Neue Zürcher Zeitung - 21.08.2019

(John Hannent) #1

Mittwoch, 21. August 2019 INTERNATIONAL


Was kosten 400 Jahre Unterdrückung?

In den USA wird über die Frage vonReparationszahlungen für die Opfer vonSklaverei und Rassismus diskutiert – auchimWahlkampf


MERETBAUMANN,WASHINGTON


Jedesamerikanische Schulkind weiss,
dass die Geschichtedes Landes am



  1. Juli 1776 ihren Anfang nahm, als sich
    dreizehn britischeKolonien mit der Un-
    abhängigkeitserklärung vom Mutter-
    land lossagten und dieVereinigten Staa-
    ten gründeten. Eines der für Amerika
    prägendsten Kapitel begann aber schon
    gut 150 Jahre früher. DieserTage ist es
    exakt 400Jahre her, dass ein Schiff an
    der Küste derKolonieVirginia landete



  • mit mehr als 20 Afrikanern an Bord,
    die denKolonisten als Sklaven verkauft
    wurden. Es war der Beginn der Sklave-
    rei, von der auf dem Höhepunkt rund
    vier Millionen Afrikaner und Afro-
    amerikaner betroffen waren und um
    deren Fortbestand die junge Repu-
    blik einen blutigen Bürgerkrieg führte.
    Die «NewYork Times» widmete dem
    Datum das Projekt «1619», das in einer
    Serie von Artikeln die unterschiedlichs-
    ten Aspekte der Sklaverei beleuchtet.
    Ziel der Initiative ist nicht weniger, als
    die Geschichte der USA neu zu deuten

  • mit 1619 als eigentlichem Startpunkt.


EinkrassesWohlstandsgefälle


1865 endete die Sklaverei in denVerei-
nigten Staaten mit dem Sieg des Nor-
dens über die sklavenhaltenden Süd-
staaten und dem 13.Verfassungszusatz.
Doch es dauerte weitere 100Jahre, bis
auch die legale Ungleichbehandlung der
Schwarzen mit der Civil RightsAct be-
endet wurde. Seit über 50Jahren sind
die knapp 13 Prozent Afroamerikaner
gleichberechtigt, und dieWahl Barack
Obamas zum Präsidenten wurde 2008
zu einem wichtigenSymbol dafür, dass
sie alles erreichenkönnen. Allerdings
wirkt die jahrhundertelangeAusbeu-
tung, Unterdrückung und Diskriminie-
rungbis heute nach: inrassistischen
Vorurteilen, gebietsweise weitgehen-
der Segregation und vor allem in einem
krassenWohlstandsgefälle. Das Median-
vermögen einer weissenFamilie beträgt
heute171000 Dollar, das einer schwar-
zen Familie nur17 600 Dollar.
Dieser «racial wealth gap» hat mass-
geblich mit der Sklaverei zu tun. 250
Jahre lang hatten Sklaven Reichtum für
Weisse erwirtschaftet, während ihnen
selbst Eigentum und Bildung meist
untersagt waren. Diesen «Startvorteil»
wettzumachen, wäre schwierig genug,
doch strukturellerRassismus hatte zur
Folge, dass die Schere in den letzten 35
Jahren sogar weiterauseinandergegan-
gen ist.Auch wenn es unzählige Erfolgs-
geschichten gibt, leben Afroamerikaner
oft in schlechterenWohngegenden mit
schlechteren Schulen, haben schwerer
Zugang zu Hypotheken oder Studenten-
darlehenund sind überdurchschnittlich
von Arbeitslosigkeit betroffen.


Lässt sich dieses angehäufte Un-
recht ausgleichen? DieFrage einer Ent-
schädigung istkeineswegs neu. Gegen
Ende des Bürgerkriegs1865 erliess der
Unions-GeneralWilliam Sherman auf
den Vorschlagvon Vertretern der befrei-
ten Schwarzen die «SpecialField Order
No. 15», wonach Zehntausende von ehe-
maligen Sklaven proFamilie 40 Morgen
Land erhalten sollten. Präsident Abra-
ham Lincoln unterzeichnete ein entspre-
chendes Gesetz, doch er wurde kurz dar-
auf von einem weissenRassisten ermor-
det. Sein Nachfolger AndrewJohnson
rückte von demVorhaben ab, und be-
reits Ende1865 wurden Schwarze wie-
der von dem ihnen zugeteiltenLand ver-
trieben. Entschädigungen gab es den-
noch vereinzelt, aber es blieben frei-

willigeLeistungen einzelnerWeisseran
ihre ehemaligen Sklaven.
Mit den Erfolgen der Bürgerrechts-
bewegung in den1960erJahren galt
einer breiten Öffentlichkeit die Chan-
cengleichheit als erreicht. Überlegungen
zu Reparationen wurden nur in akade-
mischen Kreisen und von Interessenver-
tretern der Afroamerikaner angestellt.
1989 brachte der demokratische Abge-
ordneteJohn Conyers erstmals ein Ge-
setz imRepräsentantenhaus ein, das die
Errichtung einerKommission zur Er-
örterung möglicherReparationszahlun-
gen vorsah. Es fandkeine Mehrheit,
doch Conyers blieb beharrlich: Bis zum
Rückzug aus demParlament 2017 legte
er seinen EntwurfjedesJahr vor–ohne
Erfolg. Es war schliesslich derAutor Ta-

