Der Spiegel - 31.08.2019

(lily) #1

celo groß rausbringen wollte. Mehrere
Zehntausend Euro investierte der Fußbal-
ler allein in ihre Instrumente. Er zahlte Ar-
rudas Flüge, besorgte ihm Klamotten und
steckte ihm wie allen anderen ein monat-
liches Taschengeld von 1000 Euro zu. Da-
für spielte Arruda Musik für ihn. Vor allem
aber war er nach dem Abpfiff Marcelos
Zechkumpan.
Arruda muss schmunzeln.
»Was für ein Film«, sagt er.
»Marcelo liebte es, verrückte Wetten zu
erfinden. Einmal waren wir aus, im Taba
oder Ipanema, wie immer nach den Spielen.
Ich war 16, und Marcelo stellte 20 kleine
Tequilagläser auf die Theke, daneben legte
er einen 500 Euro Schein. Wenn du die
trinkst, dann ist das deiner, sagte er. Als ich
später mit dem Schein in der Tasche aus
dem Klub torkelte, brach ich zusammen.
Die anderen brachten mich nach Hause, ich
schlief mich aus, aber am nächsten Morgen
war ich so verkatert, dass ich einen Auftritt
mit der Band ab sagen musste. Marcelo sag-
te, dass er für mich trommele. Am Abend
übergab er mir die Gage für den Gig.«
Ein anderes Mal stellte Marcelo seine
Kumpel bei zehn Grad minus nackt auf
den Balkon. Er selbst stand drinnen und
wedelte mit einem Schein, den derjenige
erhielt, der es am längsten aushielt.
Bei Hertha sahen sie meistens über all
das hinweg, weil Marcelinho auch mit Ka-
ter besser spielte als die anderen.
Marcelos Frau, die häufig abgeschüttelt
wurde wie ein lästiger Verteidiger, wenn
ihr Mann an der Bar ein hübsches Mäd-
chen sah, glaubt, er habe nachgeholt, was
er als Kind entbehrt hatte. Er leistete sich
vergoldete Schnürsenkel für 4500 Euro
und Uhren für 18 000 Euro.
Es gab Zeiten, da bedeutete ein Stück
Fleisch auf dem Teller Luxus. Das Viertel
José Pinheiro, in dem Marcelo aufwuchs,
besteht aus ein paar schattenlosen Straßen,
durch die auch heute noch die Pferdekar-
ren ziehen. Viele der einfachen, zweistö-
ckigen Häuser gehören seinen Freunden,
sie gehören seinen Schwestern oder Tan-
ten oder den Müttern der vier Kinder, die
er in den Sommer- oder Winterpausen au-
ßerehelich zeugte, während sie bei Hertha
auf seine Rückkehr warteten. Marcelo hat
sie ihnen geschenkt. Viele, hört man, hät-
ten sie längst zu Cash gemacht, genauso
wie die Autos, die Marcelo ihnen kaufte.
Fünf Jahre lang ging Marcelo hier zur
Schule. Danach half er seinem Vater, der
nach einer bescheidenen Karriere als Fuß-
ballprofi als Anstreicher arbeitete, beim An-
rühren der Farben. Er trug fremden Leuten
für ein paar Münzen die Tüten über den
Markt, und wenn alles nichts half, dann bet-
telte er. Von seinem ersten Gehalt als Profi
schaffte seine Mutter einen Kühlschrank an.
Marcelos Eltern wohnen immer noch in
der Gegend. Sein Vater Pedro ist ein drah-


tiger, 66-jähriger Mann. An einem Nach-
mittag sitzt er in dem engen Innenhof hin-
ter der Küche und erzählt, dass er am sel-
ben Tag, an dem Marcelo auf die Welt
kam, das erste Tor im damals neu gebau-
ten Stadion erzielte. Wenn Marcelo dort
am Samstag zum vielleicht letzten Mal den
Rasen betritt, schließt sich ein Kreis.
Während seine Frau für längere Zeit bei
Marcelo in Berlin lebte, blieb Pedro in
Campina Grande. Nur zweimal war er zu
Besuch in Deutschland. Irgendetwas fühlte
sich für ihn nicht richtig an. »Marcelo«,
sagt er, »hat ein gutes Herz. Da kletteten
so viele Blutsauger an ihm, ich habe das
nicht ausgehalten. Wenn ich ihn darauf an-
sprach, stand er auf und ging.«
83 000 Euro netto verdiente Marcelo
damals im Monat – es muss ihm so vor -
gekommen sein, als würde er wie Onkel
Dagobert in einem großen Becken voller
Goldstücke baden. Was Marcelo fehlte im
Rausch dieser Jahre, war ein Gespür dafür,
wie kurz das Leben als Fußballprofi ist.
Erst heute, glauben viele, müsse sich der
Fußball für ihn anfühlen wie harte Arbeit.

