Der Stern - 29.08.2019

(Tina Meador) #1
FOTOS: BENJAMIN ZIBNER/STERN

Ein Land zum
Lieben und
zum Verzweifeln:
links ein Blick
auf die Elbe
bei Rathen, rechts
eine Straße
in Hoyerswerda

29.8.2019 53

Reporter der „Sächsischen Zeitung“ über ihre Heimat


Hier brauchte es nicht das Flüchtlingsthe-
ma. Und auch mit rechtsextremem Gedan-
kengut hatte diese Dorf-Wahl nichts
zu tun. Sondern mit Frust.

Lokalstolz oder sächsischer Chauvinismus?

ULLI SCHÖNBACH
Der Journalist leitet das Redaktions-
büro der „Sächsischen“ im Landkreis
Bautzen, wo die AfD bei der Europa-
wahl in den meisten Kommunen die
Stimmenmehrheit holte

A


nfang des Jahres haben
meine Kollegen und
ich von einem Bürger-
forum berichtet. 900 Men-
schen drängten sich in
einer Kirche in Bautzen.
Thema war das aufgeheizte politische
Klima in der Stadt. Vor allem zwei Sätze
sind mir von diesem Abend in Erinnerung
geblieben. Der erste stand am Beginn fast
aller Wortmeldungen. Er lautete: „Ich bin
in Bautzen geboren“ – ganz so, als wäre die
eigene Herkunft für alles ein schlagendes
Argument.
Der zweite Satz richtete sich an eine Wis-
senschaftlerin, vor wenigen Jahren aus
Hessen zugezogen, bekannt für ihre Kritik
am alltäglichen Rassismus und an der
Verharmlosung rechter Gruppen. Eine Frau
schleuderte ihr entgegen: „Wer sind Sie?
Gehen Sie wieder!“ – Die Menge johlte.

Beide Sätze gehören zusammen: der
Stolz auf die Herkunft und der Argwohn
gegenüber allem, was nicht von hier
kommt, die Überempfindlichkeit gegen
Kritik. Für diese Haltung gibt es Erklärun-
gen: die soziale Auslese durch die Abwan-
derung, der massive Rückbau der sozia-
len Infrastruktur, die Lohnunterschiede,
die Dominanz des Westens im wiederver-
einten Deutschland. Aus diesem Gefühl
dauerhafter Benachteiligung erwächst
das Bedürfnis nach Abgrenzung. Wo
früher ein gesunder Lokalpatriotismus
vorherrschte, macht sich nun Provinz-
geist breit.

Wer ist das Volk?

ULRICH WOLF
Der Politikjournalist zog vor 30 Jahren
von Bayern nach Sachsen. Für die Be-
richterstattung über die Pegida-Bewe-
gung erhielten er und seine Kollegen
2016 den „Wächterpreis der Tagespresse“.

F


ebruar 2019, Dynamo
spielt beim HSV. Mein
Bruder, der in Hamburg
lebt, ist beeindruckt: von
den rund 8000 Dresden-
Fans, ihren Choreografien,
dem Pyro-Gedöns. „Und das auswärts am
Montagabend.“ Mitte der zweiten Halbzeit
entrollen HSV-Anhänger auf der Nordtri-
büne zwei Transparente. Auf einem steht:

„Weg mit Dresden, Sachsen und dem
Solidaritätszuschlag.“ Die Reaktion der
Dynamo-Fans? Sie fassen sich an den
Schultern, machen Polonaise und skan-
dieren: „Ost-Ost-Ostdeutschland.“
30 Jahre freiheitliche Demokratie haben
offensichtlich etwas erreicht, was der SED
nie so recht gelungen war: die Identifika-
tion ihres Volkes mit Ostdeutschland, eine
Art DDR-Nationalbewusstsein. Während
in der Bundesrepublik Begriffe wie „Na-
tion“ und „Volk“ fremd klangen, gab es im
Osten die Nationale Volksarmee, die Na-
tionale Front, das Haus des Volkes und den
volkseigenen Betrieb. Volk und Nation sind


  • wenn man so will – ostdeutsch verein-
    nahmt. Sie stiften ein „Wir“. Genau damit
    fischt die AfD nun Wähler ab: Nation, Volk,
    Wir. Ost-Ost-Ostdeutschland.
    Meine Frau stammt aus Dresden. Sie ist
    überzeugt, dass der Kapitalismus den
    Osten zwar wirtschaftlich gepuscht hat.
    Ideell aber sei da „wenig bis gar nichts aus
    dem Westen“ gekommen. Eine gesamt-
    deutsche Identität gebe es deshalb nicht.
    Stimmt wohl. Seit Dezember 1989 lebe
    ich in Sachsen. Die Vorbehalte gegen
    Westdeutsche sind heute größer denn je,
    vermutlich gilt das auch andersherum.
    Hinter dem Streit zwischen Volks-Ossis
    und Bürger-Wessis steckt letztendlich
    ein Richtungskampf darüber, wie wir in
    Deutschland künftig zusammenleben
    wollen. 2


SACHSEN

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