Frankfurter Allgemeine Zeitung - 30.08.2019

(Dana P.) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Politik FREITAG, 30. AUGUST 2019·NR. 201·SEITE 3


WASHINGTON, 29. August. Kirsten
Gillibrand will nicht mehr amerikani-
sche Präsidentin werden. Der Grund
sind die Teilnahmebedingungen für
die nächste Fernsehdebatte der Demo-
kraten in Amerika. Um Mitte Septem-
ber in Houston auf der Bühne zu ste-
hen, müssen Bewerber in vier nationa-
len Umfragen mindestens bei zwei Pro-
zent liegen. Gillibrand, die Senatorin
aus New York, liegt darunter. Sie wäre
also nicht dabei gewesen. Ohne die
Bühne in Texas aber, so sagten es ihre
Mitarbeiter, habe sie keine Chance.
Gillibrand zog die Konsequenzen und
schied aus den Vorwahlen aus.
Vor Gillibrand hatten dies schon
drei weitere Bewerber getan, darunter
ein Gouverneur aus dem Bundesstaat
Washington und ein ehemaliger Gou-
verneur aus Colorado. Noch ist es
nicht offiziell, aber es sieht so aus, als
hätten sich nur zehn Kandidaten quali-
fiziert, was die Debatte erstmals auf ei-
nen Abend beschränken würde. Einige
derjenigen, die in Houston nicht dabei
sein werden, geloben nun weiterzu-
kämpfen und kritisieren das Auswahl-
verfahren. Andere werden wohl schon
bald wie Gillibrand aufgeben.
Das Scheitern der Senatorin zeigt
die problematische Dynamik inner-
halb der Demokratischen Partei: Einst
war Gillibrand eine zentristische Politi-
kerin. Doch der „progressive“ Trend in
den Vorfeldorganisationen der Partei
und ihren Unterstützerzirkeln, der die
Echokammern der sozialen Medien be-
stimmt, hatte die als Frauenpolitikerin
bekannte Gillibrand nach links rücken
lassen. Genauso wie es Kamala Harris,
die Senatorin aus Kalifornien, getan
hat. Das Problem: Auf der Linken do-
minieren Bernie Sanders und Eliza-
beth Warren. Zudem bezeichnet sich
die große Mehrheit der Anhänger der
Demokraten nicht als „progressiv“,
sondern als „liberal“. Gillibrand schei-
terte daran, dass sie den linken Mittel-
bau der Partei umwarb und dabei den
liberalen Unterbau vernachlässigte.
Auch wirkte ihr Verhalten auf viele De-
mokraten allzu taktisch.
Joe Biden, der von Gillibrand wegen
angeblich antiquierter Vorstellungen
über das Geschlechterverhältnis kriti-
siert worden war, versetzte ihr, rückbli-
ckend betrachtet, gleichsam den Todes-
stoß: Bei der vorherigen Fernsehdebat-
te in Detroit im Juli erinnerte der frühe-
re Vizepräsident daran, dass Gilli-
brand ihn im vergangenen Senatoren-
wahlkampf noch um Unterstützung ge-
beten habe. Und nun sei er ein altba-
ckener Chauvi? „Was ist passiert“, frag-
te er, „außer dass du Präsidentin wer-
den willst?“
Für Biden sind Fernsehdebatten ei-
gentlich eine Herausforderung. Er
neigt dazu, sich zu verhaspeln und sei-
ne Sätze nicht richtig zu beenden.
Doch ab und zu gelingt ihm eine Poin-
te. Auch Harris, die ihn wegen seiner
früheren Positionen in der Rassenpoli-
tik angriff, erlebte Niederlagen: Ihre ge-
sundheitspolitischen Forderungen sei-
en unfinanzierbar. Harris hat inzwi-
schen ihren Kurs korrigiert und will
private Krankenversicherer nun mehr
Freiraum lassen. Biden kann auch dies
als Sieg verbuchen.
Das Hauptfeld der Bewerber stellt
sich recht stabil dar: der frühere Vize-
präsident führt mit deutlichem Ab-
stand; mindestens zehn Prozentpunkte
dahinter liegen Warren, die Senatorin
aus Massachusetts, und Sanders, der
Senator aus Vermont. Biden präsen-
tiert sich als Kandidat des gesunden
Menschenverstandes, der die Mitte der
amerikanischen Gesellschaft umwirbt
und an der Politik Barack Obamas an-
knüpfen will, anstatt die Revolution
auszurufen. Und als einer, der immer
wieder sagt: Er sei derjenige, der Do-
nald Trump schlagen könne. Wieder-
um zehn Punkte hinter Warren und
Sanders liegen Harris und Pete Butti-
gieg, der smarte Bürgermeister aus
South Bend, Indiana.
Da Warren sich allmählich nach vor-
ne arbeitet, erhält sie derzeit viel media-
le Aufmerksamkeit. Anders als Biden
liegt ihr das Format der Fernsehdebat-
te. Die frühere Harvard-Professorin
kann ihr Programm durchdeklinieren:
Gesundheitspolitik, Steuerreform, Waf-
fenrecht – nichts bringt sie in Verlegen-
heit. Über viel Charisma verfügt sie frei-
lich nicht. Ihr gegenwärtig größtes Pro-
blem ist ihre Unbeliebtheit bei Afro-
amerikanern. Sie machten 2016 ein
Viertel der Wähler bei den demokrati-
schen Vorwahlen aus. Unter Demokra-
ten werden sie wegen ihres Einflusses
augenzwinkernd „unsere Evangelika-
len“ genannt. Tatsächlich werden sie ge-
nauso umworben wie die christliche
Rechte bei den Republikanern.
Biden führt bei Afroamerikanern
mit 40 Prozent – trotz seiner früheren
Positionen in der Rassenfrage, die heut-
zutage als unsensibel gelten. Er profi-
tiert von seinem Image der Volksnähe,
ein normaler Mann mit vernünftigen
Positionen. Warren liegt dort bei sie-
ben Prozent. Bleibt es dabei, dass es in
Houston nur einen Debattenabend ge-
ben wird, käme es am 12. September
zum ersten direkten Aufeinandertref-
fen im Vorwahlkampf zwischen ihr
und Biden.