Nehisi Coates, der 2014 mit seinemAuf-
satz«The CaseFor Reparations»in d er
Zeitschrift «Atlantic» die Debatte neu
befeuerte. Er legte die strukturelle Un-
gleichbehandlung insbesondere durch
die Wohnpolitik dar und argumentierte,
die Anerkennung dieses Unrechtskönne
zu einer heilsamen Erneuerung führen.
Als Modell beschreibt Coates die Zah-
lungen Deutschlands an Israel, die die
Vergangenheitsbewältigung desLandes
in dieWege geleitet hätten.

Wer soll zahlen?


DieFrage vonReparationenkönnte
nicht mehr Sprengkraft bergen.Wie
viel kann eineWiedergutmachungkos-
ten?Wer soll zahlen? Unternehmen, die

von der Sklaverei profitierten, oder alle
Steuerzahler? Und wer soll Geld erhal-
ten? NurPersonen, die ihre Abstam-
mung von Sklaven beweisenkönnen?
Was können heutige Generationen für
die Greuel derVergangenheit? Und
schliesslich: Haben die USA nicht schon
Unsummen für benachteiligte Gruppen,
Viertel und Schulen aufgewendet?
Befriedigende Antworten wird es
nicht geben, und doch ist dasThema in
den vergangenen Monaten zumPoli-
tikum geworden. ImJanuar brachte
eine demokratische Abgeordnete aus
Texas Conyers’ dutzendfach abgelehn-
ten Gesetzesentwurf zur Errichtung
einerReparationenkommission wieder
ins Repräsentantenhaus ein, und die-
senJuni kam es sogar zu Anhörungen
in einer Subkommission.Das ist ein ers-
ter Schritt zu einer Abstimmung in der
grossen Kammer,wofür sich auch fast
alle demokratischen Präsidentschafts-
bewerber ausgesprochen haben. Erst-
mals wird damit in einemWahlkampf
über Entschädigungen für die Sklaverei
diskutiert.Vor vierJahren hatten sowohl
Hillary Clinton als auch Bernie San-
dersReparationen abgelehnt, und auch
Obama sah solche Zahlungen skeptisch.

Eine riskanteTaktik


KonkreteVorstellungen hat bis jetzt
nur die erfolgreiche Buchautorin Mari-
anneWilliamson, eineAussenseiterin
im demokratischenFeld. Sie verlangt
die Zahlung von 200 bis 500 Milliarden
Dollar in einenFonds für die Nachkom-
men von Sklaven.Das sei eine Schuld,
die beglichen werden müsse, damit das
Land genesenkönne. Für ihre Erläute-
rungen in der CNN-Debattevor weni-
genWochen erhieltWilliamson tosen-
den Applaus.Von den aussichtsreichen
Anwärtern haben sich vor allem die
Senatorinnen ElizabethWarren und Ka-
mala Harris für eineForm vonRepara-
tionen ausgesprochen, in derAusgestal-
tung blieben sie aber ehervage.
Den Demokraten geht es dabei auch
um die Stimmen der Afroamerikaner in
der Präsidentschaftswahl. DieTaktik ist
jedoch nicht ohne Risiko, denn während
laut einer aktuellen Umfrage dreiVier-
tel der Afroamerikaner für direkte Zah-
lungen an Nachkommen von Sklaven
sind, lehnen insgesamt 67 Prozent der
Bevölkerung diesab. Die Zustimmung
hat allerdings deutlich zugenommen auf
29 Prozent gegenüber nur14 Prozent im
Jahr 2002. So ungewiss es auch ist, ob
es je zuReparationszahlungenkom-
men wird, zeigt die Debatte doch,dass
das Thema derzeit so ernst genommen
wird wie selten seit derLandverteilung
unter Lincoln.Dies sei bereits eineForm
der Wiedergutmachung, findet etwa der
Publizist und Professor der Columbia
UniversityJohn McWorther.

Sklaven hatten 250Jahre langfür Weisse Reichtumerwirtschaftet,währen dsie selbst kein Eigentum haben durften. HULTON/GETTY

Salvadorianerin erfährt späte Genugtuung vor Gericht


Der Leidensweg einer Frau, die nacheiner Fehlgeburt wegen Mordes verurteilt wurde, ist zum Fanal für die Frauenrechte in Lateinamerika geworden


PETERGAUPP,SAN JOSÉ DE COSTA RICA


Evelyn Hernández, eine damals18-jäh-
rige Salvadorianerin, erlitt im April 20 16
eineFehlgeburt. Ihre Mutter fand sie in
der Latrine derFamilie, bewusstlos nach
star kem Blutverlust.Das Kind war tot.
Im Spitalavisierten die Ärzte, die bei
Verdacht auf Abtreibung zur Anzeige
verpflichtet sind, die Behörden. Die
Polizei fand den 32Wochen altenFötus.


