Frankfurter Allgemeine Zeitung - 30.08.2019

(Dana P.) #1

SEITE 2·FREITAG, 30. AUGUST 2019·NR. 201 F P M Politik FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


Jetzt ein Misstrauensvotum gegen Johnson
Die „Financial Times“ (London) kommentiert die Be-
urlaubung des britischen Unterhauses durch Premier-
minister Boris Johnson vor dem möglichen Brexit:
„Wenn Boris Johnsons Trick mit der Zwangspause für
das Parlament Erfolg hat, verliert Großbritannien jedes
Recht, andere Länder über demokratische Defizite zu be-
lehren. Die Verfassungsregeln des Vereinigten König-
reichs beruhten lange Zeit auf allgemein akzeptierten
Gepflogenheiten. Es bestand dabei immer die Gefahr,
dass ein skrupelloser Regierungschef diese Konventio-
nen mit Füßen tritt. Das ist in der Neuzeit nicht gesche-
hen – aber jetzt. Abgeordnete müssen in der kommen-
den Woche ihre Chance ergreifen, den Willen des Unter-
hauses gegen den des Premierministers durchzusetzen.
Der Moment, für den sie zusammenkommen, mag zu
kurz für die Verabschiedung eines Gesetzes sein, das
eine Verschiebung des EU-Austritts Großbritanniens
fordert. Jene, die gegen einen No-Deal-Brexit sind, müs-
sen aber nun ihre Differenzen überwinden und für ein
Misstrauensvotum gegen die Regierung stimmen.“


Ein Beweis der Entschlossenheit für Brüssel
„The Times“ (London) meint dazu:
„Die plausible Prämisse des Premierministers be-
stand darin, dass allein ein glaubwürdiges Engagement
bei der Vorbereitung eines No-Deal-Brexits EU-Regie-
rungschefs veranlassen wird, Zugeständnisse zu ma-
chen. Und tatsächlich gibt es zaghafte Anzeichen dafür,
dass sie bereit sein könnten, sich ein wenig zu bewegen.
Sie werden das jedoch nicht tun, wenn sie glauben, dass
das Parlament einen Brexit verhindern oder dass Boris
Johnson des Amtes enthoben werden könnte. Der
Schachzug des Premierministers zielte darauf ab, jeden
Zweifel an der Entschlossenheit der Regierung zu been-
den und jeden Gedanken daran zu vertreiben, dass
Brüssel eine Seite des britischen politischen Establish-
ments gegen die andere ausspielen könnte.“

Grotesker Missbrauch des höchsten Amts
„The Guardian“ (London) dagegen meint:
„Wenn ein Premierminister, der nicht einmal ein Man-
dat der Wählerschaft hat, auf diese Weise parteipoliti-

sche Ziele verfolgt, für die es im Unterhaus keine Mehr-
heit gibt, dann stellt dies einen grotesken Missbrauch
des höchsten politischen Amtes dar. Boris Johnson ka-
pert Befugnisse, die symbolisch der Krone zustehen,
und benutzt sie für einen Angriff auf seine Gegner im
Parlament. Dass er dies tut, um einen harten Brexit
durchzusetzen, ist für Pro-Europäer schmerzlich. Dass
er überhaupt bereit ist, es zu tun, sollte jeden alarmie-
ren, der die Traditionen der britischen Demokratie zu
schätzen weiß.“

Hart wird der Brexit auf jeden Fall
„De Tijd“ (Brüssel) bewertet Johnsons Schritt so:
„Damit wird das Endspiel eingeläutet. Es ist bislang
noch nicht vorgekommen, dass in einer parlamentari-
schen Demokratie ein Parlament derart ins Abseits ge-
stellt wird. Aber eben jenes Parlament hat das ganze
Jahr über bewiesen, dass es keine brauchbare Mehrheit


  • für was auch immer – abliefern kann... Als zynischer
    Machtpolitiker greift Johnson nach den Waffen, die
    ihm zur Verfügung stehen. Seine Popularität bei den


Brexit-Anhängern wird nur noch weiter steigen. Und
wenn Johnson aus dem Amt getrieben werden sollte,
gäbe es immer noch keine eindeutige Lösung. In dieser
Hinsicht wird ein Brexit stets hart sein, mit oder ohne
Deal.“