LONDON, 29. August. Ein Land ohne ge-
schriebene Verfassung bietet in der Fra-
ge, was in Einklang mit ihr steht und was
im Widerspruch, keine letzten Antwor-
ten. Das politische Argument entschei-
det, weshalb im Königreich erbittert dar-
über gestritten wird, von welcher Seite
des Brexit-Grabens gerade die konstitutio-
nelle Demokratie gefährdet wird. Lord
Kerslake, ehemals oberster Beamter im
Königreich, bezeichnete die Zwangsbeur-
laubung des Parlaments am Donnerstag
als „groben Machtmissbrauch“ durch den
Premierminister und empfahl seinem
Nachfolger durch die Blume, einen Rück-
tritt aus Protest. Der Tory-Abgeordnete
Sam Gyimah sah sogar die „Abrissbirne“
auf die britische Demokratie niederge-
hen. Die Regierung wiederum sprach von
„künstlicher Aufregung“, die von Leuten
stamme, die die Europäische Union nie
hätten verlassen wollen. Nicht der Regie-
rungschef, sondern der zur Neutralität
verpflichtete Parlamentspräsident John
Bercow habe mit seiner Kritik an der Be-
urlaubung „der Verfassung nicht angemes-
sen“ reagiert, sagte Jacob Rees-Mogg, der
als „Leader of the House“ die Geschäfte
der Regierung im Parlament organisiert.
Rees-Mogg hatte die Queen am Mitt-
woch persönlich gebeten, die Beurlau-
bung zu verfügen. Am Donnerstag be-
zeichnete er das in der BBC als „Routine-
Vorgang“. Jeder „Queen’s Speech“, die
das Regierungsprogramm verkündet und
nun am 14. Oktober stattfinden soll, gin-
gen bislang sitzungsfreie Wochen voraus.
Aufgrund der ebenfalls traditionell sit-
zungsfreien Zeit während der Parteitags-
saison habe sich die Beurlaubung zu fünf
Wochen addiert. Die Gegner der Ent-
scheidung machen darauf aufmerksam,

