Neue Zürcher Zeitung - 21.08.2019

(John Hannent) #1

Mittwoch, 21. August 2019 INTERNATIONAL 3


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Durchbruch für Asad in Idlib


Die Aufständischen ziehen sich aus Khan Sheikhunzurück, wo das Regimeein Giftgas-Massaker verübt hat


INGAROGG


Syrische Bodentruppen sind am Diens-
tag in die symbolisch wie strategisch
wichtige Stadt Khan Sheikhun vorge-
drungen. Nach wochenlangen Luft- und
Bodenangriffen gaben dieAufständi-
schen die Kleinstadt im Süden der Pro-
vinz Idlib auf. Mit ihnen flohen Zehn-
tausende von Zivilisten aus Khan Shei-
khun. Zwar leisteten dieRegimegegner
im Süden der Stadt nochWiderstand,
doch ihre Niederlage ist angesichts der
anhaltenden Luftangriffe des syrischen
Regimes und seines russischenVerbün-
deten nur noch eineFrage der Zeit.


Aufständische eingekesselt


Sollte es demRegime gelingen, Khan
Sheikhun definitiv unter seine Kon-
trolle zu bringen, wäre dies einDurch-
bruch fürDamaskus. Damit wären die
Aufständischen in den Gebieten, die sie
weiter südlich nochkontrollieren, ein-
gekesselt. Und sie wären von der strate-
gisch wichtigenVerbindungsstrasse ab-
geschnitten, die von Aleppo über Zen-
tralsyrien nachDamaskus führt.Dar-
über hinaus ist Khan Sheikhun ein
Symbol für denAufstand gegen den
MachthaberBashar al-Asad – und es ist
ein Symbol für dessenVerbrechen.
Vor fünfJahren vertrieben dieAuf-
ständischen die syrischenTruppen aus
der Kleinstadt. In einemVersuch, sie
den Rebellen zu entwinden, verübte
das Regime imFrühjahr vor zweiJah-
ren eines der schlimmsten Giftgas-
angriffe. Der Angriff am 4. April 20 17
fordertemehrals 80Tote und Hunderte
von Verletzten. Eine Untersuchung von
Uno-Experten bestätigtespäter, dass
das Regime dabei Sarin, eines der ver-
heerendsten Giftgase weltweit, einge-
setzt hatte.Als Vergeltung befahl der
amerikanischePräsident Donald Trump
damals die Bombardierung einer nahe


gelegenen syrischen Luftwaffenbasis.
Asad hat immer klar gemacht, dass er
ganzSyrien wieder zurückerobern will


  • egal, um welchen Preis. Khan Shei-
    khun liegt jedoch mitten in der ent-
    militarisierten Zone, auf die sichRuss-
    land und dieTürkei im September 20 18
    einigten.Aber diese besteht seit länge-
    rem nur noch auf demPapier. Unter-
    stützt vonder russischenLuftwaffe star-
    tete dasRegime Ende April eine Of-
    fensive auf dieRegion. Zwar wurden
    immer wiederWaffenstillstände ver-
    einbart, doch waren diese jeweils nur
    von kurzerDauer. Der letzte brach
    vor rund zweiWochen zusammen. Seit-
    dem hat dasRegime systematisch die
    Umgebung von Khan Sheikhun bom-
    bardiert. Immer wieder behaupteten
    Rebellen,dass dasRegime bei der Of-
    fensive von Milizionären unterstützt
    wird, die unter IransKommando ste-
    hen. Belege dafür sind bisher allerdings
    keine aufgetaucht.
    Moskau hat dagegen eingeräumt,
    dass es auch mit eigenen Bodentrup-
    pen an den Kämpfen beteiligt ist.Da-
    bei dient denRussen die Präsenz der


Extremisten alsVorwand. Ein Grossteil
von Idlib, allen voran die Gebiete ent-
lang denFrontlinien, werden von Hayat
Tahriri al-Sham (HTS),einem Zusam-
menschluss aus dem Umfeld der syri-
schen Kaida, und anderen Jihadisten-

gruppen beherrscht.Diese haben immer
wiederden russischen Luftwaffenstütz-
punkt Hmeimimangegriffen und damit
ihrerseits gegen die russisch-türkische
Vereinbarung verstossen. Angesichts
der Eskalation in denletztenTagen for-
derte der französische Präsident Emma-
nuel Macron seinen russischen Amts-

