Neue Zürcher Zeitung - 21.08.2019

(John Hannent) #1

INTERNATIONALIMittwoch, 21. August 2019 Mittwoch, 21. August 2019 NTERNATIONAL


dicht hier, sattgrün, und aufForstwegen
tauchenregelmässigmit Baumstämmen
beladeneLastwagen auf. In den Dör-
fern ist das Kreischen der Kreissäge auf
Fabrikarealen häufig das einzige Ge-
räusch; die Holzwirtschaft ist einer der
wenigen blühendenWirtschaftszweige
in dieser strukturschwachen Gegend.
Nach einer weiteren steilen Abfahrt
taucht imTalkesselKokavanad Rima-
vicou auf. Hier treffen seit dem Mittel-
alter die Ost-West- und die Nord-Süd-
Route aufeinander, was das Dorf zu
einem wichtigen vorindustriellen Zen-
trummachte.Doch heuteist es gebeu-
telt von Arbeitslosigkeit und Abwande-
rung. Darüber klagt auch Michelle, die
schöne jungeBarfrau mit den dunklen
Haaren. Sie arbeitet in derKonditorei
Cukraren Mlyn, der «Zuckermühle».
Michelle weiss, wie man einen guten
Espresso macht, und sie weiss, welchen
Kuchen man bestellen muss –Beeren-
Quark –, denn er ist hausgemacht und
köstlich.Auch die Musikvideos auf dem
Bildschirm sind umWelten besser als die
landesübliche Mischung amerikanischer
Rockballadenausden Neunzigern: Hier
gibt esHip-Hop undPop aus den frü-
hen nullerJahren,Jay Z, Beyoncé, Missy
Elliott und NellyFurtado.
Die «Zuckermühle» ist eine farbige
Insel in einem grauen Ort. Michelle er-
zählt, dass ihre Schulkameraden weg
sind, in Deutschland und Grossbritan-
nien.Warum sie trotzdem bleibt? «Das
ist mein Dorf.» Sagt es – und entschwin-
det auf dieTerrasse, wo eine jungeFami-
lie mitTochter und Geburtstagsballon
Platz genommen hat. Sie bestellen eine
besonders bunte Glace.


  1. Roznava:Verblasstes
    Edelmetall


Roznava, Rosenau undRozsnyo, Kosice,
Kaschau und Kassa,Zvolen, Altsohl und
Zolyom – viele Städte in der Mittel- und
Ostslowakei hattenslowakische,deut-
sche und ungarische Namen. ÜberJahr-

hunderte gehörte das Gebiet der Slowa-
kei zu denLändern der Stephanskrone
in Budapest. Die Herrscher holten für
die Entwicklung desLandes deutsche
Siedler. Sie wurden vielerorts zur Ober-
schicht, bauten Städte und betrieben
Bergbau. Dieser bescherte der gesam-
tenRegion grossenWohlstand, aber
auch zahlreicheKonflikte. InRoznava,
so hiess es im18.Jahrhundert, werde das
reinste Gold derWelt gefördert.
Mit ihrerVernichtungspolitik zerstör-
ten die Nationalsozialisten diese multi-
kulturelle Gesellschaft definitiv. Nach
dem Zweiten Weltkrieg tilgten die
Tschechoslowaken das Erbe der einsti-
gen Herren aus der Öffentlichkeit; bloss
die Kirchen blieben davon übrig – und
der Bergbau, durch dessenForcierung
dieKommunisten den rückständigen
Osten desLandes in die industrielleMo-
derne führen wollten. Deshalb tauchen
immer wieder gewaltige Plattenbauten
am Strassenrand neben den hölzernen
Hütten eines Bergdorfs auf.
Doch seit derWende liegt der Berg-
bau inRuinen, dieKumpel sind arbeits-
los, die meisten Stollen geschlos-
sen, selbst dort, wo es weiterhinRoh-
stoffe zu fördern gäbe. Hauptgrund ist
die schlechte Tr ansportinfrastruktur,
die es nicht erlaubt, Erz und Stahl effi-
zient auf die Absatzmärkte zu bringen.
DieRegionRoznava, das einstige Gold-
Zentrum, hat heute mit16,2 Prozent die
höchste Arbeitslosigkeit in der Slowakei.
Am Hauptplatz verschmilzt die Ge-
schichte vonRoznava,Rosenau und
Rozsnyo: Hier steht die imposante deut-
sche mittelalterliche Kirche, viereckig
und mit einemregionstypischen Holz-
geländerum denTurm. ZweiDenk-
mäler erinnern an historische ungari-
schePersönlichkeiten; jenes für den
Nationaldichter SandorPetöfi ist mit
frischen Blumen geschmückt.
Vor der Kirche schliesslich haben
Aktivisten für den 2018 ermordeten
JournalistenJan Kuciak und seineVer-
lobte MartinaKusnirova ein improvisier-
tes Mahnmal erstellt. In seinenRecher-