dass dies die längste Beurlaubung seit
dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist,
und halten der Regierung sinistre Motive
vor. „Es ist nicht die Beurlaubung, die wir
anfechten, sondern die Absicht der Beur-
laubung“, sagte die Aktivistin Gina Mil-
ler, die inzwischen den High Court in Lon-
don angerufen hat. Sie hat schon einmal
siegreich geklagt. Im November 2016, ein
halbes Jahr nach dem EU-Referendum,
setzte sie sich mit ihrer Auffassung durch,
dass die Regierung den Austritt gemäß Ar-
tikel 50 nicht ohne Zustimmung des Parla-
ments in Gang setzen kann. Am Donners-
tag berieten zwei weitere Gerichte, in
Edinburgh und in Belfast, über die
Zwangsbeurlaubung. Das höchste Zivilge-
richt in Schottland war schon vor vier Wo-
chen angerufen worden, als die Zwangsbe-
urlaubung des Parlaments nur in Möglich-
keitsform diskutiert wurde. Am Mittwoch
reichten dann mehr als 70 Abgeordnete ei-
nen Eilantrag ein.
Im Königreich herrscht weitgehend Ei-
nigkeit darüber, dass Johnsons Maßnah-
me vor allem dem Ziel dient, die geplante
Rebellion von Abgeordneten gegen einen
No-Deal-Brexit zu verhindern. Johnsons
Anhänger halten das für gerechtfertigt,
weil die Abgeordneten aus ihrer Sicht seit
drei Jahren das demokratische Votum von
2016 zu hintertreiben versuchen. Viele im
Land empfinden dagegen die Parlaments-
beurlaubung als den wahren Angriff auf
die Demokratie. Mehr als eineinhalb Mil-
lionen Menschen haben inzwischen eine
Online-Petition unterschrieben. Die ge-
wöhnlich in der Mitte gespaltene Öffent-
lichkeit scheint in der Beurlaubungsfrage
klar gegen die Regierung zu tendieren: 47
Prozent der Befragten, ergab eine Blitzum-
frage, sind gegen die längere Parlaments-

pause, nur 24 Prozent dafür; 29 Prozent äu-
ßerten sich unentschieden.
Die meisten Verfassungsexperten sind
gleichwohl skeptisch, dass die Beurlau-
bung rechtlich beanstandet werden kann.
Johnsons Schritt sei „politisch schockie-
rend“, sagte der frühere Richter am Su-
preme Court Lord Sumption in der BBC.
„Ob er aber gegen die Verfassung ver-
stößt, ist eine völlig andere Sache.“ Auf
die Nachfrage, ob Johnsons Entscheidung
„rechtmäßig“ war, antwortete Sumption
mit: „Ja“. Er glaube daher auch nicht,
dass Klagen Erfolg hätten. Exekutivmaß-
nahmen einer Regierung seien grundsätz-
lich von politischen Erwägungen moti-
viert, sagte er und fügte hinzu: „Es gibt
gute politische Erwägungen und schlech-
te, und Gerichte sind nicht dafür da zu
entscheiden, was gute politische Erwä-
gungen sind und was schlechte.“
Auch der Vorwurf, die Königin unnötig
in die Politik gezogen zu haben, perlt an
der Regierung ab. Rees-Mogg vertrat am
Donnerstag die Auffassung, dass die Beur-
laubung des Parlaments „eine Entschei-
dung des Premierministers ist und keine
des Staatsoberhaupts“. Die Königin habe
sich nicht in Gewissensnöten befunden –
vielmehr sei ihr ein Rat erteilt worden,
dem sie der Verfassung nach zu „folgen“
habe. Lord Sumption schloss sich dieser
Interpretation an. „Die Königin hat den
Rat anzunehmen.“ Umgekehrt wirft die
Regierung den Chefs der Labour Party
und der Liberaldemokraten vor, die Köni-
gin in eine schwierige Lage gebracht zu
haben. Beide, Jeremy Corbyn und Jo
Swinson, hatten am Mittwoch Protestbrie-
fe an die Monarchin geschrieben und um
ein Treffen gebeten. Rees-Mogg empfahl
den beiden, erst mal das „kleine ABC“