Das Königreich treibt Richtung Autokratie
Die Zeitung „El Mundo“ (Madrid) meint:
„Mit seiner exzentrischen Art und ermuntert von
Trump, der ihn dazu auffordert, mit der EU kurzen Pro-
zess zu machen, treibt der neue Premierminister das
Vereinigte Königreich Richtung Autokratie... Wir wis-
sen noch nicht, ob dieses Manöver das Ende der erst
vor kurzem gebildeten Regierung bedeuten wird. Aber
wir wissen zwei Dinge: dass der harte Brexit ein sozia-
les und wirtschaftliches Drama auslösen wird, dessen
Konsequenzen den Hauptgeschädigten, den britischen
Bürgern nämlich, vielleicht nicht bewusst sind. Und wir
wissen auch, dass wenn man dem Populismus die
Macht übergibt, nicht nur ein Land, sondern ein ganzer
Kontinent die Zeche zahlen muss.“

STIMMEN DER ANDEREN


ROM, 29. August


P


ünktlich um 9.30 Uhr am Donners-
tagmorgen fuhr Ministerpräsident
Giuseppe Conte am Quirinalspalast
vor, in einem grauen Volkswagen. Schon
nach wenigen Minuten war sein Gespräch
mit Staatspräsident Sergio Mattarella zu
Ende. Dann trat Conte vor die Presse. Er
werde sich gemäß dem Auftrag Mattarellas
sogleich daranmachen, sein Kabinett zu-
sammenzustellen, und dieses „in den kom-
menden Tagen“ präsentieren, sagte er.
Gemeinsam mit seiner Regierungs-
mannschaft von Fünf-Sterne-Bewegung
und Sozialdemokraten werde er „eine
neue Menschlichkeit“ in die Politik des
Landes tragen, versprach Conte. Das von
ihm geführte Kabinett sei nicht „gegen je-
manden oder gegen etwas“ gerichtet, son-
dern werde „für Italien“ arbeiten: für ein
Land, „in dem unsere Kinder die Chance
haben, ein besseres Leben zu führen“; für
ein Land, „das gerechter und wettbewerbs-
fähiger, geeinter und inklusiver sein“ wer-
de. Als Hauptaufgaben der neuen Regie-
rung nannte Conte das Ankurbeln der
Wirtschaft, Investitionen in rückständige
Regionen, Hilfe für arbeitslose Jugendliche
und einen besseren Umweltschutz.
Dann sprach der alte und designierte
neue Ministerpräsident davon, dass man
nun rasch „die verlorene Zeit gutmachen“
müsse, „damit Italien wieder die führende
Rolle in Europa spielen kann, die einem
Gründungsmitglied gebührt“. Welche „ver-
lorene Zeit“ er meinte, ließ Conte offen.
Waren das die 14 Monate, die er selbst an
der Spitze einer Koalition von rechtsnatio-
nalistischer Lega und linkspopulistischer
Fünf-Sterne-Bewegung regiert hatte?
Oder bezog er sich bloß auf die gut drei Wo-
chen Regierungskrise, seit Innenminister
und Lega-Chef Matteo Salvini die Koaliti-
on für gescheitert erklärt und damit die 65.
Regierung seit 1948 zu einem abrupten
Ende gebracht hatte?
Salvini hatte schon am Mittwochabend,
nach dem Ende der zweiten Runde der


Konsultationen aller Parteien im Quirinal,
als alle Zeichen auf ein zweites Kabinett
Conte und eben nicht auf die von ihm gefor-
derten Neuwahlen im Oktober hindeute-
ten, auf Wahlkampfmodus geschaltet. Das
heißt, er tat, was er auch als Minister und
Vizeregierungschef zu tun pflegte: Er be-
spielte fleißig seine Seiten auf den einschlä-
gigen sozialen Medien, über welche er eine
nach wie vor wachsende Zahl von Anhän-
gern erreicht. Das Ende der Koalition sei-
ner Lega mit den Fünf Sternen und die
Rückkehr der Sozialdemokraten an die
Macht habe nicht er herbeigeführt, behaup-
tete Salvini, vielmehr stecke das Ausland
dahinter: namentlich Angela Merkel und
Emmanuel Macron.
In Berlin, Paris und Brüssel wolle man
eine schwache Regierung in Rom haben,
die man sich gefügig machen könne: „Es er-
füllt mich mit Zorn, dass Italien wieder ver-
kauft wird. Es erzürnt mich, dass über die
Zukunft Italiens außerhalb Italiens ent-
schieden wird.“ Die Koalition von Fünf
Sternen und Sozialdemokraten sei ein
Bündnis von Verlierern, die bei sämtlichen
Regional- und Kommunalwahlen von 2018
und 2019 sowie auch bei den Europawah-
len von Ende Mai schwere Verluste hätten
hinnehmen müssen. „Die Wahrheit ist“,
schimpfte Salvini, „dass 60 Millionen Italie-
ner Geiseln von 100 Parlamentariern sind,
die an ihren Sesseln kleben.“ Und Salvini

