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ch war zwei Wochen in Brandenburg, jetzt bin ich zurück
in Israel. Die Unterschiede zwischen beiden Ländern
verwischen. Wenn ich morgens die Augen aufmache,
weiß ich nicht genau, wo ich bin. Klar ist nur: Es gibt bald
Wahlen. Und es ist sehr heiß.
Am Strand von Tel Aviv lagen, als ich abfuhr, fußballgroße
Quallen herum, massenweise. Am Ufer meines Sees in Bran-
denburg gab es, als ich dort ankam, tote Muscheln, ebenfalls
viele. Ein israelischer Meeresbiologe sagte mir gerade, die
Quallen seien für ihn eine gute Nachricht, weil sie die Strand-
gänger auf die Probleme stoßen, die ihr Meer habe. Ein
Grund für die sogenannte Quallenpest sei der erhöhte Nähr-
stoffgehalt im Mittelmeer. Der wiederum hänge mit den
zunehmenden Unwettern im Winter zusammen. Außerdem
verstopfen die Quallen die Kühlsysteme der Kraftwerke. Es
gibt inzwischen Haie, die sich im Winter im warmen Kraft-
werkswasser tummeln. Alles fällt auseinander. Als ich ein
Kind war, sah ich überhaupt keine Muscheln an meinem See
im Wald und nun nur
noch tote.
Die deutschen Fern-
sehnachrichten wirkten
auf mich wie der Disco-
very Channel. Bienen,
Kühe, der sterbende
Wald, unglückliche Bau-
ern. Jeden Abend die -
selben Bilder. Trump,
Chemnitz und dann:
Hühner, Schafe und der
Borkenkäfer.
Es ist die große Stunde
der Umweltredakteure
im Fernsehen. Vor ein
paar Jahren erfand man
dort den Terrorismus -
experten. Ein seriös aus-
sehenden Mann, den
man aus dem Ärmel
zieht, wenn man nicht
mehr weiterweiß. Jeder
Sender schaffte sich einen Terrorexperten an. Jetzt kommt der
Umweltexperte. Sie kaufen ein wenig Zeit, mehr können sie
nicht tun. Der Umweltmann vom ZDF hat einen weißen
Schnurrbart. Ich habe nachgeguckt, es gibt ihn seit den Neun-
zigerjahren. So stelle ich mir das vor: Jetzt, da es immer heißer
wird, haben sie ihn geweckt. Sie schickten einen Praktikanten
los, der durch die ZDF-Flure rannte und schließlich die Tür
fand, hinter der ein Mann im Halbdunkel saß. Sie schickten
den Mann in die Maske. Wenig später stand er vor einer vir-
tuellen Weltkugel im »heute journal« und erklärte, was los
ist mit den Waldbränden und dem Insektensterben.
Am nächsten Tag rief ich den Mann an, der in meinem
Brandenburger Landkreis für die Seen zuständig ist. Ich sagte
ihm, dass tote Muscheln an dem See lägen, in dem ich bade,
seitdem ich ein Kind war. Jajaja, sagte der Seenexperte. Er
murmelte etwas vom Nährstoffgehalt wie der Meeresbiologe
aus Netanja.Außerdem sei der Wasserspiegel gesunken, sagte ich, be-
stimmt einen halben Meter.
»Das ist so«, sagte der Mann. »Im Winter haben wir dann
wieder mehr Wasser.«
»Als ich ein Kind war, ging das Wasser im Sommer nicht
um einen halben Meter zurück«, sagte ich.
»Wie alt sind Sie denn?«, fragte der Experte.
»Schon älter«, sagte ich.
»Sehen Sie«, sagte er.
Vermutlich hatte er pausenlos besorgte Berliner am Tele-
fon, die ihm vom Wasserrückgang und Ausschlag nach dem
Baden berichteten. Er empfahl mir, historische Karten zu
studieren. Ich lud die Karten herunter, eine war aus dem- Jahrhundert. Der See sah etwa so aus wie heute. Ich fühlte
mich wie ein Querulant. Als ich jetzt in Tel Aviv ans Meer
ging, waren die Quallen verschwunden. Die Strandgänger
machen weiter wie bisher. Vor allem die arabischen Strand-
gänger lassen ihren Müll gern am Strand zurück. In Jaffa gibt
es Abschnitte, wo die Juden baden, und welche, wo eher
Araber baden. Auch die orthodoxen Juden lieben Plastik -
tüten. Je traditioneller die Menschen sind, desto weniger
scheinen sie sich für Mikroplastik im Meer zu interessieren.
In der Nacht kommen schwarze Reinigungsarbeiter und ma-
chen alles weg.
Ein großes Problem sind Windeln in Israel. Wegwerfwin-
deln sind nur aufwendig recycelbar. Sie sind so etwas wie
Atommüll. Sie werden in der Wüste vergraben. Es gibt immer
mehr Kinder. Auch hier
haben die Traditionalis-
ten unter Juden und Mus-
limen die Nase vorn. Sie
denken, wer die meisten
Kinder hat, gewinnt die
Schlacht ums Land. Ir-
gendwann werden sie auf
einem riesigen, stinken-
den Windelberg sitzen
und streiten. Sie werden
nicht mehr wissen, wo-
rum es eigentlich ging.
Nur, dass es noch nicht
vorbei ist.
Wenn man Araber
und Juden durch Ostler
und Westler ersetzt, weiß
man auch gleich, wie es
um die deutsche Einheit
steht.
Vor ein paar Wochen
lief ich mit meiner Frau
am ara bischen Teil des Strandes an einem Mann vorbei, der
seine Zigarettenschachtel wegwarf. Einfach so. Wir fragten,
warum er das mache. Die Schachtel sei leer, sagte er. Eine
verblüffend klare Antwort. Er zuckte mit den Schultern,
lächelte aber und hob die Schachtel wieder auf. Ich nickte.
Ich wusste, dass er sie gleich wieder wegwerfen würde. Ich
war irgendein Fremder, der keine Ahnung von seinen
Problemen hatte. Ein Nichtraucher, der am Strand, an dem
das Volk des Mannes seit Tausenden Jahren lebte, gute
Ratschläge verteilte. Ich hätte ihm auch sagen können, dass
er nicht rauchen sollte. Und aufhören sollte, Chips zu essen,
wegen der schlechten Fette. Ich hätte das gern gemacht,
aber ich ahnte, wie er sich fühlte. Ich bekomme seit
30 Jahren Ratschläge von Leuten, die es sich leisten kön -
nen. Irgendwann gehört man dann selbst zu ihnen, den
Experten.
Ich glaube, der Ostler an sich ist gar nicht so kompliziert.
Windelberge
LeitkulturAlexander Osang über die angesagte
Spezies der UmweltexpertenDER SPIEGEL Nr. 36 / 31. 8. 2019
GesellschaftALEXANDER OSANG / DER SPIEGEL
Strand bei Tel Aviv