Spektrum der Wissenschaft - 08.2019

(Ron) #1
Lokalisierungsmodellen unterbrechen zufällige »Blitze« die
zeitliche Entwicklung der Wellenfunktion, was Überlagerun-
gen zerstört. Der Begriff Blitz soll den flüchtigen Charakter
des Vorgangs zu verdeutlichen und hat nichts mit Licht
oder Photonen zu tun.

Zufällige Blitze verleihen Teilchen
ihre Realität
Diósi und ich gehen davon aus, dass ein Teilchen erst dann
wirklich real wird, wenn es von einem Blitz getroffen wird.
Zu diesem Zeitpunkt materialisiert es sich, erhält also eine
Masse und erzeugt damit ein Gravitationsfeld, das das
restliche System anzieht. Irgendwann materialisiert sich ein
anderes Teilchen, zieht ebenfalls die übrigen Partikel an und
so weiter. Die Schwerkraft zeigt sich in dem Modell also auf
ruckartige Weise.
Auch wenn die stoßweise Dynamik nicht zu unserer
Wahrnehmung einer kontinuierlichen Gravitation passt,
widerspricht sie nicht den bisherigen experimentellen
Ergebnissen, weil man solche genauen Messungen noch
gar nicht durchführen konnte. Die Schwerkraft ist dafür viel
zu schwach: Laborversuche, die die gravitative Anziehung
zweier Elementarteilchen bestimmen, sind bis auf Weiteres
außer Reichweite. Selbst ein Golfball, der immerhin aus
mehr als 1020 Atomen besteht, erzeugt eine kaum messbare
Schwerkraft.

ein, die der Physiker Isaac Newton bereits vor etwa 350
Jahren niederschrieb. Dennoch ebnete Kafris und Taylors
Versuch erstmals den Weg in Richtung einer semiklassi-
schen Gravitationstheorie.
Ein Jahr später konnten sie ihren Ansatz jedoch leicht
verändern und so die richtige Gravitationskraft vorhersa-
gen – zumindest im nichtrelativistischen Fall. Sobald sich
Objekte extrem schnell bewegen, versagt ihre Methode.
Allerdings funktioniert ihre Rechnung nur für ein verein-
fachtes Modell des Universums: Anstatt kontinuierliche
Abstände vorauszusetzen, ist in ihrer Version der Raum wie
ein Netzwerk in diskrete Gitterpunkte aufgeteilt.
Zusammen mit Lajos Diósi von der Ungarischen Akade-
mie der Wissenschaften habe ich im gleichen Jahr die
Ideen von Kafri und seinen Kollegen weiterentwickelt.
Indem wir die Vorteile der spontanen Lokalisierungsmodelle
weiter nutzten, gelang es uns, die richtige Gravitationskraft
für eine kontinuierliche Raumzeit für den nichtrelativisti-
schen Fall herauszuarbeiten. Damit können wir erstmals
realistische Vorhersagen für gewöhnliche Laborexperimen-
te treffen.
Doch wie interpretieren spontane Lokalisierungsmodelle
die gravitative Masse eines mikroskopischen Teilchens? In
der Quantenmechanik beschreibt die Wellenfunktion die
überlagerten Zustände eines Objekts. Die Schrödingerglei-
chung diktiert dabei ihren zeitlichen Verlauf. Bei spontanen


Wie interpretiert man die Quantenmechanik?


Die Quantenphysik besteht aus vielen Gesetzen und Regeln, mit denen man die Wahrscheinlichkei-
ten dafür berechnen kann, wie ein mikrophysikalisches Experiment ausgeht. Dieser mathematische
Formalismus sagt allerdings nichts über die zu Grunde liegende Realität aus. Welche Bedeutung die
Wellenfunktion hat oder was in der Quantenwelt genau passiert, ist ungewiss.
Um die gravitative Masse eines Quantensystems zu bestimmen, die man für eine semiklassische
Gravitationstheorie braucht, muss man jedoch die Antworten auf solche Fragen kennen. Physiker
haben bis heute Dutzende von konkurrierenden Interpretationen der Quantenphysik entwickelt.

Kopenhagener Deutung
Die Kopenhagener Deutung ent-
wickelte der dänische Physiker Niels
Bohr mit einigen Kollegen in den
Anfängen der Quantenmechanik.
Tatsächlich existieren verschiedene
Varianten dieser Interpretation, die
der Wellenfunktion jeweils einen
anderen Stellenwert zuschreiben. In
heutigen Lehrbüchern findet man
meist die so genannte orthodoxe
Deutung, die teilweise von Bohrs
eigenen damaligen Vorstellungen
abweicht. In ihr ist die Frage nach der
Bedeutung der Wellenfunktion
irrelevant, da diese als metaphysisch
betrachtet wird.

Inspiriert von der positivistischen
Philosophie geht der orthodoxe
Ansatz davon aus, dass sich eine
physikalische Theorie auf die Vorher-
sage experimenteller Ergebnisse
beschränken sollte. Jede weitere
Diskussion sei dabei bestenfalls
überflüssig. Der US-amerikanische
Festkörperphysiker David Mermin,
ein Kritiker der Philosophie, fasste die
Kopenhagener Deutung 1989 in
einem prägnanten Slogan zusam-
men: »Shut up and calculate« (Halt
die Klappe und rechne). Dieser
erscheint einigen Physikstudenten
vertraut, da viele Professoren eine
solche Auffassung vertreten.

Begeistert vom Erfolg ihres mini-
malistischen Ansatzes, machten
einige Gründer der Quantenphysik
den Fehler, ihn für unvermeidlich zu
halten. Zum Beispiel schrieb der
deutsche Physiker Werner Heisen-
berg 1958: »Die Vorstellung einer
objektiven, realen Welt, deren kleins-
te Teile in der gleichen Weise objektiv
existieren wie Steine und Bäume,
gleichgültig, ob wir sie beobachten
oder nicht, ist unmöglich.« Das
konnten Wissenschaftler nie bewei-
sen. Die Frage nach dem, was in der
Quantenmechanik real ist, ist heute
noch genauso offen wie zu ihren
Anfängen.
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