der Verfassung zu studieren. Wer als Op-
positionspolitiker eine Audienz bei der
Königin haben wolle, um ihr einen Rat zu
geben, müsse ein Misstrauensvotum ge-
gen den amtierenden Premierminister ge-
winnen und dann die Mehrheit des Unter-
hauses hinter sich bringen.
Ob Corbyn, dem die Einleitung eines
Misstrauensvotums obliegt, in der kom-
menden Woche die Machtfrage im Unter-
haus stellt, ist ungewiss. Bis zum Beginn
der Zwangspause bleiben den Abgeordne-
ten nur vier Plenartage. Zurzeit konzen-
trieren sich die Gespräche der Oppositi-
onschefs eher auf den Versuch, der Regie-
rung in dieser Phase Abstimmungsnieder-
lagen zuzufügen. Sie wollen vor allem ei-
nen No-Deal-Brexit durch ein Gesetz ver-
hindern. Aber die Mehrheiten im Unter-
haus sind schwer berechenbar, und die
Zeit für das Verfahren ist knapp.
Ein Misstrauensvotum gilt als riskante
Strategie. Nicht nur könnte es verlorenge-
hen; nur wenige Tory-Rebellen haben bis-
her durchblicken lassen, dass sie über
eine Unterstützung der Opposition nach-
denken. Ein Erfolg der Regierungsgegner
könnte sich auch als Pyrrhussieg erwei-
sen. In der Downing Street wird seit länge-
rem signalisiert, dass Johnson nicht zu-
rücktreten müsse, sollte ihm das Misstrau-
en ausgesprochen werden. Er würde dann
vielmehr einen Termin für Neuwahlen im
November festlegen, was mit einer weite-
ren Parlamentsbeurlaubung einherginge:
Während des Wahlkampfs ruht das briti-
sche Parlament traditionell, womit es für
die Abgeordneten keine Möglichkeit
mehr gäbe, einen No-Deal-Brexit am 31.
Oktober zu verhindern.
Die Abgeordneten könnten versuchen,
sich nach einem erfolgreichen Misstrau-

ensvotum um einen Übergangspremiermi-
nister zu scharen, dem die Aufgabe zufie-
le, bei der Europäischen Union eine Ver-
längerung der Austrittsfrist zu beantra-
gen und Neuwahlen einzuleiten. Aber
auch dafür bliebe nur wenig Zeit, und die
Opposition ist uneins, was sie will und
wer eine solche Regierung bilden soll.
Der erst acht Jahre alte, weitgehend uner-
probte „Fixed-term Parliaments Act“,
der die Umstände eines Misstrauensvo-
tums regelt, ist so vage verfasst, dass es
überdies zu schweren Verfassungskon-
flikten kommen könnte – etwa, wenn
Johnson sich weigern würde, das Amt für
einen Übergangsregierungschef zu räu-
men. In einem solchen Fall stünde die Kö-
nigin, ohne deren Auftrag keine Regie-
rung gebildet werden kann, endgültig im
ungeliebten Zentrum des politischen Ge-
schehens.
Eine mäßigende Stimme kam am Don-
nerstag aus Schottland. Ruth Davidson,
die bisherige Vorsitzende der schotti-
schen Konservativen, nutzte ihre Rück-
trittserklärung für einen Appell an die
Gegner eines ungeregelten Brexits. Sie
sollten Johnson bei seinem Bemühen, ei-
nen neuen Deal in Brüssel auszuhandeln,
unterstützen, indem sie öffentlich ihre Zu-
stimmungsbereitschaft bekunden, sagte
sie in Edinburgh. Die leidenschaftliche
„Remainerin“, die ihr Amt „überwiegend
aus persönlichen Gründen“ abgibt, lobte
Johnsons „Enthusiasmus“ und zeigte sich
überzeugt, dass er keinen No-Deal-Brexit
anstrebe, sondern ein Abkommen mit der
Europäischen Union. „Verspielen Sie die
Chance nicht noch einmal!“, sagte sie an
die Adresse der No-Deal-Gegner. „Spre-
chen Sie sich beim vierten Mal für einen
Deal aus!“

