Focus - 24.08.2019

(Brent) #1
GESUNDHEIT

Foto: Thomas Schweigert/13 Photo

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I


ch bin einer von vielen. Hocke oft
über Stunden am Schreibtisch.
Beuge mich über Texte. Starre
auf einen Bildschirm. Mein Tag-
werk ähnelt dem von rund 20
Millionen weiteren Deutschen,
die ihre Arbeit vorwiegend im
Sitzen erledigen.
Mein Verdacht: Unsere Tätigkeit fordert
einen Tribut. Das Kauern an den Rech-
nern macht etwas mit unseren Körpern.
Es verbiegt uns.
Ich erschrecke manchmal, wenn ich
Fotos von mir sehe. Wie krumm ich daste-
he! Der Kopf hängt. Die Schultern sind
nach vorne gesunken. Und bildet sich
da nicht der Buckel eines Büro-Quasi-
modos? Sehe ich nicht schon fast aus wie
ein Greis? Ich würde gerne eine bessere
Figur machen, künftig möglichst aufrecht
durchs Leben gehen.
Eine Recherche zu Fragen der Haltung
beginnt. In eigener Sache und auch hof-
fentlich für so manchen meiner 20 Mil-
lionen potenziellen Leidensgenossen. Sie
führt mich zu Medizinern, Kräftigungs-
therapeuten und Bewegungslehrern,
zu einem Professor für Psychologie, in
die Proberäume des Berliner Staatsbal-
letts und zurück in die Kulturgeschichte
unserer westlichen Zivilisation. Es ist eine
Reise, auf der mir gelegentlich Zweifel
kommen, ob mein Weg der richtige ist,
und auch, ob ich überhaupt das richtige
Ziel anstrebe.
Der naheliegende Gedanke lautet: Ich
bin ein Fall für die Orthopädie. Das grie-
chische Wort Ortho bedeutet aufrecht,
richtig oder gerade. Und Pädie steht
für Erziehung. Ein Arzt soll meine Hal-
tung richten, meine Bewegung schulen,
die Deformationen des professionellen
Hockens beheben.
Ich melde mich im Rückenzentrum Am
Markgrafenpark in Berlin. Mediziner Ulf
Marnitz, ein großer, athletischer Mann,
schreitet mir auf dem Weg vom Empfang
zu seinem Behandlungszimmer voran –
mit bewundernswert federndem Gang
und erhobenen Hauptes. So mache er es
immer, sagt er. Er wolle seinen Patienten
ein gutes Beispiel geben. Es ist ein lan-
ger Flur, eine große Praxis mit mehr als
40 Mitarbeitern, eines der größten Ortho-
pädiezentren in Deutschland. Rücken
bringt offensichtlich Rendite.
Ja, ich sei ein typischer Fall, sagt der
Arzt. Es kämen viele Patienten, die gar
keine ernsten Beschwerden hätten, son-
dern sich um ihr Aussehen sorgten.

Es scheint eine Schwäche unserer Zivilisation,


der Fluch der vielen Arbeit am Schreibtisch:


Wir knicken ein, sacken zusammen, hängen durch.


Wie richten wir uns wieder auf? Ein Selbstversuch


TEXT VON BERNHARD BORGEEST
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