prophezeite: „Und dennoch, früher oder
später wird es Wahlen geben müssen. Wir
werden nicht in zwei Monaten gewinnen?
Dann warten wir sechs Monate, um zu ge-
winnen. Oder müssen wir ein Jahr, zwei
Jahre warten? Wir haben keine Eile.“
Für den 19. Oktober rief Salvini schon
einmal zu einer Großdemonstration in
Rom auf. Denn offenbar glaubt er selbst
nicht mehr daran, dass die Anhänger der
Fünf-Sterne-Bewegung, die sich im Mai
2018 auf der parteieigenen Website „Rous-
seau“ noch zu 94 Prozent für eine Koaliti-
on mit der Lega ausgesprochen hatten,
dem rechtsnationalistischen Regierungs-
partner von 14 Monaten die Treue halten
werden und sich bei einer neuerlichen Ur-
abstimmung im Internet in der kommen-
den Woche gegen den „Frontenwechsel“ ih-
rer Parteioberen zu den Sozialdemokraten
aussprechen werden.
Mit seinen Voraussagen über die kurze
Lebensdauer des Kabinetts Conte II mag
sich Salvini täuschen oder nicht. Mit seiner
Behauptung, die neue Koalition werde
nicht über eine Mehrheit im Parlament ver-
fügen, liegt er daneben. Im Abgeordneten-
haus können Conte und seine Mannschaft
nach übereinstimmenden Berechnungen
mit etwa 355 der insgesamt 630 Stimmen
rechnen, in der kleineren Parlamentskam-
mer dürften 178 der 321 Senatoren für das
neue Kabinett sein. Zudem kann die neue

Regierungsmannschaft mit der enthusiasti-
schen Unterstützung aus den maßgebli-
chen EU-Staaten und auch von der Brüsse-
ler Kommission rechnen. Die neue Regie-
rung in Rom wird nach Ansicht vieler ei-
nen abermaligen Streit mit Brüssel um das
Haushaltsdefizit und den Schuldenberg ver-
meiden und sich an die gewiss etwas gelo-
ckerten Vorgaben aus Brüssel halten. Da-
mit dürfte auch die automatische Erhö-
hung des Mehrwertsteuersatzes abgewen-
det werden, zu der es ohne Einigung mit
Brüssel kommen würde. Dieser Erfolg
könnte Conte nützen, allerdings auch Salvi-
ni: Er und seine Anhänger würden das
Lied vom Ausverkauf der nationalen Inter-
essen wohl noch lauter anstimmen. Die
Überwindung der Spaltung im Land, die
sich Conte nach eigener Aussage vorge-
nommen hat, wird für diese Regierung
eine schwierige Aufgabe.
Unter den zahlreichen absehbaren Kon-
flikten zwischen Fünf-Sterne-Bewegung
und Sozialdemokraten steht die Migrati-
onspolitik wohl an erster Stelle. Die Sozial-
demokraten hatten während der schwieri-
gen Verhandlungen immer wieder eine Ab-
kehr von der harten Linie Salvinis in der
Migrationspolitik sowie ein „loyales Be-
kenntnis“ zu einer gemeinsamen Lösung
mit den Partnern in der EU gefordert.
Doch gerade in der Migrationspolitik hat-
ten die Fünf Sterne Salvini fast immer freie
Hand gelassen.