KÖLN, 29. August

D


ie unbeschwerte Mischung er-
gibt sich auf dem Ebertplatz
ganz von selbst. Vor dem „ers-
ten Kölner Sport-Kiosk“, den
die Stadt vor wenigen Wo-
chen in zwei weißen Überseecontainern
eingerichtet hat, lassen sich Anwohner
auf Bierbänken und in Strandliegen ihr
Feierabend-Kölsch schmecken. Für die
mobile Tischtennisplatte, die Skate-
boards oder die Einräder, die man sich
am „Sport-Kiosk“ leihen kann, interes-
siert sich an diesem drückenden Spätsom-
mernachmittag niemand. Eine Attrak-
tion hingegen ist die „Wasserkinetische
Plastik“, eine Brunnenskulptur, die aus-
sieht, als habe ein Riese eine Schachtel gi-
gantisch großer Nägel ausgeschüttet. Mäd-
chen und Jungen tollen kreischend durch
das Labyrinth aus Wasserschleiern, die
sich an den zahllosen Flächen und Stre-
ben des Brunnens bilden. Auf den Stein-
bänken am Rand sitzen Frauen zusam-
men, verfolgen das lustige Treiben ihrer
Kinder und unterhalten sich.
Vor ein paar Jahren traf irgendjemand
in der Verwaltung eine sehr kölsche Ent-
scheidung: Weil die Pumpen des Brun-
nens im Winter immer einfroren, wurde
er im Sommer einfach nicht mehr einge-
schaltet – so konnte man sich die Repara-
tur sparen. Irgendwann waren auch die
Rolltreppen kaputt, die am Rand des wa-
benförmigen Platzes in einen obskuren
Untergrund führen. In Gang gesetzt wur-
den auch sie nicht mehr. Diesmal lautete
die Logik: Vandalen legen sie sowieso wie-
der lahm. Ohnehin müsse der Platz kom-
plett umgebaut werden, der Aufwand loh-
ne also wirklich nicht. 2009 beschloss der
Rat der Stadt den „Masterplan Köln Innen-
stadt“, in dem Architekt Albert Speer die
Aufwertung des Ebertplatzes als eines der
prioritären Ziele beschrieben hatte. Spä-
testens 2014 werde man mit den Bauarbei-
ten beginnen, versprach der damalige Bau-
dezernent. Wieder passierte nichts.
Mit dem Platz ging es weiter bergab.
Früher gab es Läden, wo sich Pflaster auf
zwei Seiten in unwirtliche Katakomben
herabsenkt. Sie schlossen einer nach dem
anderen. Es war, als lege es mitten in
Köln jemand darauf an, den Praxisnach-
weis der „Broken-Windows-Theorie“ zu
erbringen. Nach der in Amerika entwi-
ckelten Theorie wird ein Platz unweiger-
lich zum Problemgebiet und schließlich
auch zum Brennpunkt für Verbrechen,
wenn man ihn verkommen lässt. Genau-
so kam es am Ebertplatz. Und weil Polizei
und Ordnungsamt seit der Kölner Silves-
ternacht 2015 rund um Dom und Haupt-
bahnhof konsequent durchgreifen, wurde
der Ebertplatz zu einem Treffpunkt für
Rauschgiftdealer aus Nord- und Schwarz-
afrika, die zumeist aus Flüchtlingsunter-
künften aus dem Umland anreisten. Bald

kam es zu heftigen Konflikten. Im Okto-
ber 2017 wurde bei einem Streit mehrerer
Männer ein 22 Jahre alter Guineer ersto-
chen.
Die Anwohner waren schockiert. Weil
der Vorfall auch in Fernsehtalkshows aus-
führlich thematisiert wurde, entstand in
der breiten Öffentlichkeit der Eindruck,
beim Ebertplatz handele es sich um den
deutschen Angstraum schlechthin. Die
aufgeschreckte Stadtspitze legte einen Ka-
talog mit Sofortmaßnahmen vor: Blumen-
beete, die den Dealern als Depots für ihre
illegale Ware dienten, wurden entfernt,
Scheinwerfer wurden aufgestellt, heftig
stritt man in der Stadtgesellschaft über
die Idee, einen Teil der Unterführungen
bis zum Umbau zuzumauern.
Wichtiger war, dass sich Anwohner,
Stadtverwaltung und die idealistischen
Künstler, die schon seit einigen Jahren in
manchen der leeren Läden Galerien be-
treiben, zusammenrauften und ein ambi-
tioniertes Zwischennutzungskonzept auf-
stellten. Ziel war es, den Platz zu beleben,
bis mit der Neugestaltung begonnen wer-
den kann, was nach neuesten Prognosen
nicht vor 2022 der Fall sein wird. Es geht
um nicht weniger als die Rückeroberung
des öffentlichen Raums durch die Bürger.
„Soziale Kontrolle ist die beste Präven-
tion“, sagt die parteilose Kölner Oberbür-
germeisterin Henriette Reker.
Regelmäßig finden nun Konzerte und
Freizeitangebote für Kinder und Jugendli-
che auf dem Platz statt. Es gibt den
„Sport-Kiosk“, die trostlosen Rolltrep-
pen, die seit 15 Jahren sinnbildlich für
den Stillstand stehen, haben Künstler in
Licht-, Ton- und Holzinstallationen ver-
wandelt. Zum größten Ereignis aber wur-
de im vergangenen Jahr die Wiederinbe-
triebnahme der „Wasserkinetischen Plas-
tik“. Überwältigend sei das gewesen, sagt

