Der Stern - 29.08.2019

(Tina Meador) #1
Pranger stellen!“, sagt Dorit Bau-
meister, in ihrer Empörung eine
Verwandte im Geist von Franziska
Linkerhand, einer Romanfigur der
Schriftstellerin Brigitte Reimann.
Der Roman spielt in Hoyerswer-
da. Mitte der 70er Jahre erzählt er
ungewöhnlich kritisch vom DDR-
Alltag. Oppositionelle Intellektuel-
le lasen das Buch wie die Bibel. Bau-
meister war 14, als sie den Band in
die Hand bekam. „Da beschloss ich,
Rebellin zu werden.“
Man spürt diesen Geist noch Jahr-
zehnte später, wenn sie beim Stadt-
rundgang durch die Wohnkomple-
xe der Neustadt von den Wunden
des Ortes und der Menschen spricht.
Mit der Schließung des Energie-
kombinats Schwarze Pumpe verlo-
ren 17 000 Arbeiter aus dem Stamm-
betrieb fast über Nacht ihren Job,
weitere aus den Folgefirmen kamen
dazu. Die Zahl der Einwohner sank
von 71 000 auf etwa die Hälfte. „Das
sehen Sie, das spüren Sie, das mer-
ken Sie in jeder Familie und jedem
Freundeskreis. Aber es wurde durch-
geschwiegen.“
Dorit Baumeister aber hat die-
ses Schweigen zu ihrem Lebens-
thema gemacht: „Mich interes-
sierte es.“ Seitdem schlägt sie sich
mit einem irrwitzigen Wider-
spruch herum. Während alle Zei-
chen auf Wachstum stehen, geht es
in Hoyerswerda ums Schrumpfen,
um „Entdichtung“. Was sie meint,
zeigt sich beim Blick von dem
Hochhaus, das Lausitztower heißt,
so wie hier fast alles die Lausitz im
Namen trägt – immer in der Hoff-
nung, es könnte irgendwie identi-
tätsstiftend wirken.
Vom Lausitztower sieht man den
Plattenbau, in dem „Gundi“ Gun-
dermann, der singende Baggerfah-
rer, mal gewohnt hat – und in dem
sein Kumpel, mit dem er die Woh-
nung getauscht hat, nachdem er
ihm die Frau ausgespannt hatte,
heute tatsächlich noch wohnt.
„Gundermann“ hat dieses Jahr beim
Deutschen Filmpreis abgeräumt –
und für ein bisschen Lokalstolz
hat das auch gesorgt, hier in „Hoy-
woy“. Vor allem aber sieht man ganz
oben vom Tower, dass die Abriss-
bagger im Zentrum ganze Arbeit
geleistet haben – als ob es darum
gegangen sei, DDR-Identität kaputt
zu machen.

Gesprengt wurde ausgerechnet
dort, wo sich die frühe DDR ein
anspruchsvolles Bauen leisten woll-
te. So wurde auch eine Idee zerstört.
„Wir hätten eine Verpflichtung ge-
habt, uns als Pilotstadt der Moder-
ne mit der ästhetischen Sanierung
des Plattenbaus auseinanderzuset-
zen“, sagt Dorit Baumeister erbost.
„Doch die importierten Architek-
turbüros aus dem Westen haben die
Stadt nicht verstanden, sie sind
arrogant über die Geschichte hin-
weggegangen.“
Das, sagt Baumeister, solle nicht
noch mal passieren. Gerade hat al-
lerdings Ministerpräsident Kretsch-
mer einen „Innovationsbeirat Sach-
sen“ einberufen – der Vorsitzende
ist Präsident der TU München, ein
Wessi.
Weil sich die Architektin nicht
einfach abfinden mochte mit
Schweigen und Scham und den Zei-
tungsfotos, die Hoyerswerda meist
bei Regen zeigten, holte sie mit dem
Projekt „Superumbau“ immer mal
wieder Künstler in die Stadt, die
vor allem ein Ziel hatten: ein neu-
es Lebensgefühl zu vermitteln,
Selbstbewusstsein und Energie.
Es hat funktioniert, sagt Dorit Bau-
meister.
Woran merkt man das? Auf
Reisen hätten die Einheimischen
früher ihre Herkunft meist ver-
schwiegen. „Jetzt sagen sie wieder:
Wir kommen aus Hoyerswerda.“
*
Zwischen den Plattenbauten eines
Wohnkomplexes in Hoyerswerdas
Neustadt stehen ungenutzte Wä-
schestangen in der Augustsonne.
Es ist ein guter Ort, Vergangenheit
zu erkennen, wenn man so will: Ver-
gänglichkeit, Funktionsverlust –
jedenfalls aus Westsicht.
Doch der Eindruck täuscht. Es
wird noch Wäsche aufgehängt. Die
Architektin widerspricht, und der
Reporterin aus dem Osten wäre eine
derartige Interpretation erst gar
nicht in den Sinn gekommen.
Vor der Wahrheit kommt die
Wahrnehmung, hat der frühere
Bundespräsident Joachim Gauck
vor Jahren gesagt. Die prägt die
Wahlabende. Am Sonntag, um 18 Uhr,
ist es wieder so weit. 2

HAT GELITTEN


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