Skandalöses Ersturteil


Die jungeFrau war vom Mitglied einer
Jugendbande mehrfach missbraucht
worden.Weil der Mann drohte, ihre
Mutter umzubringen,schwieg sie. Im
Juli 2016 wurde sie wegen Mordes zu
30 Jahren Gefängnis verurteilt. Die Be-
gründung: Sie habe es versäumt, Betreu-
un g in Anspruch zu nehmen.Ihrer Be-
teuerung, die Schwangerschaft sei ihr


nicht bewusst gewesen und es habe sich
um eineTotgeburt gehandelt, schenkte
der Richterkeinen Glauben.
Evelyns Verteidigung rekurriert
wegenWillkür. LetztesJahr annullierte
das Oberste Gericht das Urteil und ord-
nete dieWiederholung des Prozesses an;
dies en Februar wurde dieFrau proviso-
risch auf freienFuss gesetzt.Jetzt befand
das Gericht, die Staatsanwaltschaft, wel-
che die Maximalstrafe von 40Jahren for-
derte, habe den Beweis nicht erbringen
können, dass sie in derLage gewesen
sei, ihr Kind zu schützen.Vor dem Ge-
richtsgebäudein Cojutepeque feierte
eine Menge den überraschendenFrei-
spruch.Evelyn Hernández’ Fall war zum
Fanal für Menschenrechtler undFemi-
nistinnen weit über das zentralamerika-
nischeLand hinaus geworden.
Seit1998 ist inEl Salvador die Abtrei-
bung unter jeglichen Umständen straf-
bar, selbst wenn das Leben der Schwan-

geren gefährdet ist. Ihr und eventuel-
len Helfern droht Gefängnis von 2 bis 8
Jahren. Zum harten Gesetzkommt eine
drakonischeJustizpraxis. In Dutzenden
Fällen sindFrauen, die Spontan- oder
Totgeburten erlitten, wegenMordes
oder versuchterTötung angeklagt wor-
den, was noch wesentlich höhere Stra-
fen ermöglicht. Nichtselten wurden sie
auch verurteilt.
Leidtragende sind zumeist junge
Frauen aus ärmstenVerhältnissen, oft
Analphabetinnen, oft ohne Zugang zu
medizinischerVersorgungund oftVer-
gewaltigungsopfer, die ihren Zustand
aus Angst und Scham verbergen. Inter-
nationalesAufsehen erregte 2013 auch
der Fall einer 22-jährigen Schwangeren,
die an Lupus litt.Ihr Fötus entwickelte
kein Hirn, dennoch wurde ein Abbruch
zunächst untersagt und erst nach Inter-
vention des Interamerikanischen Ge-
richtshofs erlaubt.

Anwältinnen undFrauenrechtlerin-
nen haben sich in El Salvadorlange
Zeit für ein Ende dieser Praxis einge-
setztund eine liberalere Gesetzgebung
gefordert. Ineinigen Fällen wurden
harte Urteilerevidiert. So ordnete im
März das Oberste Gericht die vorzei-
tigeFreilassung von dreiFrauen an,
die wegen angeblichen Mordes fast
ei n Jahrzehnt im Gefängnis sassen; es
bef and,dieVorinstanzen hätten die
sozialen Umstände und die Diskrimi-
nierung derVerurteilten nicht in Be-
tracht gezogen.

Reformunwilliges Parlament


Das Uno-Hochkommissariat für Men-
schenrechte hat bereits vorJahren El
Salvador zur Gesetzesrevision angehal-
ten. Im letztenJahr freilich scheiterte
eineVorlage,die den Abort beiVer-
gewaltigung und Gefährdung der Ge-

sundheit der Schwangeren legalisiert
hätte, im Parlament. Dieses ist nach
den Neuwahlen imFebruar eher noch
konservativer geworden, nicht zuletzt
wegen des steigenden Einflusses evan-
gelikaler Kreise auf diePolitik.
El Salvador steht inLateinamerika
mit seiner rigiden Gesetzgebung in
SachenSchwangerschaftsabbruch nicht
allein, obgleich in letzter Zeit in Argen-
tinien, Chile, Surinam und der Domini-
kanischenRepublik Lockerungen ein-
geführt wurden. Ein generellesVerbot
herrscht auch in Honduras, Nicaragua
und Haiti.ReineFristenlösungen gel-
ten nur in Uruguay, Kuba, Puerto Rico,
Guyana, Französisch-Guyana sowie
in Mexiko-Stadt.Paraguay, Venezuela,
Costa Rica und die Dominikanische
Republik gestatten den Abbruch allein,
wenn das Leben der Schwangeren auf
dem Spiel steht. Die übrigenLänder
lassen weitereIndikationen zu.
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