PEKING,29. August. Einmal im Jahr, im-
mer im August, tauscht Chinas Volksbe-
freiungsarmee ihr Kontingent in der
Hongkonger Garnison aus. Vor diesem
Hintergrund sprach die amtliche Nach-
richtenagentur Xinhua von „Routinebe-
wegungen“ im Zuge der „jährlichen Trup-
penrotation“, als am Donnerstag vor dem
Morgengrauen die ersten Truppentrans-
porter und gepanzerten Fahrzeuge auf
Hongkongs Straßen gesichtet wurden.
Dass solche Bilder in Zeiten der Massen-
proteste in der Sonderverwaltungsregion
Ängste auslösen würden, war zu erwar-
ten. Vermutlich berichtete Xinhua des-
halb anders als sonst schon früh über die
Truppenbewegungen, sieben Stunden be-
vor sie abgeschlossen waren.
Zugleich verzichtete die Agentur aber
auf Informationen, die zur Beruhigung
hätten beitragen können. In der entspre-
chenden Meldung vom Vorjahr heißt es:
„Die Zahl der Soldaten bleibt unverän-
dert.“ In der Mitteilung vom Donnerstag
fehlt diese Angabe, was zu Spekulationen
Anlass gab, dass Peking den Kontingent-
wechsel genutzt haben könnte, um die
Zahl der Truppen in Hongkong aufzusto-
cken. Anders als 2018 war diesmal auch
nicht die Rede von Soldaten, die ihren
Dienst in Hongkong beendet hätten. Statt-
dessen konzentriert sich der Bericht auf
die Neuankömmlinge, die neben den Stra-
ßentransporten auch auf dem Luft- und
Seeweg nach Hongkong gelangt seien.


Vor ihrer Verlegung hätten sie an Übun-
gen und juristischen Unterweisungen teil-
genommen, bei denen ihnen die nötigen
Fähigkeiten zur Verteidigung Hongkongs
vermittelt worden seien, heißt es in dem
Bericht. Die Garnison teilte mit, sie wer-
de „einen größeren Beitrag zum Wohl-
stand und zur Stabilität Hongkongs leis-
ten“.
Im prodemokratischen Lager wurden
die Truppenbewegungen als Einschüchte-

rungsversuch gewertet. Der Abgeordnete
Dennis Kwok sagte dem Sender RTHK:
„Angesichts der sensiblen Phase, in der
wir uns gerade befinden, glaube ich nicht,
dass das Routine ist.“ Vielmehr sei es eine
„gezielte Pose“ der Volksbefreiungsar-
mee, „um den Hongkongern zu drohen,
dass sie eingesetzt werde könnte“. Deut-
lich weniger geräuschlos als die Boden-
truppen vollzog denn auch die Luftwaffe
ihre Truppenbewegungen. Ein Geschwa-
der von Kampfhubschraubern flog öffent-
lichkeitswirksam auf dem Militärflug-
platz Shek Kong ein.
Chinas Militär betreibt seit der Überga-
be Hongkongs im Jahr 1997 eine Garni-
son in der Stadt. Die genaue Zahl der dort
stationierten Soldaten ist nicht bekannt.
Sie wird auf 6000 bis 10 000 Mann ge-
schätzt. Im Hongkonger Grundgesetz (Ba-
sic Law) heißt es, das Militär solle sich
„nicht in die internen Angelegenheiten
der Region einmischen“. Die Lokalregie-
rung könne aber, „wenn nötig“, zur Wie-
derherstellung der öffentlichen Ordnung
oder im Katastrophenfall die Zentralre-
gierung in Peking um Unterstützung
durch die in Hongkong stationierten Trup-
pen ersuchen.
Vor einem Monat hatte die Garnison
ein martialisches Imagevideo mit nachge-
stellten Szenen veröffentlicht, in denen
Soldaten gegen imaginäre Demonstran-
ten vorgingen. Die Zentralregierung hat
einen Einsatz des Militärs nicht ausge-