kollegen Wladimir Putin am Montag
auf,die Waffenstillstandsvereinbarung
«dringend umsetzen».Washington äus-
serte ebenfalls Kritik amVorgehen des
Regimes und seinerVerbündeten.
Die Regierung in Moskau beein-
druckte das offensichtlich wenig. Für
das, was jetzt in Idlib geschehe, seien die
Extremisten verantwortlich,die ihre An-
griffe nicht eingestellt hätten, sagte der
russischeAussenminister Sergei Lawrow
laut russischen Medienberichten. Dabei
äusserte er auch offen Kritik an derTür-
kei. Das türkische Militär habe die An-
griffe der«Terroristen» nicht verhindert.
Die Türkei hat in der Pufferzone
zwölf Beobachterposten errichtet.Für
einen dieserPosten schickte das tür-
kische Militär nach eigenen Angaben
am Montag Verstä rkung. Die syrische
Luftwaffe bombardierte denKonvoi
jedoch in der Gegend von Khan Shei-
khun. Nach der faktischen Einnahme
der Stadt durch syrischeTruppen liegt
der Beobachterposten jetzt abgeschnit-
ten mitten auf vomRegimekontrol-
lierten Gebiet. Evakuieren will Ankara
die Soldaten aber nach eigenen An-

gaben nicht. «DasRegime sollte nicht
mit demFeuer spielen», sagte der tür-
kischeAussenminister Mevlüt Cavu-
soglu am Dienstag. Die Türkei werde
alles tun, um die Sicherheit ihrer Sol-
daten zu garantieren.
Ankara unterstützt in Nordwest-
syrien einRebellenbündnis mitWaffen.
Auf eineKonfrontation mit demRegime
will es der türkische PräsidentRecep
Tayyip Erdogan aber nicht ankommen
lassen. Sein wichtigstes Anliegen ist es
vielmehr eine Massenflucht in Richtung
der eigenen Grenze zu verhindern.Da-
bei ist er auf dasWohlwollen von Mos-
kau angewiesen. Statt einer Grossoffen-
sive auf Idlib, die viele vor Monaten be-
fürchteten,nehmen sich dasRegime und
seinerVerbündeter dieAufständischen-
hochburg schrittweise vor. Dabei haben
sie auch ihreTaktikverändert.
St att der grossflächigen Bombarde-
ments auf zivile Ziele, nehmen sie ein-
zelne Orte unter Beschuss. Dabei ist
Damaskus auch bereit, hoheVerluste
unter den eigenenTruppen hinzuneh-
men. Schätzungenvon unabhängigen
Beobachtern zufolge wurden seit Be-
ginn derOffensive seit April um die
2000 Soldaten getötet. DieVerluste der
Aufständischen sind nach Angaben aus
ih rem eigenen Umfeld mindestens ge-
nauso hoch. Selbst das HTS-Bündnis,
dessen Kämpfer unter allenRebellen
in Idlib über die meiste Erfahrung ver-
fügen und die den Kampf um Khan Shei-
khunanführten,kann solche Schläge auf
Dauer nichtkompensieren.

Kein Ausweg für Zivilisten


Für die Zivilbevölkerung ist das poli-
tische Tauziehen zwischen Ankara
und Moskau, aber auch die notorische
Schwäche der von derTürkei unterstütz-
ten Rebellen fatal. Obwohl die meis-
ten die HTS-Radikalen verabscheuen,
haben sich viele hinter sie gestellt, weil
sie im Grunde genommen die Einzi-
gen waren, die sie vor einem drohen-
den Rachefeldzug von AsadsTruppen
bewahrten. Nach demFall von anderen
Rebellenhochburgen imRest desLan-
des in den letztenJahren, suchten Hun-
derttausende vonVertriebenen in der
Provinz Idlib Zuflucht.Aus Khan Shei-
khun wurde so aus einer Kleinstadt eine
Grossstadt.Nach Angaben von Hilfs-
organisationen flohen in den letzten fünf
Monaten bereits mehrere Hunderttau-
send von Zivilisten aus dem Süden von
Idlib in Richtung Norden in Gebiete
nahe derTürkei.Doch die Grenzen zum
Nachbarland sindgeschlossen.

Eine Stadt inTrümmern: Khan Sheikun am 5.August. MOUNEBTAIM / ZUMA/ IMAGO

Boris Johnson im Backstop-Dilemma


London besteht beim Brexitauf einer neuen Notfalllösung für Irland und handelt sich damit innenpolitische Probleme ein


