zu erlernen, wäh­
rend er andererseits dafür bestraft wird, wenn seine eige­
nen Bilder einem bereits etablierten Stil zu nahe kommen.
Weil zu viel Innovation wiederum abschreckt, stellten wir si­
cher, dass die entstehenden Werke zwar neuartig sind, aber
nicht zu stark von dem abweichen, was als akzeptabel
angesehen wird. Im Idealfall schafft das Programm etwas
Neues, das auf herkömmlichen Stilen aufbaut. Da unsere KI
auch die Namen der ihr vorgesetzten Kunstwerke lernt,
benennt sie sogar ihre eigenen Bilder. Eines heißt beispiels­
weise »Orgie«, ein anderes »The Beach at Pourville«.


Ein Computerprogramm als eigenständiger
Künstler?
Zudem kann AICAN die Kreativität seiner Produkte im
kunsthistorischen Kontext bewerten (siehe »KI als Kunstkri­
tiker«, links). Dabei zeigte sich, dass es einen abstrakten Stil
bevorzugt. Weil das Programm innovativ sein soll, baut es
wahrscheinlich auf neueren Trends wie der abstrakten
Kunst auf, die erst im 20. Jahrhundert modern wurde (siehe
»Kunstgeschichte aus Sicht einer Maschine«, S. 72).
Unsere Rolle als menschliche Künstler rückt dabei noch
weiter in den Hintergrund, als es bei KI­Kunst sowieso
schon der Fall ist. So wählen wir nicht etwa bestimmte
Bilder aus, um einem Programm wie AICAN Ästhetik beizu­
bringen, sondern füttern es mit 80 0 00 verschiedenen
Werken, die den westlichen Kunstkanon der letzten 500
Jahre repräsentieren. Auf Knopfdruck erstellt das Pro­
gramm dann eigene Bilder, die uns in ihrer Raffinesse und
Variation oft überraschen.


Um herauszufinden, wie andere Menschen auf die
Werke von AICAN reagieren, stellten wir 2016 auf der
internationalen Kunstmesse Art Basel die KI­generierten Bil­
der zusammen mit solchen menschlicher Künstler aus. Für
jedes davon fragten wir die Besucher, ob sie glaubten, dass
es von einer Maschine oder einem Menschen stammt.
Überraschenderweise konnten die meisten keinen Unter­
schied ausmachen: In 75 Prozent der Fälle dachten die
Besucher, AICANs Bilder seien durch menschliche Hand
entstanden.
Doch sie taten sich nicht bloß schwer damit, die compu­
tergenerierte Arbeit als solche zu erkennen. Das Publikum
genoss die KI­Kunstwerke, viele beschrieben sie als »voll
visueller Struktur«, »inspirierend« oder »kommunikativ«.
Ab Oktober 2017 stellten wir Bilder von AICAN in Frank­
furt, Los Angeles, New York und San Francisco aus. Dabei
hörten wir immer wieder die gleiche Frage: Wer ist der
Künstler? Als Wissenschaftler habe ich den Algorithmus
zwar entwickelt, allerdings halte ich mich aus dem gesam­
ten Schaffensprozess heraus. Das Programm wählt den
Stil, das Motiv, die Komposition, die Farben und die Textur
seiner Bilder aus. Deshalb nannten wir ausschließlich

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Unser Online-Dossier zum Thema
finden Sie unter spektrum.de/
t/kuenstliche-intelligenz

Das preisgekrönte
KI-Kunstwerk »The
Butcher’s Son« von
Mario Klingemann
wurde auch hart
kritisiert.
AHMED ELGAMMAL, ART & AI LAB RUTGERS UNIVERSITY

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