Es gibt einen zweiten Fußballspieler aus
José Pinheiro, der es zu Ruhm gebracht
hat. Hulk war in Porto, in Sankt Petersburg
und verdient seine Millionen heute in
Shanghai. Er legt sie in Immobilien an und
investiert in den Bau einer Hotelanlage
am Atlantik. Wenn man sich mit Hulk in
einem Restaurant treffe, sagt Marcelos An-
walt Alfonso Vilar, dann bestehe er darauf,
dass jeder selbst sein Essen zahle. Marcelo
übernahm immer die gesamte Rechnung.
Seine Zeit bei Hertha endete 2006, als
er seinen Sommerurlaub ungefragt um
zehn Tage verlängerte. Dem Manager
Hoeneß gingen die Argumente aus, er ver-
kaufte Marcelinho in die Türkei. Wenig
später schlug der Brasilianer kurz in Wolfs-
burg auf, ehe er mit 33 Jahren zurück in
die Heimat ging.
Anfangs, in der ersten Liga, verdiente er
noch gut, aber dann wurden die Ligen
schwächer und die Vereine klammer. Viele
Freunde begriffen nun, dass die Kuh gemol-
ken war. Einer nach dem anderen ver-
schwand aus seinem Leben. Was blieb, war
der immer gleiche Rhythmus aus Training,
Hotels und Spielen, der Alkohol und die
Mädchen. Als Marcelo einer dieser Frauen
auf einer Party in die Lippen biss, erstattete
sie Anzeige wegen versuchter Vergewalti-
gung. Sein Anwalt boxte ihn raus, er wurde
freigesprochen. Dann klagte die Mutter sei-

nes jüngsten Sohnes bei Gericht angeblich
ausstehende Unterhaltszahlungen ein. Als
ein Haftbefehl erging, tauchte Marcelo eine
Weile unter. Sein Anwalt sagt, er habe stets
pünktlich gezahlt, nur leider in bar, weshalb
die Belege fehlten.
Im Frühjahr 2017 kamen noch einmal
fast 30 000 Fans ins Berliner Olympiasta-
dion, um ihm bei seinem offiziellen Ab-
schiedsspiel zu huldigen. Eigentlich hatte
Marcelo gehofft, dass dieses Event ein we-
nig Geld in seine Kasse spülen würde, aber
bevor er seinen Anteil ausbezahlt bekam,
ging der Veranstalter pleite.
Als er schließlich glaubte, tiefer könne
er nicht fallen, streikte sein Körper, das
einzige Kapital, auf das er sich immer ver-
lassen konnte. Über all die Jahre hatte
Marcelo sich nie schwerer verletzt, aber
dann stand an einem Märzabend 2018
plötzlich eine Flasche Whisky auf dem
Tisch. Drei durchzechte Nächte lagen hin-
ter ihm, als Marcelo einen Kumpel anblick-
te und sagte: Wetten, dass ich keine Stunde
brauche, um die Flasche auszutrinken? Als
er sie leer hatte, spürte er plötzlich ein
Kribbeln in der linken Hälfte seines Ge-
sichts. Das Sprechen fiel ihm schwer. Este-
la brachte ihn ins Bett, aber am Morgen
lallte er noch immer. Die Bilder, die die
Ärzte im Krankenhaus von seinem Gehirn
anfertigten, zeigten einen Fleck.
Marcelo hatte einen leichten Schlag -
anfall erlitten. In den meisten Fällen blei-
ben Schäden, aber er hatte Glück. Nach
21 Tagen stand er wieder auf dem Trai-
ningsplatz. Wenig später trank er wieder,
aber war nicht mehr derselbe.
»Ich kann nicht mehr«, sagte er einmal
am Dönerstand, als Arruda ihn zu einer
Karnevalsparty einladen wollte.
»Mein Körper hat mir ein Zeichen ge-
schickt«, sagt Marcelo, als er am Donners-
tag nach dem Training in einem weißen,
gebügelten Hemd am Steuer seines Wa-
gens sitzt und Richtung Kirche rast. Aus
dem Radio scheppern religiöse Lieder, die
er und Estela mitsingen.
Der Pastor, sagt er, sei der Großvater
eines seiner unehelichen Söhne. Bei einem
Besuch zu Weihnachten erzählte Marcelo
ihm, dass seine älteste Tochter unter De-
pressionen leiden würde. Der Pastor lud
sie in die Kirche ein, wo er immer wieder
für sie betete. Als Marcelo merkte, dass
es ihr langsam immer besser ging, belegte
er den ersten Bibelkurs. Heute fährt er
dreimal in der Woche in die Messe, wo er
stundenlang auf einem Plastikstuhl kauert
und dem Pastor zuhört.
Die in einem blauen, garagenartigen
Bau untergebrachte Assembleia de Deus
ist eine dieser zahllosen Freikirchen, die

* Mit Ehefrau Estela im Businesshotel, Straße im Viertel
José Pinheiro, Marcelinho mit Fans in Campina
Grande.

84 DER SPIEGEL Nr. 36 / 31. 8. 2019


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»Jetzt bin ich für
die Welt gestorben
und in Jesus
wiederauferstanden.«
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