Focus - 24.08.2019

(Brent) #1
GESUNDHEIT

FOCUS 35/2019 69


der Welt im russischen Perm angenom-
men worden. Haltung war dort oberstes
Gebot. Auch sie sollte die Schulterblätter
nach hinten und unten rollen. Sie lernte,
die unteren Rippen zu schließen und so
zu atmen, dass sich ihr Brustkorb kaum
bewegt, damit beim Tanz stets die Illu-
sion der Leichtigkeit gewahrt
bleibt. Ab ihrem zwölften
Lebensjahr stand sie auf Spit-
zenschuhen, die Belastung
auf dem zweiten Zeh.
Haltung sei eine Frage der
Disziplin, sagt die Saidako-
va, und Ballett ein Hoch-
leistungssport. Sechsmal die
Woche bis zu sechs Stunden
am Tag müssten die Tänzer
trainieren, dazu abends ihre
Aufführungen absolvieren.
Weil das für einen Men-
schen wie mich kaum infrage
kommt, habe ich doch noch
die Bitte nach einem Tipp für
Laien. Einer fällt der Ballerina
sofort ein: den Kopf stets so
halten, als würde man von der
Bühne eines Theaters in die
letzte Reihe Parkett blicken.
Meine Versuche, eine gu-
te Figur abzugeben, gera-
ten bald in eine Krise. Die
Kopf-zurück- und Schulter-
runter-Manöver verspannen
mich. Noch nie hat mein
Rücken geschmerzt, doch
jetzt zieht es im Kreuz. Und
ein wenig albern komme ich
mir auch vor mit meiner frisch
geschwellten Brust.
Ich beginne, mein Projekt
infrage zu stellen. Lese Stu-
dien, die dem widerspre-
chen, was mir offensichtlich
schien. Sie finden keine Hin-
weise darauf, dass Fehlstel-
lungen, die wir landläufig als
schlechte Haltung bezeichnen, tatsächlich
zu Rückenschmerzen führen. Mir kommt
der Gedanke, dass der Mensch seit jeher
dazu neigen könnte, es sich bequem zu
machen, und dass die Idee von der gera-
den Haltung weniger mit unserer Natur
als mit unserer Kultur zu tun hat. Die Kla-
gen über das Lümmeln, Lungern und Fle-
geln scheinen jedenfalls so alt zu sein wie
das Abendland.
Aristoteles ermahnte seine griechi-
schen Landsleute, sich möglichst deutlich
abzuheben von den Tieren. Der Mensch


sei schließlich das einzige Wesen, das auf-
recht steht. Und Platon bezeichnete unser
Haupt als die Akropolis des Körpers, es
solle den Göttern möglichst nahe sein.
Fast 2000 Jahre später schrieb Eras-
mus von Rotterdam in seinem Benimm-
buch für Knaben: Hals und Schultern

hängen zu lassen zeuge von Faulheit.
Der Adel grenzte sich in vornehmer Pose
vom niederen Volke ab, das mit Bückling
zu grüßen hatte. Als sich das Bürgertum
emanzipierte, eiferte es den hohen Her-
ren nach. Carl Friedrich Bahrdt empfahl
in seinem „Handbuch der Moral für den
Bürgerstand“ von 1789, in Gebärden
und im Gange eine gewisse Würde zu
zeigen. Und schließlich riefen sozialis-
tische Revolutionäre die Arbeiter zum
Aufstand auf – sich zu erheben gegen
Unterdrückung. Die aufrechte Körperhal-

tung war bald befrachtet mit Konzepten
wie Gesundheit, Schönheit, moralische
Überlegenheit und Charakterstärke. Sie
wurde zum gesellschaftlichen Imperativ.
Preußens Militär trug maßgeblich zu ihrer
Glorie bei. Die Soldaten mussten stramm
im Lot stehen und im Stechschritt mar-
schieren. In den Klassenzim-
mern war rigides Stillsitzen
Pflicht. Frauen zwängten sich
in Korsetts, die ihre Muskula-
tur nur schwächten. Und der
Leipziger Orthopäde Moritz
Schreber, dem zu Unrecht
die Erfindung des Klein-
gartens zugeschrieben wird,
bekämpfte die physische und
moralische Degeneration der
Jugend mit Apparaten aus
Stahl, seinen Geradehaltern.
Als Turnvater Friedrich
Ludwig Jahn – Bauch rein,
Brust raus – den Volkskörper
ertüchtigen wollte, mischten
sich nationale Töne in die
Haltungsfrage. Die Natio-
nalsozialisten pervertierten
sie vollends. In der deut-
schen Haltung, schneidig
und zackig, sollte die Über-
legenheit der Arier zum Aus-
druck kommen gegenüber
der Schlaffheit der Juden und
anderer minderwertiger Ras-
sen. Kein Wunder, dass zur
Pose des Protests unter den
Studentenbewegten das Coo-
le und Lässige gehörte.
Mit dem Gedanken, mich
gerade zu halten, versöhnen
mich Bewegungslehren, wie
sie im vergangenen Jahrhun-
dert der Israeli Moshé Fel-
denkrais, die Amerikanerin
Ida Rolf oder der australische
Schauspieler Frederick Mat-
thias Alexander entwickelt
haben. Bei ihnen ist weniger von Arbeit
und Disziplin, dem Stärken von Muskeln
oder dem Dehnen von Sehnen die Rede
als von einer freundlichen Körperwahr-
nehmung.^
In ihrem Studio in der Münchner Max-
vorstadt empfangen mich Sabine Scholz
und Andreas Dirscherl, zwei Experten
für die sogenannte Alexander-Technik.
Haltung, sagen sie, sei ein gefährliches
Wort, weil es impliziert, dass man etwas
festhalten muss. Dabei ginge es eher
darum, Anspannungen loszulassen.

Spitzenleistung
Auch Laien rät Balle-
rina Nadja Saida-
kova: den Blick stets
so, als fixiere man
die letzte Reihe eines
Zuschauerraums
Free download pdf