schlossen. Beobachter halten eine militä-
rische Intervention angesichts der erwar-
teten Auswirkungen auf den wirtschaftli-
chen Sonderstatus der Stadt und das in-
ternationale Ansehen Chinas aber weiter-
hin für unwahrscheinlich.
Größer ist derzeit die Sorge in Hong-
kong, dass die lokale Regierung sich mit
Hilfe einer Notverordnung aus der Kolo-
nialzeit umfangreiche Durchgriffsrechte
sichern und Freiheitsrechte außer Kraft
setzen könnte. In dem entsprechenden
Gesetz aus dem Jahr 1922 heißt es, der
Regierungsführer könne im Fall einer öf-
fentlichen Bedrohung „jegliche Regula-
rien machen, die er im öffentlichen Inter-
esse für erstrebenswert hält“. Dies
schließt explizit die Zensur von Fotos, Pu-
blikationen und jeglicher Kommunikati-
on sowie Festnahmen, Internierungen
und Deportationen ein. Die Peking-nahe
Zeitung „Sing Tao Jih Pao“ hatte am
Dienstag berichtet, die Regierung erwä-
ge, das Notverordnungsgesetz anzuwen-
den. Hongkongs Regierungschefin Car-
rie Lam hat dies auf Nachfrage nicht aus-
geschlossen, sondern erklärt, die Regie-
rung werde bestehende Gesetze nutzen,
„um die Gewalt und das Chaos zu stop-
pen“. Die Pekinger Parteizeitung „Global
Times“ kommentierte am Donnerstag:
„Wir glauben, dass die Diskussion über
die Anwendung des Notverordnungsge-
setzes der richtige Schritt für Hongkong
ist, Gewalt zu bekämpfen“.

Mit Auftrag zur Regierungsbildung:Giuseppe Conte am Donnerstag vor demQuirinalspalastin Rom Foto Imago

ROM, 29. August. Matteo Salvini
schwört Stein und Bein, er würde alles ge-
nau so wieder tun. Wie am 8. August
nämlich, als er die Koalition seiner
rechtsnationalistischen Lega mit der
linkspopulistischen Fünf-Sterne-Bewe-
gung nach 14 Monaten Dauer für geschei-
tert erklärte.
Ob Salvini selbst glaubt, alles richtig
gemacht zu haben, kann man bezwei-
feln. Aber sagen muss er es, denn noch
gibt es für ihn ein Fünkchen Hoffnung,
dass die neue Linkskoalition von Fünf
Sternen und Sozialdemokraten doch
nicht zustande kommt. Der alte und de-
signierte neue Ministerpräsident Giusep-
pe Conte, dem Salvini den Teppich unter
den Füßen wegziehen wollte und dann
selbst darüber stolperte, muss nämlich
erst noch eine Kabinettsliste zusammen-
stellen, die von Präsident Sergio Matta-
rella und hernach vom Parlament gutge-
heißen wird. Und dann braucht es noch
die Zustimmung vom „Volk“ der Fünf-
Sterne-Bewegung bei einer Internet-Ur-
abstimmung.
Wenn nicht alles täuscht, wird die
neue Koalition, die Salvini erst möglich
gemacht hat, in der kommenden Woche
aber auch diese Hürden noch nehmen.
Dann müsste der Innenminister endgül-
tig seine Sachen im Palazzo Viminale,
seinem für ihn so wichtigen Amtssitz, pa-
cken. Statt Minister mit einem Schlüssel-
ressort und dazu Vizeregierungschef
wäre Salvini dann Oppositionsführer.
Aber für wie lange? Die Legislaturperi-
ode dauert noch dreieinhalb Jahre. Wird
die Linkskoalition so lange halten? Oder
wird sie bald schon scheitern, wie Salvini
prophezeit? Wer „Angst vor dem Wäh-
ler“ habe wie jenes „Bündnis der Verlie-
rer“, das gerade in Rom geschmiedet wer-
den solle, werde „nach einem Monat
oder nach einem Jahr“ schließlich doch
abgewählt, sagte Salvini noch am Mitt-
wochabend voraus.
Zum Ende eines für ihn rabenschwar-
zen Ferienmonats gab es erst einmal für
Salvini selbst viel Spott von politischen
Beobachtern. Er habe die „Eselei des
Jahrhunderts“ und einen „bemerkens-
werten Akt der Selbstverstümmelung“
begangen, hieß es in Medienkommenta-
ren. Zudem sackte Salvinis persönliche
Beliebtheitsquote binnen eines Monats
bei den regelmäßigen Umfragen der Zei-
tung „Corriere della Sera“ von 54 auf 36
Prozent ab. Für Salvinis Partei, die rechts-
nationalistische Lega, kam es (noch)
nicht ganz so schlimm: Sie verlor bei Um-
fragen im Vergleich zum Juli „nur“ vier
bis fünf Punkte und steht jetzt bei rund
34 Prozent. Damit ist die Lega nach dem