Thor Zimmermann, der für die politische
Vereinigung „Gut“ im Kölner Rat sitzt.
„Wenn der Brunnen angeschaltet wird,
sieht man nur fröhliche Gesichter.“
Das sprudelnde Wasser schien alle Sor-
gen wegzuschwemmen. Aus einem Angst-
raum schien eine Großstadtoase gewor-
den zu sein, die Konversion eines Krimi-
nalitätsbrennpunkts in einen Ort mit ho-
her Aufenthaltsqualität schien gelungen.
Einmal „Broken Windows“ und zurück.
Doch dann kam es am vergangenen Sonn-
tag wieder zu einem Tötungsdelikt. In
den frühen Morgenstunden wurde ein 25
Jahre alter Somalier aus dem Raum Pader-
born erstochen. Nach bisherigen Ermitt-
lungen soll er vor der Kneipe „African
Drum“ in der Zwischenebene des Ebert-
platzes wegen eines Drogengeschäfts mit
anderen Afrikanern in Streit geraten sein.
Dringend tatverdächtig ist ein gleichaltri-
ger, ebenfalls aus Somalia stammender
Flüchtling, der eigentlich in Düren lebt.
Seit der Tat fragen sich die Leute im Vee-
del: War das „Wunder vom Ebertplatz“,
mit dem Köln zwischenzeitlich positive
Schlagzeilen machte, doch nur ein schö-
ner Tagtraum?
Im „Kölsche Boor“ rückt Maria Skourti
noch rasch weitere Tische zusammen,
weil immer mehr Gäste in das Brauhaus
an der Eigelsteintorburg strömen. Skourti
ist Mitglied des „Bürgervereins Kölner Ei-
gelstein“, eines der „Pionierpartner“ der
Stadt Köln beim Projekt Eberplatz-Wie-
derbelegung. Regelmäßig veranstaltet er
auch Gesprächsrunden. Diesmal hat der
Verein unter anderem die Oberbürger-
meisterin, den Kölner Polizeipräsidenten
Uwe Jacob und den nordrhein-westfäli-
schen Innenminister Herbert Reul (CDU)
zur Podiumsdiskussion gebeten. Das In-
teresse der Veedels-Bewohner ist nach
dem Vorfall vom Sonntag enorm. Maria

