Mittwoch, 21. August 2019 SCHWEIZ
Städter machen sich die Hände dreckig
Mitglieder von Kooperativen helfen mit beim Anbau von Tomaten und Rüebli für ihr Gemüse-Abo – ein Besuch am Rand von Zürich
CHRISTOF FORSTER
Der Sommerregenkommt unerwartet
ausgiebig. Die Giesskanne bleibt in der
Werkstatt.EineFrau erntet und wäscht
Zucchetti, macht sie bereit zurAus-
lieferung. Ein Kind pflanztSetzlinge
um. Zwei Männerräumen nicht mehr
benötigtes Material weg.An norma-
len Arbeitstagen sitzen diese Leute im
Büro vor dem Bildschirm. Als Mitglie-
der derKooperative «Meh als Gmües»
in ZürichAffoltern verpflichten sie sich
zurArbeit auf demFeld,an mindestens
fünf Halbtagen proJahr. Die Genos-
senschafter zahlen zudem 900Franken
pro Jahr und erhalten dafür jedeWoche
Gemüse.
«Meh als Gmües» funktioniert mit
viel Arbeit und wenig Kapital. Grosse
Maschinen und Stallungen gibt eskeine,
der Traktor ist vom Nachbarsbauern
ausgeliehen.Mit den Einsätzen der Mit-
gliederkommtein riesigesArbeitsvolu-
men zustande.
Trotz Boom kleineNische
Gemüsekooperativen gibt es in der
Schweiz zwar schon lange, doch seit ei-
nigenJahren erleben sie einen Boom.
Einige produzieren mittlerweile auch
Fleisch, Eier oder Mehl.Das älteste
noch bestehende Projekt sind die 1978
in Genf gegründetenJardins de Cocagne
(Schlaraffengärten) des BündnersRaeto
Cadotsch. Die Idee,Konsumenten und
Produzenten von Nahrungsmitteln nä-
her zusammenzubringen,breitete sich in
den 1980er Jahren langsam aus, zuerst in
derWestschweiz.In der Deutschschweiz
ist die solidarische Landwirtschaft, wie
sie auch genannt wird,erst vor zehnJah-
ren richtig angekommen.
Tina Siegenthaler ist Gründerin der
Kooperative Ortoloco, die in Dietikon
Land bewirtschaftet. Sie sagt:«Nach der
Finanzkrise 2007 haben wir uns über-
legt , wie wir dieWirtschaftskreisläufe
anders gestalten können.» Inspiriert
durch einen«WoZ»-Artikel über die
Genfer Genossenschaft, gründete Sie-
genthaler mit Gleichgesinnten 2009 Or-
toloco. Auch inBasel, Bern,Winterthur
und anderenRegionen habenTeams
ihre Projekte umgesetzt. DerTrend hält
an: Derzeit suchen rund einDutzend
Initianten Genossenschafter undLand,
um starten zukönnen.
Doch dies gestaltet sich schwierig.
Die Zürcher Kooperative «Meh als
Gmües» hatte Glück:Sie erhielt von der
Stadt eine nicht mehr benötigte Gärtne-
rei zur Pacht.Weil die Fläche zu klein ist,
bewirtschaftet die Genossenschaft zu-
sätzlichesLand bei Biobauern. Einige
Kooperativen versuchen derzeit, einen
ganzenBauernhof zu betreiben, wie
dies derRadiesli-Hof bei Bern schweiz-
weit als erster gemacht hat. Doch ob-
schon die Zahl derBauernhöfe sinkt,
sind sie schwer zu erwerben. Oft blei-
ben die ehemaligenLandwirte im Haus
wohnen und verpachten dasLand an
bestehende Höfe. Heute erhalten in der
Schweiz schätzungsweise 30000 Leute
ihr Gemüse von rund 60Kooperativen.
Es bleibt eine kleine, von konventionel-
len Bauern belächelte Nische.
Mit einer handbetriebenenRadha-
cke rückt der GärtnerFrank Meissner
dem Unkraut imRandenfeld zu Leibe.
«Ich wende für die Unkrautbeseitigung
rund 40 ProzentmeinerArbeitszeit auf»,
sagt Meissner.Er und zwei Praktikantin-
nen sind die einzigen Angestellten der
Kooperative. Meissner bringt vielWis-
sen und grosse Erfahrung in derLand-
wirtschaft mit und spielte eine wichtige
Rolle imAufbau der 2015 von Bewoh-
nern des Hunzikerareals gegründeten
Genossenschaft.
Bei den «Meh als Gmües»-Mitglie-
dern ist so gut wie jedes Alter vertre-
ten, von Kindern, die mit ihren Eltern
aufs Feld kommen, über Studenten bis
zu Rentnern. Ein Grossteil der Mitglie-
der sind Akademiker, darunter zahlrei-
che Informatiker, die beiBanken arbei-
ten. «Ihnen geht es darum, neben der
kopflastigen Arbeit etwas ganzKonkre-
tes zu machen», sagt Meissner.
Man muss ni cht den Kapitalismus ab-
schaffen wollen, um bei einer Gemüse-
genossenschaft mitmachen zukönnen.
Dennoch:Kritikan derWirtschaft und
am Wachstumsstreben ist unter den Ge-
nossenschaften weit verbreitet.Ortoloco
schreibt auf derWebsite, sie sehe sich
als «Labor fürWirtschaftsexperimente»
und stelle die «Unvermeidbarkeit von
Kostendruck, Konkurrenzkampf und
Wachstumszwang» infrage.