Urteil der Demoskopen nach wie vor die
stärkste politische Kraft im Land. Aber
in den beiden Kammern des Parlaments
stellt die Lega nach Maßgabe des Ergeb-
nisses der Parlamentswahlen vom März
2018 eben nur die jeweils drittgrößte
Fraktion. Angesichts dieser realen Kräf-
teverhältnisse verfügte Salvini als Vize-
ministerpräsident über die ideale Macht-
position: Was immer glückte, konnte er
für sich selbst beanspruchen, was miss-
riet, konnte er dem Regierungschef in
die Schuhe schieben.
Es heißt, Salvini habe angesichts sei-
nes persönlichen Höhenflugs und nach
fortgesetzten Siegen seiner Lega bei Re-
gionalwahlen 2018 und 2019 sowie zu-
mal bei der Europawahl vom Mai keine
Ratschläge mehr annehmen wollen. Die
faktische Nummer zwei der Lega, der
Staatssekretär im Ministerpräsidenten-
amt Giancarlo Giorgetti, hatte kurz nach
Salvinis Überraschungscoup vom 8. Au-
gust gewarnt, statt auf dem Chefsessel
könne sich Salvini bald auf der Oppositi-
onsbank wiederfinden. Aber mehr an
Kritik äußerte weder Giorgetti noch
sonst jemand aus der Lega, obwohl nicht
wenige ihre Posten in Ministerien verlie-
ren werden. Doch im Stammland der Par-
tei, den wirtschaftsstarken Regionen im
Norden, könnte das Murren bald lauter
werden, wenn die von Salvini versproche-
ne erweiterte Autonomie von der neuen
Linksregierung rasch zu den Akten ge-
legt wird.
Für Salvini ist es nur ein schwacher
Trost, dass die Partner der neuen Links-
koalition mindestens so zerstritten sind,
wie es die Lega und die Fünf Sterne wa-
ren. Der innere Zerfallsprozess beim so-
zialdemokratischen Partito Democratico
(PD) könnte sich fortsetzen. Viele An-
hänger der Fünf Sterne sind zudem wü-
tend, dass sich die 2009 gegründete Pro-
testbewegung mit dem PD, dem Vertre-
ter des verhassten Establishments, einlas-
sen will.
Doch Salvini muss sich vor allem um
den Zusammenhalt des rechten Lagers
kümmern. Zwar weiß die Rechte aktuell
eine strukturelle Mehrheit der Wähler
hinter sich. Doch die könnte sich bis zu
den nächsten nationalen Wahlen wieder
verflüchtigen. Die neofaschistische Par-
tei Brüder Italiens will schon bald „die
Straße“ gegen die Linkskoalition mobili-
sieren. Die Lega und die konservative
Forza Italia wollen stattdessen im Parla-
ment Oppositionsarbeit leisten. Als
nächstes Etappenziel hat sich die Rechte
gemeinsame Siege bei den Regionalwah-
len im Herbst und im Winter gesetzt.
Den „Kampf um Rom“ hat Salvini noch
nicht aufgegeben.(rüb.)

PORTO VELHO,29. August.Auf der
Militärbasis von Porto Velho im Bundes-
staat Rondônia herrscht seit Tagen
rund um die Uhr Betrieb. Auf dem Roll-
feld des Flughafens stehen drei Hercu-
les-Tankflugzeuge der brasilianischen
Luftwaffe, jeden Tag heben sie ab gen
Westen, dorthin, wo der Regenwald
brennt. Nächste Woche sollen noch
mehr Tankflugzeuge aus dem Ausland
dazukommen. Mehrere Einsatzzüge der
Feuerwehr kämpfen gegen die Feuer,
unterstützt von 3000 Soldaten. Die Ein-
satzleitung der Operation „Grünes Bra-
silien“ sagt, dass die Brände in den ver-
gangenen Tagen eingedämmt werden
konnten. Auch die Daten des brasiliani-
schen Raumfahrtinstituts belegen das.
Es hat in dieser Woche zweimal gereg-
net, das hat geholfen. Noch vor wenigen
Tagen wurden in Rondônia Hunderte
Brandherde ausgemacht. Der Rauch
war so dicht, dass am Montag der Flug-
hafen von Porto Velho für mehrere Stun-
den gesperrt werden musste.
Doch für eine Entwarnung ist es
noch zu früh. Die Trockenzeit ist längst
nicht vorüber, und täglich entstehen
neue Brandherde. Die meisten Brände
werden gelegt, um Weide- oder Acker-
land zu gewinnen. Zwar lässt sich der
Regenwald selbst nur schlecht entfa-
chen; dafür ist er einfach zu feucht. In
der Regel werden die Bäume deshalb
erst gefällt und über mehrere Wochen
getrocknet. Daten zeigen, dass die Ge-

