Spektrum der Wissenschaft - 09.2019

(Tuis.) #1

Es gibt verschiedene Methoden, sich dieser Zahl zu
nähern. Einige Wissenschaftler haben einen Top-down-
Ansatz gewählt und versucht, einen lebenden Organismus
nach und nach auf seine Kernbestandteile zu reduzieren.
Der Biologe John Glass und seine Kollegen am J. Craig
Venter Institute (JCVI) in La Jolla, Kalifornien, arbeiteten mit
einem der kleinsten bekannten mikrobiellen Genome der
Welt, nämlich dem Erbgut des Bakteriums Mycoplasma
mycoides. Die Forscher schalteten darin systematisch ein
Gen nach dem anderen aus, um herauszufinden, welche
wirklich wichtig sind. Anschließend stellten sie im Labor ein
Minimalgenom her, das sich nur noch aus den erwiesener-
maßen essenziellen Erbanlagen zusammensetzte. Es
enthielt 473 Gene – etwa halb so viele wie das Erbgut des
ursprünglichen Bakteriums –, und die Forscher schleusten
es in die verwandte Bakterienart Mycoplasma capricolum
ein. Im Jahr 2016 demonstrierte das Team, dass dieser
synthetische Organismus frei leben kann, wenngleich er
sich nur langsam vermehrt. Laut Glass dürfte es schwierig
sein, die Zahl seiner Gene noch stärker zu drücken: Nehme
man weitere Erbanlagen weg, töte das den Organismus
entweder oder verringere zumindest seine Teilungsaktivität
auf nahezu null.


Von rund 100 Genen ist nicht bekannt, warum
die Zelle sie zum Überleben braucht
Glass und seine Kollegen am JCVI haben eine Liste unbe-
dingt notwendiger »zellulärer Aufgaben« erstellt, wobei sie
sich auf die am weitesten entwickelte Version ihres Mini-
malgenoms namens JCVI-syn3.0a stützten. Dieser Katalog
gibt Auskunft darüber, welche Funktionen eine Zelle min-
destens erfüllen muss, damit sie eigenständig existieren
kann. Von etwa 100 Erbfaktoren in ihrem Minimalgenom
wissen die Forscher allerdings nicht, warum sie überlebens-
wichtig sind.
Im nächsten Schritt wollen Glass und Adamala das
JCVI-syn3.0a-Genom in ein künstlich hergestelltes Liposom
einbringen, das die nötige Maschinerie besitzt, um DNA in
Proteine umzuschreiben. Dabei wird sich zeigen, ob das
entstehende Gebilde überlebensfähig ist. Falls ja, würde es
sich um einen Organismus handeln, bei dem sowohl die
Soft- als auch die Hardware synthetisch sind. Könnte er
wachsen und sich vermehren, stellte das einen gewaltigen
Schritt dar. Und dennoch wäre nach Ansicht vieler Wissen-
schaftler das Ziel noch nicht erreicht. Denn um einem
Lebewesen wirklich nahezukommen, müsste er sich auch
von selbst weiterentwickeln und an seine Umwelt anpas-
sen, meinen sie. »Wenn sich etwas selbst reproduziert, ist
es noch nicht notwendigerweise Leben«, sagt Schwille.
»Um als solches zu gelten, muss es neue Funktionen ent-
wickeln.«
Glass und seine Mitarbeiter haben mit dem JCVI-
syn3.0a-Genom bereits Evolutionsexperimente in einer
Laborumgebung durchgeführt. Dabei selektierten sie auf
die Fähigkeit, in nährstoffreichen Lösungen schneller zu
wachsen. Nach etwa 400 Generationen entstanden Gebil-
de, die sich um rund 15 Prozent rascher teilten als die
ursprünglichen Strukturen und einige Veränderungen in der
Gensequenz aufwiesen. Doch das Experiment lieferte noch


keinen Hinweis darauf, dass die synthetischen Mikroben
neue zelluläre Funktionen hervorgebracht oder ihre repro-
duktive Fitness sprunghaft gesteigert hätten.
Tobias Erb meint, erst die Herausforderung, künstlichen
Zellen Evolution »einzuhauchen«, mache die Sache wirklich
interessant. Es sei dieses kleine bisschen Unordnung in
biologischen Systemen, das es ihnen ermögliche, ihre
Leistungsfähigkeit zu steigern. »Als Ingenieure sollten wir
nicht anstreben, eine perfekte synthe tische Zelle herzustel-
len. Wir sollten ein sich selbst korrigierendes System ent-
wickeln, das mit der Zeit besser wird.«
Derlei Strukturen könnten Erkenntnisse darüber liefern,
wie Leben auf anderen Planeten möglicherweise beschaf-
fen ist. Künstliche zelluläre Bioreaktoren wiederum könnten
neue Möglichkeiten eröffnen, Krebserkrankungen zu be-
handeln, Antibiotikaresistenzen zu bekämpfen oder Um-
weltverschmutzungen zu beseitigen. Ein solches System im
menschlichen Körper oder in der Umwelt freizusetzen, wäre
freilich mit Risiken verbunden.
Ohnehin werfen synthetische Zellen, die Eigenschaften
von Lebewesen haben, zahlreiche philosophische Fragen
auf (siehe hierzu das Interview »Die Übergänge sind
fließend«, rechts). Handelt es sich tatsächlich um Leben?
Wenn ja, ist es selbstständig existenzfähig? Können wir es
kontrollieren? Das sind Fragen, die öffentlich diskutiert
werden sollten, davon zeigt sich jedenfalls Marileen Dogte-
rom überzeugt. Dass künstliche Zellen quasi Amok laufen
könnten, be fürchtet sie allerdings nicht. »Ich bin sicher,
dass unsere ersten Kreationen nur ein müder Abklatsch
dessen sein werden, was in der Biosphäre bereits existiert.«
Zudem ließen sich in solche Gebilde mit einfachen Mitteln
diverse Kontrollmechanis men oder Ausschalter für den
Notfall einbauen, die die Zellen bei Bedarf unschädlich
machen würden.
Dogterom und andere Synthetische Biologen werden auf
jeden Fall weiter daran arbeiten, die Grenzbereiche des
Lebens zu erforschen – und zu überschreiten. »Wir haben
die Genome und die Liste der weiteren Zutaten dafür«, sagt
die Biophysikerin. »Die Zeit ist reif.« 

QUELLEN
Deshpande, S. et al.: Octanol-assisted liposome assembly on
chip. Nature Communications 7, 2016
Hutchinson, C. A. et al.: Design and synthesis of a minimal
bacterial genome. Science 351, 2016
Litschel, T. et al.: Beating vesicles: encapsulated protein
oscillations cause dynamic membrane deformations. Ange-
wandte Chemie International Edition English 57, 2018
Schwander, T. et al.: A synthetic pathway for the fixation of
carbon dioxide in vitro. Science 354, 2016
Weiss, M. et al.: Sequential bottom-up assembly of mechani-
cally stabilized synthetic cells by microfluidics. Nature Materials
17, 2 0 18

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Nature 563, S. 172–175, 2018
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