Meissner sagt, Gemüsekooperati-
ven erzielten zwar weniger Ertrag pro
Quadratmeter alskonventionelle Be-
triebe. «Doch unter dem Strich ist das
die produktivereLandwirtschaft – dank
geringeremWasserverlust und besseren
Böden.» Eine Absolventin der Zürcher
Hochschule für AngewandteWissen-
schaften kam sogar zu dem Schluss, dass
derAnteilan Lebensmitteln, der auf den
Tellern derKonsumenten landet,grös-
ser ist als bei herkömmlich wirtschaften-
den Betrieben, weil alles Geerntete – in-
klusive krummerRüebli – verteilt wird.
Die Genossenschafter von «Meh als
Gmües» sind überzeugt,dass die heutige
industrialisierteLandwirtschaftkeine
Zukunft hat. Die Leute würden das
eigeneVerhalten vermehrt hinterfra-
gen, sagt Meissner: «Muss ich das ganze
JahreTomaten und Gurken essen?Will
ich Gemüse aus anderenKontinen-
ten oder aus meinerRegion?» Mit der
Klimadebatte rückt auch die Nachhal-
tigkeit beim Essen in denFokus.Viele
Mitglieder erleben es als erfüllend, sich
ein paarmal imJahr die Hände dreckig
zu machen.Andere sehen in derKoope-
rative eine Absicherung gegen befürch-
tete Nahrungsmittelengpässe. Wieder
andere suchen denKontakt zu neuen
Leuten.Viele Genossenschaften veran-
staltenKonzerte undPodien.
EineArtVersuchslabor
Da der Betrieb mittlerweile auf festen
Füssen steht, will sich «Meh als Gmües»
weiterentwickeln und zu einemVer-
suchslabor für eine nachhaltigeLand-
wirtschaft der Zukunft werden.Das
Ziel sei eine agroökologischeLandwirt-
schaft, die über die Standards des Bio-
landbaus hinausgehe, sagt Meissner.
Mankönne das ganzeJahr Bioavoca-
dos kaufen, aber dies sei nicht ökolo-
gisch.Der Gärtner macht ersteVersuche
auf einem StückLand, wo er Gemüse
neben Obst anbaut. DieVersuchsfläche
sieht schön aus und bietet Lebensraum
für Insekten. DieBäume schützen den
Boden vor Erosion und sorgen für ein
ausgeglichenes Mikroklima. Seine Idee
erhältRückenwind von derForschung:
Auch der jüngst publizierte Bericht des
Weltklimarats empfiehlt eine nachhal-
tige Landbewirtschaftung, etwa mit
Mischkulturen, um derVerschlech te-
rung der Böden vorzubeugen.
Um ihre Idee von nachhaltigerLand-
wirtschaft umsetzen zukönnen,sucht
die Kooperative«Mehals Gmües» zu-
sä tzlichesLand. Auf einemTeil würde
Gemüse angebaut, auf anderen Flächen
gezielt der Boden verbessert. Sie legt
ihre Hoffnung auf die Stadt, dieLand-
reserven hat und die in ihrer neuen Er-
nährungsstrategie auch auf alternative
Landwirtschaftsmodelle setzt.
Einstweilen ernten die Genossen-
schafter ihr Gemüse noch auf dem an-
gestammtenFeld und bereiten dieAus-
saa t für den Spätherbst vor. Damit im
NovemberKürbis undRosenkohlstatt
Avocados auf ihrenTellern landen.
Pioniere in Japan und der Schweiz
For.·Kooperativen sind mehr als ein
Gemüse-Abo.Beim reinen Gemüse-
Abo geben die meist einjährigenVer-
träge den ProduzentenPlanungssicher-
hei t. Was sie anbauen, findet garantiert
Abnehmer. Damit wird die Lebensmit-
telverschwendungreduziert. Es verrot-
ten keine Salate auf demFeld, weil der
Marktpreis zu tief ist. Die Konsumen-
ten erhalten saisonales Biogemüse aus
der Region, das direkt vor die Haus-
türe geliefert oder in einem Depot ab-
geholt wird.Bei der solidarischenLand-
wirtschaft, wieKooperativen auch heis-
sen, ist der Bezug zum Gemüse noch
unmittelbarer, da dieKonsumenten bei
der Produktion mithelfen und bei der
Wahl der Gemüsesorten mitredenkön-
nen.Gemeinsam ist den beidenFormen,
dass sie ohne Zwischenhandel funktio-
ni eren. Die ersten Gemüse-Kooperati-
ve n entstanden in den1970er Jahren in
Japan und in der Schweiz. Mittlerweile
hat die Idee in ganz Europaund in den
USAFuss gefasst.
Inzwischen gibt es auchkooperative
Läden, inspiriert vonLa Louve inParis
und demPark SlopeFood in NewYork.
Sie basieren auf den gleichen Ideen wie
dieVertragslandwirtschaft:Wer dort ein-
kaufen möchte, wird Genossenschafter
und leistet Arbeitseinsätze.
Säen, Setzlinge umpflanzen, ernten undwaschen–Mitgliederder ZürcherKooperative «Meh als Gmües» legen für ihr Grünzeug selbst Hand an. GärtnerFrank Meissner hilftihnen dabei. BILDER JOËL HUNN / NZZ