meinden mit der höchsten Abholzungs-
rate auch die meisten Brände aufwei-
sen. Nicht alle Rodungen sind illegal.
Im Gebiet des Regenwalds schreibt das
brasilianische Waldgesetz auf Privat-
grund eine Schutzfläche von achtzig
Prozent vor, der Rest darf genutzt wer-
den. Allerdings geraten Feuer häufig au-
ßer Kontrolle und breiten sich aus.
Forstfachleute sehen das mit großer
Sorge. Denn die Flächen, die jetzt bren-
nen, wurden größtenteils schon zwi-
schen Mai und Juli gerodet. Die Daten
des Raumforschungsinstituts zeigen al-
lerdings, dass in den Monaten Juli und
August noch deutlich mehr Wald abge-
holzt wurde. All diese Bäume werden
die Bauern anzünden, sobald sie tro-
cken genug sind. „Das Schlimmste
kommt noch“, schrieb der angesehene
brasilianische Forstexperte Tasso Aze-
vedo in der brasilianischen Zeitung „O
Globo“. Azevedo befürchtet einen dra-
matischen Anstieg der Brände. Es müs-
se schnell gehandelt werden. Diese For-
derung erhoben auch vierhundert Ange-
stellte der Umweltbehörde, die in ei-
nem offenen Brief an Präsident Jair Bol-
sonaro verlangten, dass er Maßnahmen
zur Bekämpfung von Umweltdelikten
ergreifen solle.
Am Mittwoch dann unterzeichnete
Bolsonaro ein Dekret, das Brandrodun-
gen für sechzig Tage verbietet. Nur in
wenigen Ausnahmefällen bleibt es ge-
stattet. Es handele sich um eine „außer-
ordentliche und zeitlich begrenzte“
Maßnahme, um die Umwelt zu schüt-
zen, hieß es. Noch am Wochenende hat-
te Bolsonaro die Brandrodungen „fast
eine Tradition“ genannt.
Bolsonaros Umweltschutz-Offensive
kommt in den Augen seiner Kritiker zu
spät und ist allenfalls halbherzig. Denn
trotz des Maßnahmenpakets und der
Brandbekämpfung wird weiter an Geset-
zesvorlagen gearbeitet, die den Schutz
des Amazonas-Regenwaldes und seiner
Bewohner untergraben, wie zum Bei-
spiel einem Gesetz, das agroindustrielle
Aktivitäten oder den Bergbau in India-
nerreservaten erlauben soll. Außerdem
gibt es Überlegungen, einen Großteil be-
stehender Umweltauflagen für Bau- und
Infrastrukturprojekte aufzuheben. Aus
diesem Grund haben neun frühere Um-
weltminister sowie Vertreter des brasilia-
nischen Anwälteverbandes und mehrere
Wissenschaftler im Kongress eine Petiti-
on eingereicht, in der sie ein Moratori-
um für alle Gesetzesvorlagen verlangen,
die Waldschutz und Umwelt zu gefähr-
den drohen. (tjb.)

Beunruhigende Routine


China tauscht die Truppen seiner Hongkonger Garnison aus und sendet deutliche Signale / Von Friederike Böge


Contes neue Bescheidenheit


Matteo Salvinis Eselei des


Jahrhunderts


Italiens Rechte hofft nach der Niederlage auf neuen Streit


Erfolge im Kampf gegen das Feuer


Noch keine Entwarnung in Brasilien / Kritik an Bolsonaro


Routine?Truppen in Hongkong Foto Reuters

Der designierte


Ministerpräsident


will für Italien arbeiten


und verlorene Zeit


gutmachen. Doch


schon jetzt drohen


Konflikte in der


Regierung. Und mit


Salvini.


Von Matthias Rüb

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