Skourti hat sich nie zu den Ebertplatz-
Utopisten gezählt. „Die Dealer waren ja
nie weg.“ Tagsüber weiche die Szene nur
hier und da ein bisschen aus. „Nachts ge-
hört der Platz den Dealern dann kom-
plett“, sagt Skourti. Ihr Mann stammt aus
Italien, sie selbst ist Griechin, gemeinsam
betreiben sie in dem Viertel ein Restau-
rant, über dem sie auch wohnen. Was los
ist am Ebertplatz, bekommt das Paar also
tags wie nachts ungefiltert mit. „Wir sind
echte kölsche Immis und komplett multi-
kulti. Aber es muss einfach Grenzen ge-
ben.“ Zur Willkommenskultur zähle nun
einmal, dass sich auch die benehmen
müssten, die willkommen sein wollten.
„Wer sein Aufenthaltsrecht missbraucht,
müsste rasch in seine Heimat zurückge-
bracht werden, aber das geschieht nicht.“
Die Polizei greife noch immer nicht genü-
gend durch, auch müsse es schärfere Ge-
setze geben. „Meine Angst ist: Wenn sich
dieser Schleier der Angst über dem Platz
festsetzt, besteht die Gefahr, dass manche
auf den Gedanken kommen, selbst einzu-
greifen. Das muss unbedingt verhindert
werden.“
In der Diskussionsrunde wehrt sich In-
nenminister Reul gegen den dann auch
von anderen Bürgern vorgebrachten Vor-
wurf, der Staat versage. „Sie können uns
gerne vorwerfen, dass es nicht schnell ge-
nug geht.“ Aber einfach mal soeben „auf-
räumen“ verbiete sich in einem Rechts-
staat, den man in Deutschland Gott sei
Dank habe. „Straftaten müssen bewiesen
werden.“ Polizeipräsident Jacob sagt, der
Ebertplatz, einer von sieben Brennpunk-
ten in der Stadt, sei schon lange der Ort
in Köln mit der weitaus höchsten Polizei-
präsenz. Eine Tat wie die jüngste Messer-
stecherei könne aber kein Polizist auf der
Welt und auch nicht die Videoüberwa-
chung verhindern, die nun beschleunigt

installiert werde. Auch einen anderen
Mythos will Jacob unbedingt entzau-
bern. Mittlerweile ist der Ebertplatz so-
gar in internationalen Medien als Ort des
Schreckens dargestellt worden. Kürzlich
habe ihn eine Bekannte aus Südamerika
nach einem Bericht angerufen, berichtet
der Polizeipräsident. „Aber der Ebert-
platz ist trotzdem nicht der gefährlichste
Ort in ganz Deutschland“, sagt Jacob –
um sodann womöglich auch dem ein
oder der anderen im Publikum den Spie-
gel vorzuhalten. „Gäbe es die Kunden
nicht, würden die Dealer auch nichts ver-
kaufen.“ Die Kunden der afrikanischen
Rauschgifthändler seien überwiegend
Deutsche. „Und die kommen auch hier
aus dem Veedel.“
Als sich die Nacht längst über Köln ge-
legt hat, dreht Innenminister Reul mit sei-
nen Leibwächtern noch eine Runde über
den Ebertplatz. Das Betonensemble sei
zum „Symbolplatz geworden für das, was
unser Anliegen ist: Wir lassen keine
rechtsfreien Räume zu. Das ist er jetzt ge-
worden, obwohl es woanders auch solche
Plätze gibt“, sagt Reul vor der nun in at-
mosphärischem Grün angestrahlten
„Wasserkinetischen Plastik“. Auf dem
Ebertplatz hätten Bürger, Stadt und Poli-
zei schon sehr viel erreicht. „Diesen Weg
müssen wir weiter gemeinsam gehen.“
Der große Durchbruch aber werde erst
mit dem Umbau des Platzes gelingen, der
schon viel zu lange auf sich warten lasse.
Reul ist überzeugt, dass Kriminalpräven-
tion auch mit Städtebau zu tun hat.
Schon 2009 hatte Albert Speer in seinem
Masterplan für die Kölner Innenstadt dar-
auf hingewiesen, dass die vielen schwer
einsehbaren Rückzugsräume in der Zwi-
schenebene beseitigt gehörten und der
Platz wieder auf Normalnull gehoben
werden müsse.

Grabenkampf um die Verfassung


Nach der angekündigten Parlamentspause wächst massiver Protest – dabei geht es auch um die strittige Rolle der Königin / Von Jochen Buchsteiner


Amerika sucht


den Politikstar


Immer mehr Kandidaten


der Demokraten geben auf


Von Majid Sattar


Ängste fressen Wunder auf

„Es muss einfach Grenzen geben“:Tagsüber spielen Kinder am Springbrunnen auf dem Ebertplatz, nachts gehört der Ort gewalttätigen Drogendealern. Foto Jo Schwartz

Der Ebertplatz in Köln


galt als leuchtendes


Beispiel dafür, wie


Bürger sich ihre Stadt


zurückerobern – bis es


nun wieder zu einem


tödlichen Vorfall im


Drogenmilieu kam.


Von Reiner Burger

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