BENJAMIN TRIEBE, LONDON


DerneuebritischePremierministerBoris
Johnson hat zum ersten Mal seine Bre-
xit-Forderungen gegenüber der EU offi-
ziellabgestecktundfindetsichgleichzwi-
sche n de n Fronten wieder. Sein in einem
Brief an EU-Ratspräsident DonaldTusk
ausgedrücktes Anliegen, den sogenann-
ten irischenBackstop aus dem von sei-
ner AmtsvorgängerinTheresa Mayaus-
gehandeltenVertrag zum EU-Austritt
zu streichen, wird gänzlich verschie-
den interpretiert: Der EU und auch der
Republik IrlandgehtderVorstoss viel zu
weit, den Hardlinern im britischen Bre-
xit-Lager längst nichtweit genug.
Neuwahlen in Grossbritanniengelten
als immer wahrscheinlicher. Bei einem
UrnengangwirdderErfolgvonJohnsons
KonservativerParteientscheidenddavon
abh ängen, ob es ihr gelingt, die Brexit-
Partei desPopulisten NigelFarage im
Zaumzuhalten.Sietrittfüreinenschnel-
len, harten und bedingungslosen Schnitt
mit der EU ein undkonnte so bereits
zahlreicheWähler von denTories abwer-
ben.Am Dienstag begrüssteAnnunziata


Rees-Mogg,ein führenderKopf der Bre-
xit-Partei, zwarJohnso ns Brief anTusk –
aber derBackstopseilängstnichtdasein-
zige Problem. Der gesamte Scheidungs-
vertrag sowie die politische Erklärung, in
der das künftigeVerhältniszur EU skiz-
ziertist,sei nicht akzeptabel.

Eine Alternative zur Alternative


Allerdings ist derBackstop das grösste
von allen Problemen, die viele gemäs-
sigte Brexit-Befürworter derTory-Par-
tei mit demAustrittsvertrag haben.John-
son wird deshalb am Mittwoch beieinem
Antrittsbesuch in Berlin versuchen,
Kanzlerin Angela Merkel seinePosi-
tion darzulegen. Dieselbe Übung dürfte
er am Donnerstag beiFrankreichs Prä-
sident Emmanuel Macron wiederholen,
und auch amWochenende, wenner den
G-7-Gipfel in Biarritz besucht.
Der Backstop ist eine Notfalllösung,
die bei einem Scheitern künftiger Bre-
xit-GesprächeKontrollen an der inner-
irischen Grenze und so eine Gefährdung
des Friedensprozesses auf der Insel ver-
hindern soll. Manche Beobachter glau-

ben, Johnson habe trotz der Ablehnung
aus Brüssel die Hoffnung auf eineRe-
vision desBackstops noch nicht ganz
aufgegeben.Das liegt an dem kleinen,
wenn auch brüchigen Olivenzweig, den
sein Brief anTusk enthält:Johnsons er-
wähnt den bevorzugtenAlternativplan
der Brexit-Befürworter, durch neuartige
Überwachungstechnologien und weit
vorgelagerteKontrollpunkte denWa-
renfluss so eindeutig zu erfassen, dass
keine physischen Checks an der Grenze
nötig sind.Johnsonräumt ein,dass diese
Technologien nicht schnell genug exis-
tierenkönnten. Deshalb sei Grossbri-
tannien bereit, «konstruktiv und flexi-
bel» nach anderen Möglichkeiten zu su-
chen.Wie die aussehen sollen,ist jedoch
ebenso unklar.
Es gibt weitere Argumente, dass
Johnson tatsächlich daran gelegen sein
könnte, einenEnde Oktober drohen-
den No-Deal-Brexit zu vermeiden.Auch
der britischeRegierungschef hat ver-
sprochen, alles zu tun, um eine «harte»
Grenze auf der irischen Insel zu verhin-
dern.Das soll geschehen, indem Lon-
don bei einem chaotischen Brexitkeine

eigenenKontrollen inNordirland durch-
führt. Doch ein durchgesickertesRegie-
rungsdokument bestätigte amWochen-
endedie Einschätzung vieler Exper-
ten, dass diese unkontrollierte Ein- und
Ausreise nicht lange durchzuhalten sein
werde,sei es aus wirtschaftlichen, lega-
len oder sanitären Gründen.

Irland im Fokusder USA


Ausserdem muss Grossbritannien mit
erheblichem Gegenwind aus den USA
rechnen, falls es die Entstehung von
Grenzkontrollen auf der irischen Insel
provoziert. Irische Interessen haben in
Washington hohes Gewicht. Die Zu-
stimmung desKongresses zu einem
Freihandelsabkommen nach dem EU-
Austrittwurde von derSprecherin des
Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi,
explizitandieWahrungdesirischenFrie-
densprozesses geknüpft. Neben einem
Eklat mit der EU, wie ihn ein chaoti-
scher Brexit mit sich brächte, droht Lon-
dongleichzeitigvielKapitalbeiden dann
umso dringender benötigten amerikani-
schenVerbündeten zu verspielen.

Khan Sheikhun
ist ein Symbol für den
Aufstand gegen Asad –
und es ist ein Symbol
für dessenVerbrechen.

75 Kilometer NZZ Visuals/cke.

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