chenkonzentrierteKuciak sich auf die
mafiösen Netzwerke, die sich nach der
Wende in der Slowakei ausgebreitet
haben. GrosseTeile der Bevölkerung
machen diese dafürverantwortlich, dass
die wirtschaftliche und gesellschaftliche
Modernisierung ausserhalb der Haupt-
stadtregion nicht weiter fortgeschritten
ist. Ein Gesprächspartner bezeichnet
Kuciak sogar als neuen Nationalheiligen
und äussert die Hoffnung,imGedenken
an ihnkönne dasLand einen Schritt in
die Zukunft machen.Roznavakönnte
den Impuls gut gebrauchen.


  1. Mihalovce: Marathonim
    Grenzland


Mehr als 500 Kilometer östlich vonWien
ist dasWohlstandsgefälle sicht- und spür-
bar – inForm von überalterten Dörfern,
leeren Gaststätten und Schlaglöchern.
Auch Mihalovce strahlt zunächst post-
sozialistischeTr istesse aus. AmFrei-
heitsplatz singt zu Ehren einesFeier-
tags aus sozialistischen Zeiten eineFolk-
loregruppe, doch nur 100 Meter weiter
beginnt die kapitalistische Moderne:
Vor einem Hotel-Glaspalast namens
«Druschba» (Freundschaft) wummern
Bässe aus den Boxen, und aus den Sei-
tengassen fliesst ein Strom teuer einge-
kleideterJogger. IhreTeamshirts lassen
sie teilweise als Mitarbeiter internationa-
ler Industrieunternehmen in derRegion
erkennen–unterwegs zum Marathon.
Dieser führt bis fast an dieukrai-
nische Grenze, entlang der verkehrs-
reichen Hauptstrasse, die zu sperren
man nicht für notwendig hielt.Tr otzdem
herrschtFeststimmung: Die sonst eher
reservierten Dorfbewohner verlassen
ihre mit Sichtschutz gegen die Strasse
ausgestatteten Häuser und feuern die
Läufer an.Aus denLautsprecherner-
klingt einTr inklied. Es preist das Bier.
Doch der Marathon (und die ober-
flächliche Moderne) endet plötzlich, als
seineTeilnehmer in eine Seitenstrasse
abbiegen. Stille legt sich über die letzten

zehn Strassenkilometer bis zur Grenze.
Kurz vor dem Zoll warten einigeLast-
wagen auf die Abfertigung, dann taucht
die überdimensionierte Grenzanlage auf.
Die Schengen-Aussengrenze istreal
und hart. Zwar dürfen jene,die in die
Ukraine weiterreisen, ihrFahrrad in
einen Bus verladen – ein Zugeständ-
nis der Grenzer, da eigentlich nurVier-,
aberkeine Zweiräder hier passieren dür-
fen. Ein Mitfahrer, der meint, erkönne
mit der Identitätskarte nach Kiew, bleibt
indes zurück. Eine richtige Grenze über-
quert man nur mit einem richtigenPass.


