Der Spiegel - 31.08.2019

(lily) #1

106


Kultur

E


s beginnt mit einem schmutzigen,
pumpenden Italo-Beat. Ein VW
Golf, Warnblinker eingeschaltet,
hetzt durch Neapel. Am Hafen
vorbei, mitten durch die Stadt, auf den
Boulevards, über Straßenbahnschienen
und durch enge Tunnel. Die Kamera, die
das alles filmt, ist in einem zweiten Wagen
postiert, sie zeigt den Blick durch eine
schmutzige Windschutzscheibe, man sieht
das verstaubte Armaturenbrett. Manch-
mal strecken die Männer vorn im Golf den
Kopf aus dem Seitenfenster, als würden
sie gejagt.
Die Fahrt endet am Stadion San Paolo,
Gitter, roher Beton, die Tristesse südita -
lienischer Nachkriegsarchitektur. Reifen
quietschen, Türen springen auf, alles muss
schnell geschehen, als ginge es um Leben
und Tod. Aber es geht um mehr als das.
Dieser geplagten, gedemütigten Stadt soll
endlich der Retter erscheinen.
Wir sind im Jahr 1984. Bei einem Erd-
beben in Neapel vier Jahre zuvor sind
mehr als 2000 Menschen umgekommen,
die Stadt ist dreckig und arm, die Camorra
wird immer mächtiger. Und dann sieht
man ihn das erste Mal: Diego Armando
Maradona, klein gewachsen, so jung da-
mals, ein wenig schüchtern und überwäl-
tigt, soll sich nun zum ersten Mal den Fans
seines neuen Vereins vorstellen. 85 000
Menschen sind gekommen.
In den Katakomben des Stadions war-
ten Dutzende Journalisten, von draußen
hört man die Rufe »Diego, Diego«. Es ist
laut und chaotisch und dauert ein wenig,
bis ein Reporter die erste Frage stellt: Weiß
Maradona, was die Camorra ist, und weiß
er, dass das Geld der Camorra hier überall
ist, auch im Fußball?
Maradona blickt nach rechts, nach links,
fragend, unsicher. Der Präsident Corrado
Ferlaino, ein Bauunternehmer, ist empört,
so viele Opfer habe man gebracht, um Die-
go zu verpflichten, und dann so eine Frage.
Er schmeißt den Reporter raus. Auch das
ist Neapel. Eine der ärmsten Städte Europas
kauft den teuersten Fußballer der Welt.
Draußen im Stadion passiert nicht viel
außer Jubel und Tumult und Chaos. Ma-
radona sagt »Guten Abend, Neapolita-
ner«, jongliert kurz mit einem Ball, und
dann schießt er ihn in den Himmel, der so
hellblau strahlt wie die Trikots des Klubs.


Die Zukunft war ein einziges, großes
Versprechen. Zu groß für Maradona.
Der Londoner Regisseur Asif Kapadia,
Jahrgang 1972, Sohn indischer Eltern, er-
zählt in seinen Dokumentationen von
den tragischen Helden der Populärkultur.
Von Ayrton Senna, dem brasilianischen
Formel-1-Weltmeister, einem beseelten
jungen Mann, der die Perfektion suchte,
die Korruption in seinem Sport bekämpfte,
sich mit Funktionären und Teamleitern an-
legte für mehr Sicherheit und 1994 doch
sinnlos und vermeidbar auf der Renn -
strecke starb. Von Amy Winehouse, der
so wunderbar begabten Londoner Sänge-
rin, die den Drogen verfiel, weil sie glaub-
te, sie sei nichts wert, und einen öffent -
lichen Tod starb, ohne dass jemand auf die
Idee gekommen wäre, sie zu retten.
Und nun Maradona*. Dessen Tragödie
noch kein Ende gefunden hat. Der als jun-
ger Bursche aus den Slums von Buenos Ai-
res nach Europa fand. Der zum weltbesten
Spieler aufstieg. Der ein Trickser war und
ein Genie. Der dem Kokain verfiel und
den der Alkohol in die Psychiatrie brachte.
Der sich mit der Camorra einließ und die
Mutter seiner Kinder mit Prostituierten
hinterging. Der in Neapel zu einem Heili-
gen wurde und über Nacht flüchtete. Der
mal dick war und mal dünn. Der auf dem
Platz alles richtig machte und neben dem
Platz alles falsch. Und der im vergangenen
Jahr vor Millionen Fernsehzuschauern auf
WM-Tribünen in Russland torkelte und

tanzte, den Mittelfinger zeigte und offen-
sichtlich nicht mehr bei sich war. Mara -
dona, der eigentlich schon lange tot ist,
aber immer noch lebt.
Kapadias Filme haben das Genre Kino-
dokumentation revolutioniert. Kapadia
braucht keine Kameramänner, er benutzt
nur Originalmaterial. Er verzichtet auf
beobachtende Teilnahmen und auf soge-
nannte Talking Heads, die vor der Kamera
sitzen und die Geschichte, die erzählt wer-
den soll, mit ihren Kommentaren voran-
treiben. Maradona interviewte er insge-
samt fünfmal, es ist ziemlich mutig und
auch dickköpfig, kein einziges Bild zu zei-
gen von seinen Treffen mit dem alten,
kranken Maradona.
Kapadia recherchiert wie ein investiga-
tiver Journalist, fast wie ein Detektiv. Ei-
gentlich ist er ein klassischer Filmemacher,
der fiktive Stoffe inszeniert. Nach der Ge-
burt seines Sohnes wollte er lieber zu Hau-
se in London sein als wochenlang auf
Dreharbeiten irgendwo in der Welt. So
kam er auf die Idee, einen Dokumentar-
film über Ayrton Senna zu machen. Er hat-
te keine Ahnung, wie so etwas geht, aber
er hatte eine Vorstellung davon, wie es aus-
sehen sollte: das authentische Filmmaterial
so zu benutzen, als würde man einen
Holly woodfilm schneiden. Bilder sollten
die Geschichte erzählen, nicht die Worte
irgendwelcher Zeugen.
Fünf Jahre brauchte Kapadia für seinen
Film über Senna. Fünf Jahre, in denen er
nach Originalmaterial suchte, Interviews,
privaten Aufnahmen, in Archiven, bei
Fernsehsendern, fünf Jahre, in denen er
mit dem damaligen Formel-1-Chef Bernie
Ecclestone um die Rechte feilschte.
Warum musste Senna auf der Rennstre-
cke sterben? Wie konnte es sein, dass Wine -
house vor unser aller Augen den Junkietod
starb? Wie nur endete Maradona im Zu-
stand der vollständigen Selbstaufgabe?
Das waren die Fragen, mit denen sich Ka-
padia auf die Suche nach Material machte,
Fragen, die er in seinen Filmen beantwor-
ten wollte.
Im Falle Maradonas hatte Kapadia ge-
hört, dass es Aufnahmen gebe aus seiner
Zeit in Neapel. Maradonas erster Spieler-
berater, der Argentinier Jorge Cyter szpiler,

* »Diego Maradona« startet am 5. September im Kino.

Als Fußball noch dreckig war


KinoDer preisgekrönte britische Regisseur Asif Kapadia erzählt von den tragischen Helden der


Popkultur. In seinem neuen Film beschäftigt er sich mit Diego Maradona,
dem Fußballer, der sein Leben schon lange verloren hat – aber immer noch nicht aufgibt.

GODONG / BRIDGEMAN
Neapolitanischer Maradona-Schrein
Der Retter war erschienen
Free download pdf