DER SPIEGEL Nr. 36 / 31. 8. 2019I
m Blau der Scheinwerfer steht sie da,
den Mikrofonständer in der Hand, als
gäbe der ihr Halt. »Just keep breathin’«,
singt Ariana Grande, »and breathin’ and
breathin’ and breathin’.« Atme einfach wei-
ter, nur das, mehr nicht.
Die Popsängerin steht in dieser Nacht
Ende August auf einer Bühne in Manches-
ter, und es könnte ein Auftritt von vielen
sein für Ariana Grande – wäre vor zwei
Jahren in der Stadt im Norden Englands
nicht ihre Welt aus den Fugen geraten.
Am 22. Mai 2017, kurz nachdem Grande
eine Zugabe in der ausverkauften Man-
chester Arena gesungen hatte, wenige Kilo -
meter von ihrer jetzigen Bühne entfernt,
sprengte sich ein Selbstmordattentäter im
Foyer in die Luft. 23 Menschen starben.
Sie habe keine Worte dafür, twitterte Gran-
de damals, fand ihre Stimme aber schnell
wieder. Zwei Wochen nach dem Anschlag
stand sie abermals auf einer Bühne in Man-
chester. Zusammen mit Musikern wie Mi-
ley Cyrus, Justin Bieber und Coldplay gab
sie ein Benefizkonzert.
Heute tritt Grande, inzwischen Ehren-
bürgerin der Stadt, zum ersten Mal wieder
in Manchester auf, und erneut scheint sie
ein Zeichen gegen Intoleranz setzen zu
wollen: Sie ist Headliner von Manchester
Pride, einem LGBTQ-Festival. Grande ist
derzeit auf Tour, im September und Okto-
ber kommt sie auch nach Deutschland. Die
Festivalbesucher tragen nicht nur Varian-
ten der Regenbogenfahne, manche haben
Shirts an, auf die Grandes Songtitel ge-
druckt sind: »God is a Woman«, »Thank
U, Next«. Grande zu tragen ist offenbar
mittlerweile auch ein Symbol geworden.
Für Selbstermächtigung. Und dafür, Pro-
bleme nicht einfach wegzulächeln.
Ariana Grande, 26, die als Teenager
zum Star einer Sitcom für Jugendliche wur-
de, ist eine der populärsten öffentlichen
Figuren der Gegenwart; nur dem Fußballer
Cristiano Ronaldo folgen mehr Menschenauf Instagram. Im Februar gelang ihr, was
vor ihr bloß die Beatles geschafft hatten:
Mit drei Singles stand sie zeitgleich auf
den ersten drei Plätzen der amerikani-
schen Charts.
Sie bewegt sich in der Tradition stimm-
gewaltiger US-Popdiven mit dem Hang
zur großen Geste und zum kurzen Rock.
Ihr Sopran umfasst vier Oktaven, neigt zu
Melismen, Verzierungen im Gesang. Auch
deshalb wird sie oft mit Mariah Carey
verglichen, deren Musik für sie, wie die
Whitney Houstons, zum »Soundtrack« ih-
rer Kindheit gehörte. Bekanntheit erlangte
die Popsängerin Ariana Grande, als sie
noch die Sitcom-Darstellerin Ariana Gran-
de war – mit YouTube-Videos, in denen
sie Houston oder Carey coverte.
Diese waren in den Blütezeiten ihrer
Karriere immer bemüht, ihr Innerstes so
aufgeräumt in Szene zu setzen wie den
Sound ihrer Musik. Dass es hinter den Ku-
lissen anders aussehen konnte, dass der
Ruhm Spuren und Wunden hinterließ,
zeigte sich erst später: der Drogenmiss-
brauch bei Houston, Kollapse und psy-
chische Erkrankung bei Carey. Grande hat
sich nun einen Schritt weiter bewegt als
das Gros ihrer Kolleginnen: Sie hat die Kri-
sen nicht überspielt, sondern offensiv zum
Teil ihres Images als Popstar gemacht.
Bis zum Anschlag in Manchester war
Grande als makellose, hedonistische Figur
aufgetreten, »perfekt poliert«, wie sie selbst
sagt, an deren Oberfläche die Probleme
teflonleicht abzugleiten schienen, als eine
Art Überwesen, das dem Druck leichtfüßig
standhielt und ihr Leben vorbildlich, aber
vor allem mit ziemlich viel Fun, lebte.
All das änderte sich nach dem Anschlag
in Manchester, als Grande ihr viertes Stu-
dioalbum aufnahm. »Sweetener« hieß es
(»Süßstoff«), aber es wirkte herber als al-
les, was Grande je veröffentlicht hatte, und
längst nicht so künstlich, wie der Titel ver-
muten ließ: Plötzlich ging es in den Songs,
von denen sie so viele wie bis dahin noch
nie mitgeschrieben hatte, auch um Angst-
zustände (»Breathin«). Grande litt an ei-
ner posttraumatischen Belastungsstörung,
über die sie nun offen sprach und sang.
»Sweetener« klingt wie ein Versuch, sich
zu vergewissern, dass nach jedem Sturm
irgendwann Ruhe kommt.
Jetzt, bei ihrem Auftritt auf dem Festival
in Manchester, erwähnt sie den 22. Mai
mit keinem Wort. Die Erinnerung an den
Tag liegt zwischen den Zeilen: Mit ihrer
»Sweetener«-Single »No Tears Left to Cry«
eröffnet sie, in kurzem, schwarzem Rock,
ihr Set, umgeben von Tänzern mit Regen-
schirmen, überdimensionalen Sinnbildern
dafür, dass sie den Tränen, dem Schmerz,
der Angst trotze, indem sie handle. Immer
wieder bedankt sie sich beim Publikum,
das ihre Songs eher mitkreischt als mit-
singt.104
KulturDen Scheiß heilen
PopErst wurde auf einem ihrer Konzerte ein Anschlag verübt, dann
starb ihr Ex-Freund: Kein Superstar ihrer Generation ist unterso dramatischen Umständen erwachsen geworden wie Ariana Grande.
KEVIN MAZUR / GETTY IMAGES
Sängerin Grande bei »Manchester Pride«-Festival am Sonntag: Krisen nicht überspielen