  1. Die Roma


Sie tauchen plötzlich, aberregelmässig
am Strassenrand auf: ärmliche Hütten
mit brüchigem Mauerwerk und löchri-
genDächern, aus deren Schornsteinen
beissenderRauch dringt. DieRoma-
Siedlungen passen nicht in die gepfleg-
ten slowakischen Dörfer, von denen sie
auchräumlich segregiert sind. ImGegen-
satz zurreservierten Bevölkerung grüs-
sen dieRoma, feuern dieRadler an und
zeigen ihnen zuweilen den Mittelfinger.
Sie sind auf demLand fast die einzigen
Fussgänger, oft unterwegs mit Karren
voller Elektroschrottoder Brennholz.
Laut demRoma-Atlas von 2013 le-
ben 46,5 Prozent dergeschätzten 40 2000
Angehörigen der Minderheit getrennt
vomRest der Bevölkerung und über-
durchschnittlich viele in der Ostslowa-
kei. Der grössteTeil ist arbeitslos und
von Sozialhilfe abhängig.Gründe gibt
es viele – dazu gehören jahrzehntelange
Diskriminierung und ein schlechtes
Schulsystem. MilliardenschwereHilfs-
programme haben daran seit derWende
wenig geändert, besonders im Osten des
Landes. Dort bleiben dieRoma in jenen
Gebieten zurück, wo die Probleme so-
wieso riesig sind.
Es bleibt ein Eindruck der Hilfs- und
Verständnislosigkeit.Dass die Slowakei
einRoma-Problem hat, ist offensichtlich,
doch der Einblick in den Alltag bleibt
oberflächlich, die Gefahr, Klischees zu

reproduzieren, gross. Es ist eines jener
drängenden Probleme,die einer ein-
gehenderen Betrachtung bedürfen.


  1. Von Presov nach Kosice: Die
    verhinderte Agglomeration


Nach einerWoche im weitenLand mar-
kieren Presov undKosice dieRück-
kehr der urbanen Normalität. Die dritt-
und die zweitgrösste Stadt der Slo-
wakei haben schmucke Innenstädte
mit modernen Bussen, Speisekarten
in Englisch und Kaffeepreisen wie in
Wien. Neben der Universität von Pre-
sov serviert ein auf Ostalgie getrimmtes,
nach demKommunistenführer Klement
Gottwald benanntes Pub Craft-Beer.
Auf demWeg in die Stadt gilt es, zu-
nächst einen kilometerlangen Siedlungs-
fladen zu durchqueren, in einem gefähr-
lichenVerkehrschaos, hat die Infrastruk-
tur doch kaum mit demWachstum Schritt
gehalten. Der Stadtrat plant deshalb, die
Region Presov -Kosice zu einer richti-
gen Agglomeration auszubauen, die zu
einem wirtschaftlichen Kraftzentrum
der Ostslowakei werdenkönnte. Dafür
hat er eineVerkehrsstrategieerarbeitet
undvon der EU eine Milliarde Euro für
eineAutobahnumfahrung erhalten.Auf
derBaustelle schrauben sich die dafür
nötigen Betonpfeiler bereitsDutzende
von Metern in die Luft, wie einVerspre-
chen für die Zukunft.
Doch just die knapp 40 Kilometer
zwischen den beiden Städten sind am
schwächsten ausgebaut. Hier wähnt
man sich auf dem weitenLand, es geht
über Hügel anRapsfeldern vorbei, wäh-
rend sich auf der einzigen Eisenbahn-
linie einrostiger Uralt-Zug und dessen
etwas modernerer Kamerad gemütlich
zupfeifen. Die charmante Szenerie kurz
vorKosice bietet die letzte Gelegen-
heit, durchzuatmen und dieRuhe zu
geniessen. Nur wenige Kilometer spä-
ter taucht die moderne Glasfassade des
Hauptbahnhofs im Stadtbild auf, wo der
Schnellzug nachWien wartet.

UNGARNUNGARN

UKRAINEUKRAINE

POLENPOLEN

Kaluza


Etappe 4 Kosice


Etappe 5


Etappe 6


Zug


Etappe 7


(^3) SLOVAKIEN
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